Andreas Herzog - Mit Herz und Schmäh

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KAPITEL 5:
WILLKOMMEN IN HÜTTELDORF – LIEBER FREUNDE STATT SCHILLING
RAPID WIEN 1983–1986

„Ich bin eine Mischung aus einem extremen Wiener, der halt schon seinen Spaß hat, seine Lockerheit und vielleicht auch einen Schuss Bequemlichkeit – und dann noch mit der deutschen Gründlichkeit dazu –, außerdem ein Schuss Abenteuer, ein gewisses Risiko, etwas Neues kennenlernen“, so der Rekordnationalspieler in der Retroperspektive über seinen bisherigen Werdegang und was ihn bis heute antreibt. Da ist es auf den ersten Blick fast ein wenig verwunderlich, dass Herzog schon in jungen Jahren seiner Rapid begegnen durfte. Denn der ruhmreiche Traditionsverein aus dem Arbeiterviertel Hütteldorf steht und stand sicherlich weniger für Lockerheit und schon gar nicht für Bequemlichkeit. Doch die Mischung macht es ja bekanntlich – und wer selbst über eine derart bunte Melange wie Andi Herzog verfügt, fast schon ein Stück weit ambivalent, trifft wohl unweigerlich und nach dem Resonanzgesetz auf Gleichgesinnte und manchmal anscheinend auch auf sein Gegenteil, um etwas daraus zu lernen. In diesem Fall und im Jahr 1983 auf Rapid Wien.

Womit wir zunächst bei den klassischen Tugenden eines typischen Arbeitervereins wären – eben ackern, hackeln, malochen. Dafür stand Rapid von Anfang an – und dafür steht es ein Stück weit noch heute, selbst im hypermodernen Profifußballzirkus. Natürlich: Jeder Vergleich mit der Vergangenheit verbietet sich eigentlich, denn allein in den letzten 20 Jahren hat sich der Klubfußball weltweit extrem verändert und entwickelt oder – anders ausgedrückt – einen regelrechten Quantensprung in Sachen Professionalisierung, Marketing und Co. gemacht. Eine unglaublich dynamische Entwicklung, die natürlich auch nicht vor Spielsystemen, Taktik sowie Spielweise haltmachte, genauso wenig wie vor den damit verbundenen Tugenden klassischer Hacklervereine.

Natürlich glichen sich auch hier durch taktische Revolutionen in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene Spielweisen nach und nach an, markante Merkmale verschwammen, die individuelle Note verblasste – aber bestimmte Eigenschaften sind bis heute in der hauseigenen Klub-DNA einer Vielzahl großer Vereine noch immer zu erkennen und häufig auch im Leitbild festgehalten. So auch bei Rapid Wien. Und letztlich ist es wie in jeder Familie: Seine Wurzeln kann man nicht verleugnen.

Wie tief der Sportklub Rapid gerade in den Gründungsjahren in der Arbeiterschaft verankert war, geht jedenfalls unweigerlich aus der Historie hervor. So liefen die heutigen Grün-Weißen seit ihrer Gründung im Jahre 1897 in Hütteldorf zunächst unter dem so bezeichnenden Namen „Erster Wiener Arbeiter-Fußball-Club“ auf – damals übrigens noch in Blau und Rot –, um wenige Jahre später Namen und Farben zu wechseln. Das mag an besonders auffällig flinken Spielern der ersten Generation gelegen haben oder einfach am Wunsch nach einer aggressiven, schnellen und nach vorne ausgerichteten Spielweise, eben einem ganz eigenen Markenzeichen, das sich im Namen manifestierte. Laut der Legende jedenfalls inspirierte die Gründerväter ein Klub aus Berlin, der sich „Rapide“ nannte, und so lief man fortan als „Sportklub Rapid“ aufs Feld, um seine ganz eigene Geschichte zu schreiben – geprägt durch Kampf, Leidenschaft, Beißen, Kratzen und Schwitzen bis zur letzten Sekunde.

