Buch lesen: «Sprachliche Höflichkeit»
Claus Ehrhardt / Eva Neuland
Sprachliche Höflichkeit
UVK Verlag · München
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Prof. Dr. Claus Ehrhardt lehrt Deutsche Sprache und Sprachwissenschaft an der Universität Urbino, Arbeitsschwerpunkte: Sprachliche Höflichkeit, linguistische Pragmatik, Phraseologie.
Prof. Dr. Eva Neuland ist Universitätsprofessorin i.R. für Germanistik/Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal, Arbeitsschwerpunkte: Soziolinguistik, Gesprächs- und Textlinguistik, interkulturelle Kommunikation.
ISBN 978-3-8252-5541-1 (Print)
ISBN 978-3-8463-5541-1 (ePub)
Inhalt
1 Einleitung
2 Höflichkeit im Alltagsverständnis2.1 Höflichkeit in Wörterbüchern2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: Knigge als „Säulenheiliger“?2.3 Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch2.5.1 Frequenzanalysen2.5.2 Kookkurrenzanalysen2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick2.6.1 Ein Beispiel: Talkshows als Forum von Unhöflichkeit?2.6.2 Zwei Ebenen der Diskussion: Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2
3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte3.1 Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte3.1.1 Höflichkeit und gesellschaftlicher Wandel in der Vormoderne3.1.2 Höfische Höflichkeit3.1.3 Salonkonversationelle Höflichkeit3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland3.2.1 Bürgerliche Natürlichkeit3.2.2 Knigge3.2.3 Höflichkeitserziehung3.3 Antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart3.4.1 Tendenzen der Informalisierung3.4.2 Generationelle Einflüsse
4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen4.1 Höflichkeit und Sprache4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen4.2.1 Thematisierungen von Höflichkeit4.2.2 Pronominale Anredeformen4.2.3 Modalität, Konjunktiv Präteritum4.3 Höflichkeitsformeln4.3.1 Höflichkeit zwischen Grammatik und Phraseologie4.3.2 Routineformeln und Höflichkeitsformeln4.3.3 Kommunikative und rituelle Leistungen von Höflichkeitsformeln4.4 Pragmatik der Höflichkeit4.4.1 Höflichkeitsformeln als pragmatische Prägungen4.4.2 Höflichkeit als Stil4.5 Zusammenfassung
5 Höflichkeit und Kommunikation: (Sprach-)wissenschaftliche Grundlagen der Höflichkeitsforschung5.1 Einleitung5.2 Beziehung und Kommunikation5.2.1 Interaktionssoziologisches Intermezzo: Goffman und das face5.2.2 Sprache und Beziehungsgestaltung5.2.3 Watzlawick/Beavin/Jackson5.2.4 Das Organon-Modell und Jakobson5.2.5 Schulz von Thun5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit5.4 Kooperation und Höflichkeit: Ein Blick in die Evolution5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte5.7 Vorläufiges Fazit
6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien6.1 Einleitung6.2 Die Pionierphase6.3 Kritik an Brown/Levinson6.4 Die Konsolidierungsphase6.4.1 Fraser/Nolan und der Konversationsvertrag6.4.2 Leech: Höflichkeit als „kommunikativer Altruismus“6.4.3 Arndt/Janney und die emotive communication6.4.4 Was kommuniziert man, wenn man höflich ist? Der relevanztheoretische Ansatz6.4.5 Beiträge aus dem nicht-anglofonen Bereich6.4.6 Schluss6.5 Die diskursive Wende6.5.1 Überblick6.5.2 Höflichkeit: Der Gegenstand der Reflexion6.5.3 Höflich – unhöflich und x?6.5.4 Face und Beziehung6.6 Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel6.6.1 Vorbemerkung6.6.2 Beschreibung6.6.3 (Un)Höflichkeit?
