Ein deutscher Sohn

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Ein deutscher Sohn
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Nein, Hellpach hatte nur frische Luft in sein von Tabaksqualm erfülltes Zimmer im vierten Stock der Pension Giulietta lassen wollen, dazu die beiden Doppelfenster weit geöffnet und so die Ankunft dieses Deutschen beobachtet. Zufällig, wie er sagte. "Am 15. Juni, einem Mittwoch, nachmittags, gegen vier oder fünf. Er kam aus Zürich. Dorthin ist er geflogen. "

"Gewiss ist er geflogen". Der Polizist sass seit schon einer halben Stunde in Hellpachs Besuchersessel vor dem Schreibtisch, doch noch immer standen Schweissperlen auf seiner Stirn. Es war ihm nicht leicht gefallen, die vier ziemlich steilen Treppen zu Hellpach hinauf zu steigen.

"An seiner Ledertasche flatterte einer dieser Anhänger, wie die Fluggesellschaften sie um die Gepäckstücke binden. Er fuhr einen Leihwagen. Mit Basler Kennzeichen. Einen roten Opel. Wenn er es sich aussuchen kann, wird ein Deutscher im Ausland immer ein deutsches Auto mieten."

Der Polizist griff nach dem Glas mit Mineralwasser, das vor ihm auf der Tischkante stand. „Ein kleiner Wagen“.

"Von klein habe ich nicht gesprochen, aber Sie haben recht. Der Wagen war klein. Klein und rot, ein Zweitürer. Wahrscheinlich hat er ihn am Flughafen gemietet. Man fährt nicht erst in die Stadt, wenn man am Flughafen ein Auto mieten kann."

Pellegrini hatte noch nie ein Auto gemietet und war ziemlich sicher, dass er nie ein Auto mieten würde.

"Das heisst, dass er sehr früh aufgestanden ist".

"Ja, sehr früh". Pellegrini nickte bedächtig.

"Gegen sieben. Er ist gegen sieben Uhr aufgestanden, hat gefrühstückt und sich dann mit einem Taxi zum Flughafen fahren lassen. Man braucht, wenn man aus Deutschland nach Zürich fliegt, immer rund eine Stunde."

"Ah ja ?"

"Natürlich, er könnte in Stuttgart abgeflogen sein; das dauert nicht so lange. Oder in München. Aber wer von Stuttgart oder München aus anreist, fährt mit der Bahn. Oder mit dem Auto."

Pellegrini wischte sich den Mund ab. Der alte Mann, der ihm jetzt wieder in seinem mit braunem Samt bezogenen Ohrensessel gegenübersass, beachtete ihn nicht.

"Also ist er in Hamburg abgeflogen oder in Berlin. Das müsste sich doch feststellen lassen, oder ? Ich kenne nicht alle deutschen Flughäfen".

Der Polizist stand auf und trat an das rechte der beiden hohen Fenster. Der Kitt müsste erneuert werden, dachte er. Er wandte sich um. "Es wird ein Gewitter geben".

"Wenn er hier um vier eingetroffen ist, sollte er gegen elf in Zürich gelandet sein. Mit dem Auto fährt man etwa vier Stunden von Zürich".

"Der Kitt...", sagte Pellegrini.

Hellpach hatte sich erhoben. "Stimmt".

"Und ? Weiter ? Wie sah er aus ? Gesund, müde, erschöpft ? "

"Nun, er war gross. Ziemlich gross. Etwa 1,85, vielleicht sogar 1,90 Meter. Schlank. Bis auf den Bauch. Aber nicht viel. Nur so ein bisschen. Graue Haare, am Hinterkopf schon gelichtet, an den Seiten gewellt. Gutes, sympathisches Gesicht, grauer, kurzer Bart. Keine Brille, auch nicht beim Lesen. Erschöpft ? Naja, nicht eben in Topform, aber gesund."

"Die Fenster müssen auch gestrichen werden. Die Fensterrahmen...“.

Robert von Hellpach nickte. "Ich traf ihn ein paarmal. Unten, im Speisesaal. Trank Wein. Dagegen das Essen..."

"Was ist mit dem Essen ?"

"Es ist nicht gut. Zu fett." Die beiden Männer schwiegen.

"Ungefähr Mitte fünfzig, nicht älter".

Pellegrini nickte. Dem Fax aus Bern zufolge war der Mann 55 Jahre alt.

"Er war allein. Telefonierte nicht, bekam keine Post, schrieb keine Karten. Blieb drei Tage".