Rückblickend verwundert es also nicht, dass Rapid weniger für große Spielmacher, Ballkünstler oder Edeltechniker stand. Selten war der 10er der Star. „Es waren eher die Mittelstürmer, durchsetzungsstarke Flügelspieler und wie Uhrwerke laufende Sechser, die den Rekordmeister ausmachten. Der Primgeiger im zentral-offensiven Mittelfeld wurde stets eher mit der Austria assoziiert – ebenso wie zuarbeitende Angreifer, eher flink als wuchtig. Auch die Art und Weise des Spiels konnte stets gut unterschieden werden: Die Austria technisch besser und ballsicherer, Rapid kampfkräftiger, vor allem aber direkter und hungriger“, so der Blogger Daniel Mandl auf abseits.at, womit er die Wiener Fußballhistorie feinfühlig beschreibt. Von daher muss es einen Außenstehenden fast verwundern, dass Herzogs Wahl in so jungen und entscheidenden Jahren auf Rapid fiel – und nicht auf die Austria, zumal er sich der Unterschiede in Spielweise und Tugenden durchaus bewusst war.

Von der Spielweise her hätte ich fast besser zur Austria gepasst: Der technische Kombinationsfußball stand immer schon für die Violetten, das Wiener Scheiberlspiel (das Wiener Kombinationsspiel, ich spiel kurz zu dir, du zu mir, Ball hin und her scheibeln, schieben), wie man in Österreich so sagt. Rapid war ja seit jeher der Arbeiterverein, kommt viel über Einsatz und Laufbereitschaft. Bei der Austria waren es eher die Edeltechniker wie Prohaska und so weiter, die im Vordergrund standen, was nicht heißt, dass es die bei Rapid nicht gegeben hätte. Aber sie hatten einen anderen Stellenwert. Drum haben die immer auch in der Halle auf Parkettboden gezaubert. (Andreas Herzog)

Was zog unseren Protagonisten also tatsächlich so magisch an, wieso Hütteldorf und nicht Favoriten, hätte er doch auf den ersten Blick mit seiner feinen Technik durchaus auch den Violetten der Stadt gut zu Gesicht gestanden? Und macht man sich als Bub oder besser gesagt als junger Teenager überhaupt Gedanken über die eigene Zukunft, die nächsten Etappenziele oder neue Herausforderungen?

Natürlich war auch Andi Herzog mit gerade einmal 14 Jahren noch lange nicht rund in seiner ganzen Persönlichkeit, eben wie jeder andere Jugendliche auch mitten in der Entwicklung – und dennoch folgte er wohl auch seinem Herzen, intuitiv. Zudem spielte, wie schon erwähnt, Vater Anton „Burli“ Herzog stets eine tragende Rolle, wenn es um das außergewöhnliche Talent seines Jungen ging, verfügte dieser doch neben dem nötigen fußballerischen Know-how aufgrund der eigenen Karriere und für damalige Verhältnisse über eine Vielzahl guter Kontakte – heute würde man von Networking sprechen.

Doch auf den Punkt gebracht war Andi vor allem eines wichtig: Freunde!

Ich wollte also zu einem starken Verein. Die großen Talente der damaligen Zeit, der Ernst Ogris, Gerald Glatzmayer und der Ernst Mader haben damals Jungprofiverträge bekommen, und ich hätt damals bei einem Wechsel zu Austria auch für mein Alter sehr viel Geld bekommen. In Jesolo hat mich dann aber ein Freund, der Oliver Scheriau, dessen Vater mit meinem bei Wacker Wien zusammengespielt hat, darauf angesprochen, dass ich mir einmal Rapid anschauen sollte. Das habe ich dann getan und dort auch den Ludwig Huyer getroffen. (Andreas Herzog)

Es war also die Freundschaft, die den damals noch jungen Andi Herzog zu Rapid Wien zog – und nicht die Möglichkeit, einen ersten gut dotierten Jungprofivertrag beim ewigen Stadtrivalen Austria Wien zu unterschreiben. Immerhin 8000 Schilling hätte er damals pro Monat verdient, eine beachtliche Summe, wenn man sich in die Zeit der frühen 80er zurückversetzt. Zum Vergleich: Eine Kugel Eis kostete in diesen Tagen im 12. Bezirk rund zwei bis drei Schilling, eine Extrawurstsemmel fünf Schilling und ein Krügerl Bier samt Schnitzel inklusive Schmäh der Kellnerin im „Schweizerhaus“ im Prater gerade mal 20 Schilling – doch was ist schon Geld oder die Möglichkeit, es für Köstlichkeiten auszugeben, gegen so elementare Werte oder noch besser gesagt Gefühle wie Freundschaft und Zugehörigkeit? Die Worte eines Oliver Scheriau und dessen Vater waren jedenfalls entscheidend und gewichtig – genauso wie die Anwesenheit von Andreas und Ludwig Huyer.