7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung7.1 Höflichkeit in den sozialen Medien: Zwischen Hatespeech und Wohlfühlkommunikation7.2 Kontrastive Perspektiven7.2.1 Einleitung7.2.2 Das Problem des tertium comparationis7.2.3 Sprechhandlungen kontrastiv7.2.4 Höflichkeit in ausgewählten Ländern7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation7.3.1 Interkulturalität7.3.2 Kritik der „Kulturstandards“7.3.3 Höflichkeit und interkulturelle Kompetenz7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen7.4.1 Diversität der Zielgruppen versus Universalität der Kulturen7.4.2 Vielzahl von Übungstypen und wenig Sprachliches7.4.3 Höflichkeit in critical incidents7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven7.5.1 Höflichkeit als Lernziel in der Sprachdidaktik7.5.2 Muttersprachlicher Deutschunterricht7.5.3 Höflichkeit im DaF-Unterricht
8 Ausblick und Fazit8.1 Theorie und Empirie der Höflichkeitsforschung8.2 Höflichkeit und soziolinguistische Differenzen8.2.1 Geschlecht, Alter und Bildungsstand8.2.2 Kontext und Situation8.3 Fazit
9 Literaturverzeichnis
Sachregister
Personenregister
1 Einleitung
Seit den 1990er Jahren ist sprachliche Höflichkeit im deutschsprachigen Bereich ein wichtiges Thema der sprachwissenschaftlichen Pragmatik, der Soziolinguistik, der Gesprächslinguistik und anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Sprachgebrauch sowie mit der Interdependenz von individuellen, kommunikativen Wahlhandlungen auf der einen und sozialen Gegebenheiten auf der anderen Seite auseinandersetzen. Die linguistische Forschung zu diesem Themenkomplex hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen und sich kontinuierlich weiterentwickelt, sodass es heute fast schon unmöglich ist, sich einen Überblick zu verschaffen (vgl. Neuland 2018b). Einführungen in die Theorie der sprachlichen Höflichkeit beginnen inzwischen regelmäßig mit der Bemerkung, dass es sich um ein unüberschaubares Feld handelt.
Die Erforschung von sprachlicher Höflichkeit kann und muss – neben der linguistischen Tradition – auch noch an die reiche und wechselvolle Kulturgeschichte der Höflichkeit und der Höflichkeitskonzepte anknüpfen, in der sich höfische, bürgerliche und antiautoritäre Annäherungsweisen und verschiedene Kombinationen zwischen diesen abwechseln.
Natürlich handelt es sich auch um ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz, das immer wieder zum Thema öffentlicher Debatten wird – über den Sinn und Unsinn von Höflichkeitsvorschriften, ein angemessenes Verhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Konventionen oder die Rolle der Erziehung, um nur einige Gegenstandsfelder zu nennen.
All dies und noch viele andere Aspekte müssen in der wissenschaftlichen Diskussion berücksichtigt werden. Häufig wird aus guten Gründen aber nicht das Gesamtbild thematisiert, sondern einzelne Aspekte vertieft, wie Komplimente, Beleidigungen, Anredeformen u.ä.
Wesentliche Impulse sind durch die frühen Beiträge der US-amerikanischen bzw. britischen Klassiker Brown/Levinson (1987), Lakoff (1973) und Leech (1983) ausgelöst worden. Die frühen sprechaktbezogenen Arbeiten der kulturkontrastiven Pragmatik (CCSAR-Projekt vgl. Blum-Kulka/Olshtain 1984 oder Blum-Kulka/House/Kasper 1989) in den 1970er und 1980er Jahren haben zugleich mit der Kritik am Universalitätsanspruch der genannten Pioniere neue Aufmerksamkeit in der Forschung bewirkt, wie die Dokumentation der einschlägigen Sektion der IVG-Tagung Politeness in Language. Studies in its History, Theory and Practice (Watts/Ide/Ehlich 1992/2005) belegt.
Nach einer gewissen „Flaute“ in der internationalen Forschungsentwicklung in den 1990er Jahren wurde das Thema der Höflichkeit nach der Jahrtausendwende wieder belebt. Der genannte IVG-Band erfuhr 2005 eine Neuauflage, und 2011 erschienen die Ergebnisse der Sektion Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz (Ehrhardt/Neuland/Yamashita) der IVG-Tagung in Warschau 2010.
Seitdem ist die sprachliche Höflichkeit immer wieder Thema internationaler wissenschaftlicher Konferenzen (z.B. Sprachliche Höflichkeit: Historische, aktuelle und künftige Perspektiven, Ehrhardt/Neuland 2017), wissenschaftlicher Publikationen und auch kontroverser Diskussionen in der Öffentlichkeit (vgl. dazu Kapitel 2).