"Allein ? Die ganzen drei Tage ?" Pellegrini wischte sich erneut mit dem Taschentuch über die Stirn.

"Er war ein- oder zweimal drüben, in Italien. Auch in St. Moritz. Kam wieder mit einer Plastiktüte vom Migros dort."

Pellegrini trank einen Schluck. Obwohl die ungewohnte Hitze draussen nicht in Hellpachs Zimmer drang, schwitzte er. "Die Fenster brauchen neuen Kitt", brachte er endlich hervor. Schon die Autofahrt über den Maloja-Pass hatte ihn müde gemacht.

"In der Plastiktüte waren Blöcke, grosse Schreibblöcke." Hellpach wies auf einen Stapel, der auf seinem Schreibtisch lag. "Wie die da." Selbst hier oben war das Scheppern der Teller im Speisesaal zu hören.

"Am Achtzehnten ist er abgereist, am frühen Nachmittag. Trug die Ledertasche und die Plastiktüte zum Auto, kam noch einmal zurück, bezahlte seine Rechnung, stieg dann ein und fuhr ab."

"Wohin ?"

Hellpach zuckte mit den Achseln.

Es gebe kein Fahndungsersuchen, erklärte Pellegrini. "Es ist nur so, dass man schon wissen möchte, was er macht. Wo er ist. Ob er mit jemandem in Verbindung steht und mit wem. Jemand in Bern, denke ich."

Es klopfte. Eine der Saaltöchter, ein blondes Mädchen mit hohem Busen und blauen Augen, brachte ein Tablett mit Schüsseln, Geschirr und Besteck. Die junge Frau hatte aufregend nackte Arme, und Hellpach lächelte sie dünn an.

Neugierig warf Pellegrini einen Blick auf das Essen und verzog das Gesicht. "Denken Sie an die Fenster".

"Immer zuviel Fett", antwortete Hellpach, als die Serviererin den Raum verlassen hatte. "Immer zuviel Fett. Gesund ist das bestimmt nicht.“

"Ein Journalist. Schrieb für ein paar Zeitungen und fürs Radio. Ein Kollege, nicht wahr?“

Doch der alte Mann löffelte missmutig seine Suppe und antwortete nicht.

"Aus Berlin. Am Mittwochmorgen traf er mit der Lufthansa um elf Uhr dreissig in Zürich ein, mietete für eine unbestimmte Zeit einen roten Opel Corsa, bezahlte mit deutschen Geld und liess sich eine Strassenkarte fürs Engadin geben. Tauschte dann an der Flughafen-Filiale des Schweizerischen Bankvereins zweitausend Mark in Franken und fuhr direkt auf die Autobahn nach Chur."

"Na also".

"Er hatte kein Zimmer bestellt, muss sich aber gut ausgekannt haben. Den Weg hatte er ja gleich gefunden. Er war schon einmal oder zweimal hier. Früher".

"Vielleicht". Hellpach hatte die Suppe aufgegessen und schaufelte Kartoffeln und Gemüse auf einen flachen Teller.

"Wir werden sehen. Er reiste unter seinem richtigen Namen. Das Ticket war nicht reserviert. Es ist in Berlin am Schalter gekauft worden."

"Sind die Maschinen denn immer ausgebucht ?"

"Weiss ich nicht. Ich fliege nicht. Es macht mir angst." Pellegrini stand abermals auf.

"Er hat das Ticket bar bezahlt, auch die Kaution für den Mietwagen. Und er hat noch einmal zweitausend Mark in Franken gewechselt.“

Hellpach kümmerte sich um Kartoffeln, die in einer mehlig-fetten Sauce lagen, um ein paniertes, ziemlich zähes Kalbschnitzel und hartgekochten Rosenkohl.

Der Polizist sah auf die schneebedeckten Gipfel der Berge auf der anderen Seite des Tals. Die Pension Giulietta lag fast 1 400 Meter hoch.

Pellegrini kehrte zum Tisch zurück. "Nein, er hat sich nicht versteckt." Er schob das Salzfass über die blaugrüne Tischdecke neben die Pfefferdose. "Strehlow war schon einmal hier. Vor zwanzig Jahren, ganz genau. In Begleitung.“ Er schüttete ein wenig Mineralwasser in sein Glas und trank.

"Ein alter Mann, gross und ausserordentlich kräftig. Deutscher. Aus der DDR. Aber mit westdeutschem Pass." Er trank das Glas leer und stellte es auf den Tisch. Hellpach schob sorgfältig zerkleinerten Rosenkohl auf seine Gabel und in den Mund.