„Herz über Kopf“ würde man heute wohl sagen – oder, um es in der Fachsprache rund um die Thematik „Bauchgefühl“ auf den Punkt zu bringen: „Gute Intuitionen müssen Informationen ignorieren.“ Wenn man also heute und in einer scheinbar immer unsicherer werdenden Welt Entscheidungen treffen möchte, ist weniger oft mehr.

„Intuition ist die Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Rest – also überflüssige Informationen – zu ignorieren“, sagt auch Professor Dr. Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Populärwissenschaftlich spricht er auch von der „Take-the-Best-Methode“, also eine wichtige Entscheidung nach nur einem einzigen guten Grund, dem persönlich wichtigsten Grund, zu treffen, statt lange Pro- und Kontralisten anzulegen. Ähnlich muss es der junge Andi Herzog wohl intuitiv und schon zu Beginn seiner Karriere gemacht haben – ein Muster, das sich übrigens noch wiederholen sollte.

Das zieht sich auch wie ein roter Faden bei mir, dass ich nicht immer nur aufs Geld geschaut hab, weißt? Ich hätt damals bei der Austria 8000 Schilling als Jungprofi verdient, ich war damals 14, musst du dir vorstellen. Ich bin zu Rapid gegangen, hab gar nichts bekommen, aber ich hab dort schon ein, zwei Freunde gehabt. Das war für mich wichtiger. Ich gehe lieber zu Rapid, da fühle ich mich wohler, das Umfeld passt zu mir. (Andreas Herzog)

So hatte der Vater von Oliver Scheriau mit Herzerls Vater Toni bei Wacker Wien gekickt – und da es den gewöhnlichen Wiener im Sommer entweder täglich ins „Gänsehäufel“, das Strandbad an der Alten Donau, oder in die Sommerfrische an die Adria in südlichere Gefilde zog, schlossen sich alsbald gemeinsame Badeurlaube an. „Auf nach Italien“, lautete das Motto der Scheriaus und Herzogs, raus aus der altehrwürdigen Donaumetropole und hinein in die Lagune von Venedig.

„Durch diese Urlaubsbekanntschaft über Jahre hat auch der Vater Scheriau gesagt: ‚Andi warum kommst du nicht zu Rapid?‘ Sein Sohn war Rechtsaußen, ich war Spielmacher. Und dann kann das eigentlich sehr, sehr gut funktionieren“, erinnert sich Andreas Herzog. Und es sollte funktionieren, zudem er hier – nicht am Badestrand, sondern auf dem Trainingsplatz im 14. Bezirk – noch auf einen weiteren Weggefährten seines Vaters traf: Ludwig Huyer.

 

Dieser hatte für drei Jahre und zu Beginn der 60er-Jahre für Rapid den Kasten freigehalten. Und auch wenn Anton Herzog in diesem Fall nicht mit, sondern gegen ihn gespielt hatte, kannte man sich doch im Wiener Fußballgrätzel durch zahllose Spiele und Turniere und schätzte sich mitunter auch – wie in einer großen Familie eben.

Auf ähnliche Weise mussten sich zwangsläufig auch die Söhne der beiden Ex-Profis über den Weg laufen. Erst spielte man in der frühen Jugend gegeneinander, Ludwig Huyers Sohn Andreas bereits für Rapid, Andi Herzog noch für Admira Wacker, dann miteinander – denn beide waren im gleichen Alter und verstanden sich fortan prächtig. Und das unter der Regie des mittlerweile zum grün-weißen Nachwuchszeugwart aufgestiegenen Ludwig Huyer.

Der (Ludwig Huyer) hat mich genommen, mich in die Kabine gestoßen und gesagt: „So, Andi, ab jetzt bist a Rapidler!“

Ich war damals noch ein Jahr jünger als meine Kollegen in der U16. Die ersten beiden, die ich kennengelernt habe, waren schon voll austrainiert, während ich noch nicht einmal gescheit in der Pubertät war. Die waren halt schon voll als Männer entwickelt, ein damals jugoslawischer und ein türkischer Mitspieler, und da bin ich wieder raus und hab gesagt: „Herr Huyer, ich bin in der U16, ich spiel noch nicht in der U18.“