Schließlich ist die Auseinandersetzung mit Höflichkeit auch ein beliebtes Thema in der universitären Lehre im Rahmen der linguistischen Pragmatik, Soziolinguistik und Kommunikationsforschung im Bereich der Germanistik und der Fremdsprachenphilologien.
Für das vertiefte Studium möchte der vorliegende Band den Versuch unternehmen, trotz der Unübersichtlichkeit einige Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Diskussion zu beschreiben und damit eine Grundlage zu schaffen, die es Studierenden ermöglicht, sich ein Bild von der internationalen Forschung (mit Schwerpunkt auf der deutschsprachigen) zum Thema Höflichkeit zu machen, wichtige Forscher und Forschungsansätze kennenzulernen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Überlegungen zu identifizieren und zu bewerten, und auch zu erkennen, an welchen Punkten noch Forschungsbedarf besteht.
Idealerweise sollten LeserInnen mit den Grundbegriffen der linguistischen Pragmatik vertraut sein, wie sie in Einführungskursen vermittelt werden.
Das Buch beginnt mit einer Annäherung an das Thema aus alltagssprachlicher Perspektive. In Kapitel 2 soll beschrieben werden, was Sprecher des Deutschen meinen, wenn sie von Höflichkeit reden. Dazu werden Wörterbuchdefinitionen herangezogen, die den Gebrauch der Wörter Höflichkeit und höflich illustrieren, aber auch kleine Einblicke in kontrovers diskutierte Fragestellungen angesprochen, die in öffentlichen Debatten eine Rolle spielen.
Kapitel 3 bietet einen kurzen kulturhistorischen Überblick über verschiedene Entwicklungen und Tendenzen von Diskussionen über Höflichkeit. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass das Nachdenken über Höflichkeit eine Konstante in der Kulturgeschichte ist und eine wichtige Funktion im Rahmen der Selbstverständigung von Gesellschaften und Kulturen erfüllt.
In Kapitel 4 geht es um sprachliche Formen des Deutschen, die im Allgemeinen angeführt werden, wenn der Zusammenhang von Sprache und Höflichkeit beleuchtet werden soll. In diesem Kapitel wird vor allem darauf hingewiesen, dass die Verwendung bestimmter sprachlicher Strukturen (Anredeformen, Konjunktiv Präteritum usw.) zwar ein zentraler Gegenstand von linguistischen Überlegungen zur Höflichkeit sein muss, dass die Verwendung dieser Formen aber weder notwendig noch hinreichend ist, um eine Äußerung zu produzieren, die als höflich eingeschätzt wird.
Höflichkeit ist damit eine Funktion von Äußerungen und nicht von Wörtern oder Sätzen. Diese Annahme bietet den Ausgangspunkt der Überlegungen in Kapitel 5, in dem skizziert werden soll, wie die Behandlung von Höflichkeit in einen umfassenderen Ansatz eingeordnet werden kann, der das Ziel verfolgt zu analysieren und zu erklären, unter welchen Bedingungen Kommunikation zustande kommt und effizient sein kann. Die zentrale Frage dieses Kapitels betrifft demnach die kommunikativen Funktionen und die Relevanz von Höflichkeit. Als Ergebnis dieser Betrachtungen wird ein Begriff von Höflichkeit vorgeschlagen, der geeignet sein könnte, das Phänomen theoretisch angemessen einzuordnen.
Kapitel 6 gibt dann einen Überblick über die Geschichte der Höflichkeitsforschung im engeren Sinne. Hier werden wichtige Ansätze aus dem deutschsprachigen und internationalen Bereich vorgestellt und im Hinblick auf den Begriffsvorschlag aus Kapitel 5 diskutiert. Insgesamt ergibt sich hier ein Panorama der Forschungssituation, wichtiger Themen und Ansätze.
In Kapitel 7 werden einzelne anwendungsbezogene Themen herausgegriffen und vertiefend diskutiert. Hier geht es vor allem um Höflichkeit in der computervermittelten Kommunikation, um interkulturelle Kommunikation, kontrastive Ansätze und um Höflichkeit in der Didaktik des Deutschen als Muttersprache und Fremdsprache.