„Günther, Ernst Günther aus Düsseldorf, Geschäftsmann. Unter diesem Namen hat er jedenfalls ein Safe gemietet bei der Banca Commerciale del Ticino. In Castasegna. "

"Damals war ich noch in Frankreich". Hee H

llpach hatte das Hauptgericht beendet und wandte sich dem Dessert zu.

"Strehlow hat eine Vollmacht für die Bank," sagte Pellegrino leise. „Am Morgen vor seiner Abreise war er dort, zweimal.“

"Was ist in dem Safe, Geld ?"

"Nein, vermutlich nicht. Oder nur wenig."

"Also Dokumente, Papiere, Unterlagen". Hellpach, schob die flache Schüssel mit dem Flammeri unter einer klebrigen Himbeer-Sauce angewidert fort und suchte in den Taschen der Jacke nach Tabak für seine Pfeife.

"Er trug eine schwarze Ledertasche, eine Art Aktenmappe, wie es sie früher für Angestellte gab. Er müsste sie noch gehabt haben, als er aus Castasegna wiederkam."

"Wann war das ?"

"Vormittags. Die Bank öffnet um neun und schliesst um eins. Man fährt ungefähr eine halbe Stunde von Castasegna hierher. "

Pellegrino war abermals aufgestanden und ans Fenster getreten. "Sie haben ihn gesehen, nicht wahr, ein paarmal mit ihm geredet, unten, im Foyer ?"

Hellpach hatte den Tabak gefunden. Er stopfte sehr langsam und sorgfältig die gelblichen Krümel in den Kopf seiner Pfeife und antwortete erst, nachdem er sie in Brand gesetzt hatte.

"Jaja, was man eben so redet, abends, vor dem Schlafen."

"Er kam gegen zwölf aus Castasegna zurück. Mit der Mappe. Er hatte sie auf den Beifahrersitz gelegt und das Auto abgeschlossen. Ganz gegen seine Gewohnheit, oder ? Er ging dann erst in den Speisesaal, wo er das Mittagessen abbestellte und danach in sein Zimmer. Er packte seine Sachen und bezahlte seine Rechnung.“

Von Hellpach antwortete nicht. Pellegrini hatte Recht. Die Fensterrahmen mussten neu gestrichen, der Fensterkitt erneuert werden. Es war heiss und das Essen, wie immer, zu fett und zu mehlig gewesen. Er hatte nichts gegen Pellegrini, doch er wünschte, dieser Oberhauptpolizei-General werde endlich aufhören mit seinen Fragen nach diesem komischen Deutschen. Fliegen tummelten sich auf den Resten seines Essens. Er verscheuchte sie nicht.

 

"Dann ist er abgereist".

Hellpach hatte die Augen geschlossen. Die Pfeife, in der die Glut längst wieder erloschen war, glitt ihm aus der Hand. Der alte Mann atmete ruhig und gleichmässig. Pellegrino durchquerte behutsam den Raum, öffnete die Tür und trat hinaus.

*

Ernst Günther aus Düsseldorf, Kaufmann, Im- und Export zahntechnischer Geräte. Herbert Glogowski aus Kassel, Ingenieur. Hanno von Bentheim aus Hamburg, Rechtsanwalt. Ulrich Koch, Dr. Erich Glaser, Karsten Schumacher. Und so weiter. Otto hatte tausend Namen und vielleicht auch noch ein paar mehr. Welchen er damals benutzte, hätte ich nicht mehr sagen können. Otto war Otto. Immer. Und überall.

Meine Erinnerung zeigt ihn in längst gebrechlicher Hünenhaftigkeit vor der Eingangstür des alten, von wildem Wein und Efeu überwucherten Hauses, verborgen hinter einer dichten Hainbuchen-Hecke und inmitten hoher Bäume, märkischer Kiefern, Buchen, Birken und knorriger Eichen aus der Bismarck-Zeit. Da steht er, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und wartet, bis ich das rostige Gartentor erreicht habe und die Rechte hebe zum Gruss und Abschied.

Es ist ein früher Abend im September, der warme Tag hatte schon nach Herbst gerochen. Zarter Dunst über den Feldern, die Stille des Landes. Einen Augenblick lang frage ich mich, ob die Fahrt nach Berlin wirklich zwei Stunden dauern wird, und ob, was ich dort zu tun habe, nicht auch am nächsten oder übernächsten Tag getan werden kann. Doch dann trete ich entschlossen auf die Strasse, winke ihm zu, über das Gartentor hinweg, und besteige das Auto.