„Naa, das ist eh die richtige Kabine, das sind deine neuen Kollegen.“

Da wollt ich den Verein schon wieder verlassen, weil ich mich zu klein und zu jung gefühlt habe. Ich bin wieder raus zu meinem Vater und habe gesagt: „Komm, Papa, fahren wir wieder heim, da möchte ich nicht spielen.“ (Andreas Herzog)

Auch hier wird wieder deutlich: Der junge Herzerl brauchte den berühmten „Schtessa“ ins kalte Wasser, Unterstützer, Freunde an seiner Seite. Aber wer braucht diese nicht? Sein Vater verfügte zudem über das nötige Fingerspitzengefühl, nennen wir es empathisches Einfühlungsvermögen, wenn es denn darauf ankam. Einerseits gab er ihm Zeit zur Entwicklung – ohne zu viel Drill, Druck und Enge. In „gewissen spielerischen Momenten“ forderte er aber auch eine „gewisse Gier“ – dann trieb der Vater seinen Sohn auch gerne an.

„Geh hin zu den Elfmetern, geh hin zu den Freistößen.“

„Du, Papa, wenn ich mich aber nicht gut fühle, dann gehe ich lieber nicht hin.“

„Naa, geh hin, übernimm die Verantwortung.“

Oft hat es dann zu Hause Diskussionen gegeben, und gerne meldete sich in solchen Fällen auch meine Mutter lautstark zu Wort: „Du, Toni, tu den Jungen nicht hineintheatern, du hast das früher ja auch nicht gemacht.“ (Andreas Herzog)

Doch Toni winkte nur ab, wusste er doch genau, was er bei seinem „Buam“ anders machen wollte als in seiner eigenen Karriere. Wenn Anton Herzog davon überzeugt war, dass sein Sohn es kann, dann konnte er es auch. Er pushte ihn und forderte ihn auf, Verantwortung zu übernehmen – um ihm in anderen Phasen, sei es aufgrund der körperlichen Kondition oder der Spielweise, nicht zu viel Druck zu machen. Für den jungen Andreas muss es damals jedenfalls die perfekte Mischung gewesen sein – und der richtige Weg, beginnend bei Admira Wacker in der Südstadt hin zum Sportklub Rapid nach Hütteldorf, eben der rechte Mix aus Zugehörigkeit, Anerkennung der Kompetenzen und Autonomie.

In diesem Zusammenhang bietet sich ein kurzer Blick über die Grenzen hinaus in die USA und hinein in den Staat New York an. Denn dort ergaben wissenschaftliche Untersuchungen an der Universität Rochester, dass sich Menschen besonders dann wohlfühlen, wenn sie ihr Leben beruflich wie auch privat selbst bestimmen können, in ihren Kompetenzen anerkannt werden und sich zu einer Gruppe zugehörig fühlen. Am glücklichsten sind diejenigen Menschen, die alle drei Bereiche auf einem besonders hohen Niveau sowie in der Balance leben können.

Wenn man sich dieser Tatsache bewusst wird, kann man verstehen, wieso sich der junge Andreas Herzog sehr schnell im 14. Bezirk wohlfühlte. Mit Oliver Scheriau und Andreas Huyer hatte er gleich zwei echte Freunde an seiner Seite, die ihm das Ankommen erleichterten – unschlagbar, bedenkt man, dass „Zugehörigkeit“ das wichtigste menschliche Bedürfnis ist. Nicht zu unterschätzen auch eine gewisse Autonomie, die er in all seinen Handlungen hatte. Natürlich musste sich der jugendliche Andreas Herzog wie alle anderen auch an feste Regeln, Rituale und Abläufe halten, aber allein schon im Umgang seines Vaters mit ihm wird deutlich: Drill nein, stattdessen eher die Forderung zur Selbstbestimmung und Eigeninitiative, wenn es seiner Spielweise und Konstitution entsprach. Und dann wäre da noch die Anerkennung der Kompetenzen, die man sich manches Mal hart erarbeiten muss …

In meinem ersten Meisterschaftsspiel haben wir glaube ich 6:0 gewonnen – und da hab ich fünf Tor geschossen. Da dachten die anderen guten Spieler: „Ui, da ist jetzt ein Neuer gekommen, das ist ein richtiger Konkurrent.“ Da hatte ich am Anfang schon Schwierigkeiten, dass ich akzeptiert wurde, obwohl ich gut war. Die Platzhirsche wollten halt nicht akzeptieren, dass ein Jüngerer kommt und gleich fünf Tore schießt, und da war es phasenweise schon so, wenn ich links gelaufen bin, haben sie viel über rechts gespielt, und wenn ich rechts gelaufen bin, haben sie über links gespielt. Da ist mein Vater auch hin und wieder narrisch geworden. (Andreas Herzog)