Kapitel 8 bildet schließlich den Abschluss des Bandes, in dem ein Ausblick auf mögliche Themen weiterer Forschung gegeben und die Befunde der Diskussionen noch einmal zusammenfassend auf den Punkt gebracht werden sollen.
Insgesamt stellt der Band also einen Vorschlag zur Begriffsbestimmung dar, aber auch und vor allem einen Überblick über das Forschungsfeld „sprachliche Höflichkeit“. Er bietet eine geeignete Gundlagenlektüre für Vorlesungen und Seminare und gibt Interessierten eine Orientierung in einem komplexen und facettenreichen Bereich. Es geht dabei um linguistische Fragestellungen, um die Rolle von Höflichkeit als Teil der kommunikativen und interkulturellen Kompetenz. Wer praktische Orientierung sucht, wann er wen duzen darf, wie eine angemessene Entschuldigung formuliert sein sollte oder wie man eine höfliche Mail formuliert, der wird nicht auf seine Kosten kommen.
Nach langen Überlegungen haben die Autorin und der Autor sich entschlossen, eine Version der gendergerechten Sprache zu wählen, die eben gendergerecht ist, aber den Lesefluss nicht stört und stilistisch unauffällig ist. Diese Lösung besteht aus der Verwendung des Binnen-I und beider Artikel (maskulin und feminin) im Singular: Mit „der/die LeserIn“ sind also Personen jeglichen Geschlechts gemeint. Häufig wird auch der Plural verwendet oder, wenn es sich im jeweiligen Kontext anbietet, auch andere Formen, die gendergerecht und leser(innen)freundlich sind oder mit denen das zumindest angestrebt wird.
Urbino und Wuppertal, im April 2021
2 Höflichkeit im Alltagsverständnis
Über Höflichkeit denkt man im Alltag normalerweise nicht nach; vielmehr wird uns das Phänomen erst dann bewusst, wenn wir Verstöße dagegen empfinden: ein Dank, der ausbleibt, ein Gruß, der kaum erwidert wird, eine Anrede, die wir als unangemessen empfinden. Höflichkeit im Alltag zu definieren, fällt daher schwer und erfolgt zumeist durch Ersatzbegriffe, etwa Benehmen, Respekt, Anstand, guter Ton. Ein Blick in allgemeine Wörterbücher sollte weiterhelfen, um zu einem ersten Eindruck zu gelangen, was Höflichkeit im Alltagsverständnis ist.
2.1 Höflichkeit in Wörterbüchern
Mittlerweile greifen die meisten Ratsuchenden zu digitalen Wörterbüchern, z.B. zum Online-Duden. Dort findet man als Bedeutungsübersicht:
1 Höfliches, gesittetes BenehmenBenehmen; ZuvorkommenheitZuvorkommenheit.
2 In höfliche, jemanden schmeichelnde Worte gekleidete, freundlich-unverbindliche LiebenswürdigkeitLiebenswürdigkeit, die jemand einem anderen sagt. (Duden online)
Hinzugefügt werden ganze siebenundzwanzig Synonyme zu Höflichkeit, darunter: eine gute Kinderstube, RitterlichkeitRitterlichkeit, Schliff, ZartgefühlZartgefühl, bildungssprachlich auch: KonzilianzKonzilianz, ZivilitätZivilität und veraltend: CourtoisieCourtoisie, ArtigkeitArtigkeit, PolitessePolitesse. Aus der Aufzählung der Synonyme lässt sich schließen, dass Höflichkeit anscheinend etwas mit Bildung und Erziehung zu tun hat.
Ausführlicher erläutert die freie Enzyklopädie Wikipedia:
Die Höflichkeit oder Zivilisiertheit ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Ihr Gegenteil ist die GrobheitGrobheit oder BarbareiBarbarei. Sozial gehört sie zu den Sitten, soziologisch zu den sozialen Normen. Das Wort hat sich aus dem Begriff ‚höfischhöfisch‘ entwickelt, das die Lebensart am frühneuzeitlichen Hof bezeichnete. (Wikipedia: „Höflichkeit“)
Hier wird Höflichkeit mit ZivilisiertheitZivilisiertheit gleichgesetzt und darüber hinaus als eine Tugend klassifiziert. Als Gegenteil wird Grobheit oder Barbarei genannt.