Schon gut, ich hätte bleiben sollen. Ein paar Stunden. So weit reichte Dein Arm ja wohl noch immer, dass Unannehmlichkeiten an der Grenzübergangsstelle nicht zu befürchten waren. Wir hätten eine Kleinigkeit essen, eine Flasche Wein trinken, ein paar Deiner Platten hören können.

Gekommen war ich am frühen Vormittag. Gehorsam, folgsam, zuverlässig, wie Du es haben wolltest. Aufbruch also im Morgengrauen, die üblichen Formalitäten, nicht anders als sonst. Die Fahrt durch die Mark, über holprige, leere Strassen, vorbei an geduckten Häusern, durch vereinsamte Dörfer. Ankunft rechtzeitig für den Frühstückskaffee. Nach einer kurzen Begrüssung - er gab mir nie die Hand sondern legte sie mir auf die linke Schulter - begannen wir eine jener Unterhaltungen in kurzen, codierten Sätzen, wie sie einander vertraute Leute auch nach langer Trennung miteinander führen.

Meine kalte Angst beim Blick in Dein Gesicht und die Ahnung, dass Du auch diesen letzten Krieg bald verlieren wirst. Diese Unfähigkeit, in einem erlöschenden Körper zu leben, diese Qual, den Verfall zu bemerken, wie er Tag für Tag ein wenig schneller voranschreitet, dem Tod entgegen.

Für Deine geliebten, langen Spaziergänge fehlte Dir schon die Kraft. Fürst war gestorben, und mir war klar, dass er keinen Nachfolger bekommen würde.

„Da hat er gelegen, da in der Ecke, neben dem Bücherregal. Er frass nichts mehr. Kein Fleisch, nichts. Er hat noch ein bisschen getrunken, aber wirklich nur ein paar Schlucke. Und mich angeschaut. Er wollte mich nicht allein lassen, weißt Du, er machte sich Sorgen“.

„Ja, ich weiss.“

„Siebzehn Jahre – das ist eine lange Zeit für einen Hund.“ Otto stand auf und trat an die halboffene Tür zur Terrasse. Ich folgte seinem Blick. „Da draussen...“ Er machte eine vage Handbewegung. „Wir sind dort oft durch den Wald gelaufen oder die Feldwege entlang. Er war nicht so der stürmische Draufgänger, der Fürst. Eher so ein ganz ruhiger, trottliger, gutmütiger Bär...“ Ich antwortete nicht.

„Er machte sich nichts vor. Er war nicht eigentlich krank, verstehst Du ? Nur müde. Schrecklich müde. Alt. Vielleicht, mag er gedacht haben, wenn ich ein wenig schlafe... ein paar Wochen, ein paar Jahre ?“

„Ein schöner Tod“.

„Er ist in der Nacht gestorben. Ganz allein. Als ich aufwachte und nach ihm schauen wollte, atmete er nicht mehr.“

Ich schwieg. Otto hatte den riesigen Neufundländer mit dem Haus übernommen, als dessen Besitzer mit seiner Familie plötzlich verzogen war und den Hund zurückgelassen hatte wie die alten Möbel, die Bilder und die Bücher. Tagsüber, heisst es, fliegen die Vögel scheinbar ziellos umher. Doch wenn es Abend wird, suchen sie ihr Nest. In diesem Haus hatte Otto endlich so etwas wie eine Heimat gefunden.

„Gribarjan hat ihn begraben. Dort hinten, bei den Birken.“ Er seufzte. „Schliesslich war das sein Haus, sein Garten, nicht wahr ? Er hat ihn immer bewacht. Aufmerksam, aber nicht misstrauisch. Weißt Du, dass er nie jemanden gebissen hat ?“

Fürst bellte nicht einmal. Sobald ich die Gartentür öffnete, sah ich ihn kommen. Er ging langsam auf mich zu, näherte sich bis auf zwei, drei Meter. Lief dann neben mir her bis zur Haustür und drängelte sich an Otto und mir vorbei. Wenn es regnete, legte er sich gern auf den Teppich in der Mitte des grossen Raums im Erdgeschoss, senkte den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten und schlief ein.