Nach fünf Spielen hatte Herzog weiterhin fünf Treffer auf seinem Konto – und zwar noch immer die aus dem ersten Spiel. Da galt es, neue Wege zu gehen, auf die Mitspieler zuzugehen, sich durchzusetzen und durchzubeißen – oder anders auf sich aufmerksam zu machen. Diese Herausforderung nahm das neue U16-Talent an – während Vater Toni aus den Emotionen heraus ganz eigene Ideen hatte, die Andi „zum Glück“, wie er heute lachend betont, nicht umsetzte.

„Andi, setz dich einmal am Mittelpunkt hin und schau, ob es denen überhaupt auffallt, weil sie spielen dich eh nie an.“

„Papa, was soll denn das? Was hilft mir das weiter?“

„Naa, setz dich einmal hin, setz dich einmal hin“, wiederholte der Vater so richtig emotional. (Andreas Herzog)

Toni Herzog suchte einfach nach einem Auslöser, einer Initialzündung, er wollte provozieren, damit intern Dinge anders angesprochen werden. „Als Kind habe ich das so noch nicht verstanden“, meint Herzog heute. „Er wollte mit einer außergewöhnlichen Situation zu einer Lösung finden, dachte in Wahlmöglichkeiten.“

Natürlich setzte sich Herzog junior „back in 83“ nicht in den Mittelkreis, fand stattdessen eigene Mittel und Wege, um sich und sein großes Talent zu zeigen. Wenngleich es rückblickend durchaus eine spannende Idee seines Vaters war, geboren aus den Emotionen eines Menschen, der damals schon wusste, welches besondere Talent in seinem Sohn schlummerte. Dieses brauchte einfach nur Raum zur Entfaltung in der Mitte des Feldes. So oder so hätte er auf diese Weise für Aufmerksamkeit und Gesprächsstoff im Team gesorgt. Doch wie an anderer Stelle schon erwähnt, ist es ebenso wichtig, den ganz eigenen Weg zu gehen, sich neben allem Können auch gegen Widerstände durchzusetzen, zu kämpfen, zu hackeln. Das machte Andreas Herzog auf seine ganz eigene Weise, mit Herz, Schmäh, seinem linken Pratzerl und manchmal aus der zweiten Reihe heraus – zumindest, wenn es um die „Duschhierarchie“ in der Kabine ging.


Zwei Greenhorns in den Anfängen: Andi mit Freund Oliver Scheriau

Irgendwann kommst besser in die Mannschaft rein, dann hast mehr Gespräche, dann hat sich das ein bisserl gebessert. Und mit dem Andreas Huyer, der war genauso alt wie ich, der war auch ein Jahr jünger, der war auch immer einer, der als Letzter geduscht hat. Wir haben gewartet, bis die behaarten Männer aus der Kabine waren, dann haben wir uns zum Schluss schnell geduscht, die Spätreifen (lacht herzhaft). (Andreas Herzog)

Hier zeigt sich: Wer beruflich in einem hohen Maß autonom sein kann, in seinen Kompetenzen anerkannt wird und sich seinem Team zugehörig fühlt, kann Topleistungen erbringen. Auf dem Fußballplatz genauso wie im richtigen Leben – und zwar vor allem dann, wenn alle drei Bereiche auf hohem Niveau in der Balance sind. Andi Herzog jedenfalls war bei Rapid angekommen.

KAPITEL 6:
„DAS WAR A WAHNSINN“ – ZWISCHEN DEN EXTREMEN
RAPID WIEN 1983–1986

Schon seit Stunden regnete es in Strömen in der Wiener Südstadt – und das Ende Mai. Wer das Wetter rund um Wien und den Wienerwald über Jahre ein wenig studiert, der kennt diese ergiebigen Regenfälle. Meist bleiben die Wolken förmlich im Wienerwald hängen, um dort und über der Donaumetropole abzuregnen – doch nach einigen Stunden ist der Spuk normalerweise vorbei, und die Sonne strahlt wieder vom Himmel. Aber nicht so im Mai 2021. Gefühlt regnete es jedenfalls täglich und fast ununterbrochen, was Andi Herzog zu einem „Da wirst ja deppert“ hinreißen ließ, als ich wie abgemacht gegen 10.40 Uhr die Heckklappe seiner Limousine öffnete, um Rucksack, Schirm und Wanderschuhe im Auto zu verstauen. Doch es half nichts. Das Schnelligkeitstraining seiner beiden Söhne Luca und Louis stand an. Da galt es auch dem Regen zu trotzen.