Zu der im Alltag so viel auffälligeren Unhöflichkeit geben Wörterbücher vergleichsweise wenig Aufschluss. Der Online-Duden vermittelt quasi tautologisch als Bedeutungsübersicht:
1 Das Unhöflichsein
2 Unhöfliche Handlungen, Äußerungen. (Duden online)
Die freie Enzyklopädie Wikipedia hält als Bedeutungen fest: „ungesittetes, beleidigendes oder unangebrachtes Verhalten“ (Wiktionary: „Unhöflichkeit“).
Die Befragung von allgemeinen Wörterbüchern hat uns nicht sonderlich weit gebracht: Zivilisation, Erziehung und Bildung sowie kulturelle Verständnisweisen umfassen ein weitgespanntes und vages Bedeutungsfeld, das überdies stark vom subjektiven Ermessen abhängig zu sein scheint. Anscheinend fällt es den meisten Menschen leichter, Höflichkeit als Attribut mit bestimmten Verhaltensweisen zu verbinden und dafür Beispiele anzugeben wie:
sich bei jemandem zu bedanken, der einem einen Gefallen getan hat,
jemanden, den man trifft, zu grüßen,
beim Essen die Gabel in der linken und das Messer in der rechten Hand zu halten,
während eines wichtigen Gesprächs keine Telefonanrufe entgegenzunehmen.
Es geht dabei also immer um sprachliche oder nicht-sprachliche Handlungen oder Unterlassungen. Eine der Gemeinsamkeiten der betreffenden Handlungen liegt darin, dass sie nicht unbedingt als natürliche, angeborene Verhaltensdispositionen der Menschen angesehen werden können, sondern als erlernt, als Produkte von Kultur, Zivilisation und Erziehung. Sie werden dem Individuum durch gesellschaftliche Regeln oder Zwänge beigebracht (oder aufgezwungen?). Viele Menschen denken hierbei sofort an Handbücher, Regelwerke oder Ratgeber, in denen solche Vorschriften aufgelistet und erklärt werden, in denen die sog. Etikette expliziert wird.
2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: KniggeKnigge als „Säulenheiliger“?
Ein Blick in die Kataloge deutschsprachiger Verlage und in die Regale von Buchhandlungen macht schnell klar, dass Höflichkeit, im alltagsprachlichen Sinne als Verhaltenskodex verstanden, wieder ein Thema von hoher gesellschaftlicher Bedeutung geworden ist. BücherproduzentInnen in Deutschland machen offenbar einen gestiegenen Beratungsbedarf in Bezug auf Höflichkeit und Benehmen aus.
Auch der Dudenverlag hat einen Deutsch-Knigge veröffentlicht, in dem man – laut Untertitel – erfährt, wie man sicher formuliert, sicher kommuniziert und sicher auftritt. Viele Titelformulierungen enthalten darüber hinaus Erfolgsversprechen für gesellschaftliche Problemsituationen.