Fürst vertraute Dir. Er hatte keine Angst davor, in Deiner Gegenwart die Augen zu schliessen. Hier kauerte er zu Deinen Füssen, wenn Du abends in Deinem Sessel Deine Bücher lasest, das Glas und die Flasche mit dem Rotwein aus Frankreich in greifbarer Nähe und im Raum die Musik Deiner Jahre. Bruno Walter, der Wagner und Mozart dirigiert, die Comedian Harmonists, Erna Berger, Maria Cebotari, Richard Tauber, vielleicht. „Dinah, is there anyone finer, in the State of Carolina, if there isn’t you, Norah...“ Ist es denn wahr, dass wir nur die Geschichten sind, die man von uns erzählt ?

Aber wen interessiert das alles heute noch – zehn Jahre und mehr nach jenem Morgen im November, an dem Gribarjan vor der Tür stand und „Gestern abend“ sagte. Andrej Gribarjan, der Freund, Gefährte, Kumpan, Chauffeur, Leibwächter und ein letztes Mal auch Bote. Wer wirklich etwas über Otto wissen will, hätte ihn fragen sollen, nicht mich. Aber jetzt ist auch Gribarjan schon lange tot.

Ich liess ihn eintreten und kochte ihm frischen Kaffee. Er legte beide Hände um den heissen Becher, trank mit kleinen, vorsichtigen Schlucken. „Er ist einfach gestorben. Als ich gegen zehn kam, sass er in seinem Sessel. Das Buch war ihm aus der Hand gefallen.“ Wie Fürst.

Seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren hatte ich mit dieser Nachricht gerechnet. Otto war nicht krank gewesen. Doch immer seltener liess er sich von Gribarjan in die Stadt fahren, zu einem Abend in der Linden-Oper und zu seinem Lieblings-Antiquar am oberen Ende der Friedrichstrasse. Nach West-Berlin, auf die andere Seite der Mauer, lockte ihn in den letzten Jahren gar nichts mehr.

Die Beisetzung fand in aller Stille statt. Ohne Nachruf des Zentralkomitees im „Neuen Deutschland“, ohne Kranz des Genossen Minister, ohne Teilnahme einer Abordnung ehemaliger Kollegen und ohne Samtkissen mit den Orden und Ehrenzeichen. Ein paar Tage später räumte man das Haus.

Gribarjan stellte den Becher ab. „Viele sind jetzt nicht mehr da“.

Seine Augen unter der zerfurchten Stirn hatten ihren Glanz verloren, seine Bewegungen waren langsam und schwerfällig geworden, sein Gang unsicher. Gribarjan, der Mann aus Armenien, dem Otto wohl ein paarmal das Überleben und seinen Namen dankte. „So, wie Du aussiehst“, hatte er gesagt, „müsstest Du Reinhardt heissen. Oder Wolf. Auch Heinrich würde gerade noch passen.“ Er grinste. „Aber das, mein Lieber, wäre zu vollkommen, verstehst Du ? Nein, Du wirst Otto heissen, Otto Voss, mit SS am Ende.“ Und dann hatte er den Namen fein säuberlich auf das Formular geschrieben.

Gribarjan erhob sich. „Addio Max“. Er trat auf mich zu und wir umarmten uns. Ich blickte ihm nach, wie er langsam und vorsichtig, die rechte Hand am Geländer, die Treppe hinunterging und ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Auch ihn, auch Gribarjan, habe ich nie wieder gesehen.

Später, viel später, bin ich auf den Friedhof gefahren, obwohl das übliche Tagesvisum für Bürger der Bundesrepublik Deutschland nur für Berlin, Hauptstadt der DDR, galt. Ich musste eine Weile suchen, bis ich das Grab fand, eins unter vielen, ohne Kreuz natürlich und ohne Stein. Wer denn auch hätte ihm einen Stein setzen sollen ? Ich hatte keine Blumen gekauft, weil ich keine Fragen beantworten wollte. Und als es niemanden mehr gab, der Fragen hätte stellen können, war das Grab schon verschwunden. Manche Erinnerungen sind gar nicht schnell genug zu tilgen.

*

Sie habe, sagte sie, den Auftrag vom Intendanten, persönlich. Zwar sei die Anregung zu diesem Forschungsprojekt aus den Gremien gekommen - von wem, genau, wisse sie auch nicht - doch habe der Intendant die Bedeutung dieses Vorschlags sofort erkannt und die Bereitstellung der notwendigen Mittel für die nächsten zwei Jahre angeordnet. Selbstverständlich sei niemand verpflichtet, Fragen zu beantworten. Auch stehe Max ja, soweit sie es beurteilen könne, in keinem vertraglich bindenden Verhältnis zu der Anstalt. Zweifellos aber werde er verstehen, wie wertvoll und wichtig gerade seine Auskünfte für sie seien und dass sie fest auf seine Hilfe rechne.