Zuvor hatten mich die drei plus Vinzi, einem gleichaltrigen Freund von Louis, am Hotel in Perchtoldsdorf abgeholt, und weiter ging es Richtung Laufbahn in die Südstadt. „Ist das nicht der Weber Franzl?“, rief Luca plötzlich während der Fahrt. Ein Blick in den Rückspiegel des „Zauberers“ genügte – und in der Tat, es war der Weber Franzl!

Andi Herzog hatte Ende der 80er-Jahre mit ihm bei Rapid gekickt und ihn immer mal wieder unterstützt in den letzten Jahren, wie das im besten Fall und unter Freunden möglich ist. „Ist er aus dem Bus ausgestiegen?“, fragte Herzerl besorgt, um gleich hinzuzufügen: „Na, hoffentlich hat er seinen Führerschein nicht verloren.“

Doch laut Luca strawanzte Franz Weber fröhlich und zu Fuß durch die engen Gassen von Maria Enzersdorf. Typisch Andreas Herzog: Er hatte einfach ein Herz für viele ehemalige Mitspieler, unterstützte den einen oder anderen mit seinem Know-how genauso wie mit möglichen Aufgaben, Ideen oder Jobs. Nicht jeder ehemalige Fußballprofi konnte mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, Titeln und Erfolgen umgehen, und wo Höhen überwunden und größere Erfolge gefeiert wurden, waren die Tiefen in der Regel nicht fern – und übermäßiger Genuss jedweder Art verlockend, von Casinogängen über das eine oder andere Achtel bis hin zur Pferderennbahn.

Doch zurück in den strömenden Regen und raus auf den Platz! Ein individuelles Lauftraining für den Nachwuchs mit Laufspezialist Andreas Nöhmayr war angesagt. Durch viermal 200-Meter-Läufe sollte auf lange Sicht die Schnelligkeit gesteigert werden. In einfachen Worten ausgedrückt: Effizienz der Lauftechnik steigern, Energie sparen, schneller werden. Auf jedwedes Aufwärmprogramm wurde heute allerdings wetterbedingt verzichtet.

„Super Schritttechnik, kurz und schnell“, motivierte Papa Herzog seinen Sohn Louis, der nach den ersten 200 Metern noch mit sich haderte, hatte ihn doch ausgerechnet der beste Freund Vinzi auf den letzten Metern noch überholt. In ähnlichen Situationen nahm Louis sonst auch schon einmal auf dem Boden Platz, heute aber wollte er es wissen. Kinder halt, und alles ein Lernprozess – und aufgeben tut man bekanntlich nur einen Brief. Louis ging in sich, trotzte der neuerlichen Regenschlacht und wuchs in den folgenden Läufen über sich hinaus. Schlusspfiff eine Stunde später – mehr war bei diesem Wetter einfach nicht möglich.

Ob der junge Andi Herzog an gleichem Ort wohl ähnlich mit sich kämpfte, um dann über sich hinauszuwachsen?, fragte ich mich. Anscheinend konnte er meine Gedanken lesen. „Kurze Läufe machten mir Spaß, lange nicht“, so seine knappe Antwort, während wir riesige Pfützen umspringen mussten, um einigermaßen trockenen Fußes zum Auto zu gelangen. Überhaupt rührend, wie sich Andi um die drei angehenden österreichischen Sporthoffnungen kümmerte. Da war er wieder, der schon häufig aufgefallene „To care“-Faktor des Rekordnationalspielers – einfach ein Kümmerer. Nacheinander hüpften nun alle drei jungen Sportler kurz hinten in den Kombi hinein und zogen sich zügig um. „Füße gut abtrocknen, Socken wechseln und zu Hause gleich duschen“, lautete der abschließende Marschbefehl vom Chef.