Susanne Ehrlich, etwa Mitte dreissig, vielleicht auch jünger, mit kurzgeschnittenen, rotbraunen Haaren, einer missglückten Nase, einer tiefen, gelegentlich fast heiser wirkenden Stimme und dem intensiven Blick der Kurzsichtigen. Unter den Gästen dieses Cafes am Hackeschen Markt hatte sie ihn sofort erkannt, den Stoffbeutel mit ihren Unterlagen auf den Tisch gelegt und sich ihm gegenüber gesetzt. Den üblichen small-talk über die S-Bahn, die Touristen und den zunehmenden Verkehr in der Stadt hatten sie schnell absolviert.

„Sie haben, zwischen 1974 und 1989, eine ganze Menge Reportagereisen in die DDR unternommen, nicht wahr ?“ Sie hatte ihren Capuccino ausgetrunken, aber noch nicht nach dem mitgebrachten Papier gegriffen. „Sie waren in Leipzig, in Dresden, in Rostock, in Karl-Marx..., Verzeihung, in Chemnitz, in Magdeburg...“

„...in Neuruppin, in Rheinsberg, in Barby an der Elbe und wer weiss wo noch alles. Ja, ich war dort. Für ein paar Zeitungen, fürs Radio, ein paarmal fürs Fernsehen.“

„Und Sie hatten da nie Probleme ...“ Mehr eine Feststellung als eine Frage. Wie meinst Du das ? Womit hätte ich denn wohl Probleme haben sollen, Deiner Meinung nach ?

Mit den Wächtern an der Staatsgrenze, die misstrauisch Pass und Gepäck beäugten und dann zuweilen lange telephonieren mussten ? Mit den agilen grauen Herren vom Internationalen Presse-Zentrum beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, die um die Vorlage eines detaillierten Sende- oder Artikel-Konzeptes ersuchten und auf langen Verhandlungen über allerlei Details schon deswegen bestanden, weil dabei in irgendwelchen Valuta-Hotels Export-Bier getrunken wurde, auf Kosten des Antragstellers, na klar ? Mit jenen anderen genauso grauen Herren, die zwischen Pressezentrum, Zentralkomitee und Politbüro prüften, welches journalistische Vorhaben zu genehmigen sei und welches nicht ? Mit dem Fach-Redakteur, der mir auf allen Reisen zugeordnet wurde, für zweihundert Mark(West) am Tag, zuzüglich Spesen und der natürlich für gewisse Instanzen gewisse Berichte zu schreiben hatte ? Mit der so demonstrativen wie törichten Selbstsicherheit der Ober-Genossen mit und ohne Uniforrn ? Mit diesen Leuten, die Geld tauschen wollten, zu jedem gewünschten Kurs ? Mit den Frauen, die mir ihren Busen und ihren Hintern zur gefälligen Benutzung anboten gegen ein paar West-Mark für den Intershop ?

Darum geht es doch gar nicht, oder ?

Soll ich von den Einschusslöchern in den Fassaden der alten Berliner Häuser am Prenzlauer Berg oder in Friedrichshain erzählen ? Von verwahrlosenden Vorort-Villen und verwilderten Gärten in Dresden, aus denen ich mir ein versunkenes Elternland baute ? Von den Ohrfeigen, die ein erboster Erfurter seiner sechs- oder siebenjährigen Tochter verpasste, als die in einer HO-Raststätte an der Autobahn nach Leipzig ihr Limonadenglas umwarf ? Von der Pampigkeit des Bahnpolizisten, der auf Fragen nach einem Zug mit hoheitsvollem Schweigen reagierte ? Von der Verkäuferin in der berühmten Buchhandlung am Alexanderplatz, die mich laut rügte, weil ich den Laden betreten hatte, ohne ordnungsgemäss nach einem Warenkorb zu greifen ? Von der Unsicherheit, in welcher der vielen Wirklichkeiten dieses Landes ich mich denn gerade befand ?

 

Oder meinst Du am Ende doch wieder nur das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik ?

„Nein, ich hatte keine Probleme. Es gab da so eine Art Fahrplan, wie Sie ihn ja wohl schon kennen : Antrag, Konzeptentwurf, Prüfung, Vertrag, Recherche, Produktion. Daran hielt man sich, das war die Geschäftsgrundlage.“

Sie rührte in der inzwischen geleerten Tasse und blickte mich an. „Ein paar Ihrer Manuskripte habe ich gelesen. Sehr kritisch waren die nicht.“

Nein, das waren sie nicht. Aber muss ich Dir jetzt wirklich erklären, warum sie das nicht waren ? Da nehmen wir doch lieber erst einmal die Kurzfassung.