 

Erstaunlich, wie sich der Fußballsport in vielen Belangen individualisiert hat, wie wichtig es ist, über den Tellerrand zu schauen, und wie sehr man mit all dem wertvollen Know-how über Lauftechnik und Co. die Qualität des Trainings steigern kann, dachte ich mir, während Papa Herzog die Limousine inklusive der drei „Buam“ sicher durch die verregneten Wiener Vororte lenkte. Auf der Rückbank war indes Ruhe eingekehrt – was wohl mit der energetischen Anziehungskraft des Handys zu tun hatte. Aber wer kennt das nicht?

So blieb im Vorderraum des Autos genügend Zeit, wieder in die Vergangenheit abzuschweifen und über eine andere, aber nicht weniger intensive Leistungssteuerung zu plaudern – zurück in die 80er also! Herzog blickte zurück: „Schau, die Voraussetzungen waren einfach ganz anders, es war viel mehr Eigeninitiative gefragt, wollt ich mich verbessern.“

Von der U16 der Grün-Weißen ging es in der Saison 1984/85 weiter in die U18. Auch hier gehörte er wieder zu den jüngsten Kickern und wurde in seinem neuen Team Meister mit dem U18-Team: 6:0 lautete das Endergebnis im Finale gegen Innsbruck. Herzog muss in diesen Tagen eine tragende Rolle im ersten Jahr der U18 eingenommen haben, denn gleich im Anschluss begleitete er die Kampfmannschaft von Rapid ins Trainingslager. Und auch sonst war er in jeder freien Minute auf dem Trainingsgelände in Hütteldorf.

Für mich war es extreme Aufregung, weil ich mit Hans Krankl, Zlatko Kranjčar, also mit meinen extremen Vorbildern, musst dir vorstellen, auf einmal zusammenkam. Ich bin von der Schule immer direkt, also spätestens nach sechs Stunden um 13.15 Uhr nach Hause. Da war spätestens bei mir in der Handelsakademie Schulschluss. Jetzt bin ich heimgefahren, habe meine Aufgaben gemacht, gelernt habe ich leider nicht so viel laut meiner Mutter, sofort zum Training gefahren und hab um halb vier den Profis beim Training zugeschaut. Das geht ja heute gar nicht mehr. (Andreas Herzog)

Es war die große Zeit der grün-weißen Auswahl in den 1980er-Jahren. 1987 und 1988 gewann der SK Rapid Wien die nationale Meisterschaft, in den Jahren 1984, 1985 und 1987 den ÖFB-Cup – nicht zu verschweigen der Einzug in das Finale des Europacups der Pokalsieger 1985, das in Rotterdam im Stadion De Kuip vor 38.500 Zuschauern mit 1:3 gegen den Stadtteilklub aus Liverpool, Everton FC, verloren ging.

Genau in diesen Tagen hatte also der heranwachsende und zumindest in Sachen „Fußballsport“ besonders wissbegierige junge „Bua“ oder besser gesagt Teenager Andi die Möglichkeit, seinen extremen Vorbildern fast täglich ganz nahe zu sein, um von ihnen zu lernen. Da wundert es kaum, dass der heimische Schreibtisch in der Schönbrunner Allee schnell verwaist zurückgelassen wurde. Man lernt eben nur dann besonders gut, wenn es einen auch wirklich interessiert, anzieht.

Ich hab immer erst um 18 Uhr Training gehabt und bin aber jeden Tag schon um halb vier im Stadion gewesen und habe den Profis zugeschaut. Ich wollte nie jemanden kopieren, aber man lernt ja aus jeder Situation. Das war total strange, die Mannschaft hat sich aufgewärmt, aber der Antonín Panenka hat sich a Handballtor ins richtige Tor stellen lassen, hat nur Freistöße geschossen. Das Handballtor war quasi die Mauer. Die anderen haben sich aufgewärmt, und er hat dabei Freistöße geschossen. Die anderen sind gelaufen, und der Torjäger, der Hans Krankl, hat sich Flanken geben lassen und hat volley geschossen. Und der Rest der Mannschaft hat aufgewärmt. Da hab ich mir gedacht: Wie gibt’s denn des, wie kann denn das sein, die müssen da gar nicht mitmachen? Doch das war halt dann schon die Ausnahmestellung von einem Superstar, der Trainer hat es akzeptiert, und die Spieler haben mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zurückgezahlt. (Andreas Herzog)