„Wer ein Land besucht und es dann beschimpft, sollte sich nicht wundern, wenn er nicht wiederkommen darf, nicht wahr ? Ich wollte wiederkommen.“

„Hat man Ihnen denn jemals einen Antrag abgelehnt ?“

„Nicht bloss einen, gewiss nicht. Es gab so Themen, die gar nicht gern erörtert, so Pläne, die gar nicht gern gesehen wurden. “

Das ist so schwer doch nicht zu verstehen. Da werden alle möglichen Anträge abgewiesen. Anträge von Paris-Match, von Time/Life oder Newsweek, des Manchester Guardian oder Le Monde. Und ich, dieser kleine Journalist aus Westberlin, freier Autor für ein paar Sender, Zeitungen und Zeitschriften, ausgerechnet ich darf alles ? Immer ? Was ich will ? Ach, entschuldigen Sie bitte, aber ich würde gern darüber schreiben, warum es längst kostengünstige Alternativen zur WBS 70 gibt, und warum die im sozialistischen Wohnungsbau nicht berücksichtigt werden ? Ich würde gern mal mit einer dieser Damen plaudern, die in den Bars der Valuta-Hotels auf Freier aus dem Westen warten ? Ich würde mich gern mal danach erkundigen, warum es bei Euch in ganzen Strassenzügen noch genau so aussieht wie unmittelbar nach dem Sieg der glorreichen Roten Armee ? Oder auch mal die Probleme eines Stasi-Offiziers schildern, des armen Teufels vielleicht, der das abgehörte Telefongespräch alle sechs Minuten unterbrechen muss, weil die Spule seines Tonbandgeräts voll ist ? „Stell mal einen Antrag“, sagte Otto. „Wir haben zur Zeit ziemlich Probleme mit dem Tagebau im Bezirk Cottbus.“

Also erbat ich beim Internationalen Presse-Zentrum Hilfe bei der Realisierung eines Projektes „Braunkohlen-Förderung in der Lausitz“. Es dauerte ein paar Wochen. Es dauerte immer ein paar Wochen. Dann wurde das Projekt abgelehnt, und ich mochte getrost einen neuen Antrag stellen, der prompt genehmigt wurde ohne dass irgendwer peinliche Fragen stellte.

„Gab es eigentlich so eine Faustregel, an der man sich orientieren konnte ?“ Es klingt, als frage ein Zöllner nach Schmuggel-Ware, als interessiere die Antwort gar nicht. Tut sie ja auch nicht, oder ? Aber gut, spielen wir das Spiel.

„Ja, die gab es schon. Zum Beispiel war es leichter, wenn die deutschdeutschen Beziehungen gerade mal schlecht und schwieriger, wenn sie gerade mal gut waren. Und dann – es gab ein paar Tabu-Themen : die Stasi, natürlich, die Dissidenten, Umweltprobleme, bestimmte Engpässe in der Versorgung, Übergriffe der Vopos. Und so weiter.“

„Darüber haben Sie also nie geschrieben ?“ Sie betont das „nie“.

„Nein, darüber habe ich nicht geschrieben. Jedenfalls nicht unter meinem Namen. Manchmal habe ich andere schreiben lassen, ihnen ein paar Informationen gegeben. Und dann war ich sowieso der Meinung, dass darüber genug geschrieben wurde.“ Max betont das „darüber“.

Sie spielt mit dem kleinen Kaffeelöffel. „Warum haben Sie sich überhaupt so für die DDR interessiert ?“

Wie schön es wäre, denkt Max, jetzt locker vom Vaterland, von Deutschland reden zu können, von der deutschen Nation, die nicht stirbt, wenn da eine Mauer, ein Zaun, ein Graben den Osten vom Westen trennt. Wie schön es wäre, von Erinnerungen an eine Kindheit in Mecklenburg zu erzählen oder in Schkeuditz, von Verwandten in Halle oder Eisenach. Wenn er in seinem Leben irgend etwas hätte finden können, das ihn mit dieser gottverlassenen Gegend zwischen Thüringen und Usedom verband. Aber da ist nichts.

Max sieht Martine auf ihren kräftigen, braungebrannten Beinen am Strand von Plouinec in der Bretagne, ihr Lachen, ihr dickes im Wind flatterndes helles Haar, ihre weissen Zähne und die schmalen blauen Augen. Er sieht ihren kurzen um die Hüfte geschwungenen Leinenrock, die von Muscheln und Seepflanzen überzogenen Felsbrocken, das flache Gestrüpp, das sich gegen den Wind zu wehren versucht. Er sieht die Möwen und die aufgeregten Kinder, die mit einem Käscher nach Krabben fischen oder Muscheln von den Felsen schaben. Er sieht Dongh und den kleinen Ho mit Graham am Strand von Vung Tau, die schlanke Esther in ihrer Boutique auf Ibiza und Agneta aus Stockholm, die nach ihrer Scheidung auf einer griechischen Insel Kinderbücher illustriert. Wir erinnern uns an Landschaften nur der Leute, der Freunde, der Geliebten wegen, die wir dort trafen.

„Die Wahrheit ist, dass sie mich eigentlich gar nicht interessierte.“

Stimmt. Sie war mir egal und sie nervte manchmal, wenn ich mit dem Auto nach Hamburg fuhr oder nach Köln, nach Kopenhagen, nach San Casciano oder nach Audierne. Diese Züge der Reichsbahn, die nach Desinfektions-Chemie rochen, diese Staus bis Königslutter auf der einen, bis zum Funkturm auf der anderen Seite. „Die Reisedokumente !“ Gelegentlich sogar, später : „Bitte!“ . - „Waffen, Munition, Funkgeräte ?“ Visagebühr : fünf Mark. Strassenbenutzungsgebühr : fünf Mark. – „Öffnen Sie bitte den Kofferraum, öffnen Sie bitte das Handschuhfach, öffnen Sie bitte die Motorhaube, öffnen Sie bitte diesen Koffer, was befindet sich in dieser Aktentasche ?“ - Naja, was sollte schon in ihr befinden : ein paar Bücher, ein paar Manuskripte vielleicht.

Aussteigen, Sitz hochklappen, Rückbank anheben, Motorhaube schliessen, Kofferraum schliessen, Tankdeckel schliessen, einsteigen, weiterfahren. Höchstens hundert. Von Marienborn nach Magdeburg, nach Ziesar, Michendorf, Drewitz. Oder von Warnemünde über Rostock, Güstrow und Nauen nach Spandau. Hinter stinkenden Zweitaktern und Lastwagen, die mit Schweröl fuhren. Und noch einmal : Aussteigen, Motorhaube und Sitz hochklappen, Tankverschluss öffnen. Deutschland einig Vaterland. Schon im Transit eine Zumutung.

„Dafür sind Sie aber oft dagewesen.“ Max weiss natürlich, dass sie eine Erklärung haben will, möglichst eine glaubhafte. Kein Problem für Max.

„Der Job wurde gut bezahlt. : Fünf-, sechs-, siebentausend für ein Feature, für das ich ansonsten mal gerade drei- oder viertausend bekam. Und was man damit verdiente, war auch noch steuerfrei.“ Das wird sie überzeugen. Geld überzeugt immer. Aber sie sitzt bloss stumm auf ihrem Stuhl und gibt keinen Kommentar. Schaut ihn an, aufmerksam, skeptisch. Na, gut. Max kann nachlegen. “Es war eine seltsame Erfahrung, mit einer S-Bahnfahrkarte für 20 Pfennig in einen anderen Teil der Welt zu reisen. Faszinierend fand ich immer das Licht.“

Sie könnte jetzt eine Frage stellen. Aber sie fragt nichts.

„Es war nicht richtig hell, verstehen Sie ? Es war dunkel, und doch konnte man genügend sehen. Es war sehr rücksichtvoll, sehr behutsam, sehr diskret. Es erinnerte mich an die Herbst- und Wintermonate meiner Kindheit, besonders, wenn dieser zähe, eklige Rauch aus den Kaminen in der Luft hing. Auch die manchmal aufgeweichten Wege, die ungepflasterten Strassen mit ihren Pfützen und die wackligen Zäune am Saum der Gärten. Und die Leute : die respektvolle Vorsicht, mit der sie etwas auspackten zum Beispiel. Ihre zeremoniöse Art, eine Einladung auszusprechen oder eine Bitte. Sie waren so förmlich.“

„Ja. Ich bin in Mecklenburg aufgewachsen, jetzt wohne ich in Pankow“. Max ist erleichtert : „In Pankoff, wie mein Vater immer sagte.“ Sie lächelt.