Wenn man der Sportwissenschaft Glauben schenken mag, lernen junge Talente besonders dann gut, wenn sie ihre Stars beim Tun beobachten, besser gesagt nicht nur „passiv zuschauen“, sondern sie „intensiv anstarren“. Daniel Coyle, der weltweit Talentschmieden besuchte, spricht in diesem Zusammenhang sogar vom „Windscreen-Effect“: Wir alle haben eine Art Matrix, eine Windschutzscheibe voller Menschen und Vorbilder vor Augen. „Einer der Schlüssel für den Motivationsfunken ist, seine ‚Windschutzscheibe‘ mit aussagekräftigen Bildern seines zukünftigen Ichs zu füllen und sie tagtäglich anzustarren.“ Studien in den USA ergaben, dass selbst eine lose Verbindung zu einem Vorbild unbewusste Motivation beträchtlich steigern, aktives Beobachten sogar zu einem erheblichen Leistungsschub führen kann.

Womit wir wieder bei unserem Protagonisten wären, der so schnell wie möglich aus der Handelsakademie über einen kurzen Mittagstisch- und Hausaufgaben-Abstecher in Meidling schnellstmöglich auf dem Trainingsplatz und in der ersten Reihe saß.

Antonín Panenka, der beste Freistoßschütze in Europa seiner Zeit, der Tscheche, der den Panenka-Elfmeter, den Lupfer, erfunden hat, 1976 gegen die BRD im EM-Finale. Kennst du die Geschichte? Er lauft an, der Torhüter schmeißt sich, und er chippt den Ball seelenruhig. Antonín Panenka, das war der beste Freistoßschütze, Hans Krankl Torjäger, Kranjčar … und ich habe erst immer um 18 Uhr Training gehabt. (Andreas Herzog)

Inspirierend, motivierend, alles brannte sich anscheinend auf der Festplatte des jungen Andreas Herzog tief ein. Die Freistoßspezialisten genauso wie die Torjäger, und vor allem all das, was mit Kreativität und Offensive zu tun hatte. Jedenfalls starrte Herzerl in der damaligen Sturm- und Drangzeit augenscheinlich besonders gut auf die Stars. Wenngleich für ihn immer galt – abgucken ja, kopieren nein. Oder in anderen Worten: Ich zeige den besten Andreas Herzog, den ich in diesem Moment zeigen kann.

Ich wollte jetzt nicht immer irgendwen kopieren, aber man lernt ja aus jeder Situation, abgeschaut habe ich mir auf jeden Fall immer etwas. (Andreas Herzog)

Die folgenden Monate müssen für den jungen Herzog eine hochintensive Zeit gewesen sein, und schon beim bloßen Zuhören fragt man sich, ob heutige Spieler dieser Belastung überhaupt noch gewachsen wären. Natürlich, heutzutage sind die Anforderungen an junge Kicker in Sachen „Umfeldmanagement“ wesentlich höher. Das heißt, schulische Aufgaben und damit verbundener Leistungsdruck fordern spätestens seit der Jahrtausendwende mehr Aufmerksamkeit und vor allem ein hochintensives Zeitmanagement – ein Wort, das es so gesehen in den 1980er-Jahren noch gar nicht gab, genauso wenig wie den Drill an fachlichem Know-how, insbesondere in den hochmodernen Nachwuchsleistungszentren heutiger Bundesligisten.

Besonders drastisch kritisierte dies vor wenigen Jahren Andi Herzogs ehemaliger Mitspieler von Bayern München, Mehmet Scholl, und löste damit eine große Diskussion aus. „Die Kinder dürfen sich nicht mehr im Dribbling probieren“, monierte er. „Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärtslaufen und furzen.“ Von Andi mit einem „Na, da schau her …“ kommentiert. Zu viel Fachtermini, zu einheitliche Denkmuster, zu statisches Einstudieren von Spielsystemen, das sich von ganz oben bis in die unteren Altersklassen der Nachwuchsleistungszentren erstreckt – nur so am Rande erwähnt.

Was für ein eigenverantwortliches Fußballerleben Andreas Herzog doch da als Jugendspieler genießen konnte, zudem er noch das große Glück hatte, nur ein paar Steinwürfe entfernt von Hütteldorf zu wohnen, daher auf keine langen Busfahrten angewiesen war oder auf einen Schlafplatz in der vereinseigenen Akademie mit täglichem Schulanschluss – wie es heute eben gang und gäbe ist.