Einige Beispiele aus den letzten Jahren sollen verdeutlichen, dass Bücher wie diese offensichtlich mit einer regen Nachfrage rechnen können und was sie eigentlich behandeln:
Der Deutsch-Knigge (Duden 2008)
Der neue große Knigge: Gutes Benehmen und richtige Umgangsformen (Schneider-Flaig 2008)
Der China-Knigge: Eine Gebrauchsanweisung für das Reich der Mitte (Häring-Kuang/Kuan 2012)
Knigge im Job. So machen Sie immer eine gute Figur (Wolff 2006)
Business-Knigge – Die 100 wichtigsten Benimmregeln (Quittschau/Tabernig 2019)
Der große GU-Knigge (Bonneau 2008)
Über den Umgang mit E-Mails: Der Scholz & Friends E-Mail-Knigge (Scholz & Friends 2009)
Knigge, Kleider und Karriere: Sicher auftreten mit Stil und EtiketteEtikette (Nagiller 2004)
Ess- und Tisch-Knigge: Nie wieder peinlich! (Witt 2004)
Business Knigge international: Der Schnellkurs (Oppel 2015)
Das Benimm-ABC: Knigge für junge Leute von heute (Griesbeck 2010)
Sex-Knigge für Frauen: Ein Mann verrät, wie Sie die perfekte Liebhaberin werden (van Amstel 2004)
Knigge für Dummies (Gillmann 2015)
Jugend-Knigge 2100: Knigge für junge Leute und Berufseinsteiger (Hanisch 2020)
Schon ein kurzer Blick auf die Titel zeigt, worum es hier geht: Das Verhalten in Gesellschaft anderer (z.B. beim Essen und in der Liebe), das Verhalten in beruflichen Situationen, den Sprachgebrauch in Briefen und anderen Texten, das Verhalten im Ausland. In diesen Bereichen kommen Menschen immer wieder in Situationen, in denen sie den Eindruck haben, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen, sondern dass sie sich an vorgegebene VerhaltensstandardsVerhaltensstandard halten sollten, wenn sie die Situation erfolgreich meistern wollen. Wenn man etwas falsch macht, dann wird es peinlich, man gefährdet die eigene Reputation und den kommunikativen Erfolg im jeweiligen Kontext. Hier besteht also Orientierungsbedarf. Die Gesellschaft vermittelt über solche Bücher (oder analoge Angebote im Internet), was sie von ihren Mitgliedern erwartet und was Mitmenschen von jedem Individuum erwarten können. Höflichkeit wird in solcher Ratgeberliteratur mit der Beachtung der aufgestellten Regeln identifiziert und so auf ein Inventar rezeptologischer Handlungsanweisungen reduziert: z.B. „Straßenwörter“ zu vermeiden und die „Zauberwörter“ bitte und danke zu nutzen (nach Hanisch 2020).
Es entsteht der Eindruck, dass diese Art Ratgeberliteratur gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten (wieder) populär geworden ist. Vieles deutet darauf hin, dass ungefähr seit der Jahrtausendwende das „korrekte“, also regelkonforme Verhalten wieder geschätzt wird und dass man sich in vielen sozialen Gruppen unmöglich macht, wenn man nicht weiß, was der Knigge von einem erwarten würde. Man will wieder eine gute Figur machen und greift dafür auf altbewährte Vorgaben zurück.
Woher kommt die Autorität der Etikettebücher? Wer schreibt sie aufgrund welcher Qualifikation oder in wessen Namen? Wer definiert eigentlich die Regeln für den Umgang mit anderen Menschen? Hier liegt immer der Verdacht nahe, dass bestimmte soziale Gruppen, die die kulturelle Hegemonie in einer Gesellschaft für sich beanspruchen, anderen Gruppen ihre Verhaltensstandards mit mehr oder weniger subtilen Mitteln aufzwingen. Das kann hier nicht vertieft werden. Es scheint klar zu sein, dass AutorInnen der Etikette von heute die Etikette von gestern übernehmen und eventuell an neue Gegebenheiten anpassen. Ohne (wenigstens impliziten) Bezug auf Vorgängerwerke könnte ein Etikettebuch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.
Als „Säulenheiliger“ der Etikette und letzte Instanz in Benimmfragen gilt in Deutschland Adolph Freiherr Knigge (1752 – 1796) – das zeigt sich schon in den Titeln der zitierten Werke. Sein Buch Über den Umgang mit Menschen (Knigge 1788/1977 oder Knigge 1788/2010) wird immer wieder als Urtext der Etikette, als erstes Benimmbuch gelesen. Ein Blick in das Werk erweist aber sehr schnell, dass der Urvater der Etikette etwas ganz anderes im Sinn hatte, dass er unter Höflichkeit etwas ganz anderes verstanden hat als sozial angepasstes, regelorientiertes Verhalten. Seit 2010 ist sein Gesamtwerk in einer vierbändigen Ausgabe zugänglich, und nach und nach werden auch zusätzliche Dokumente – etwa Briefwechsel – veröffentlicht. Und siehe da: Es handelte sich um einen prominenten Vertreter der deutschen Aufklärung, der zahlreiche Erzählungen, Reiseberichte, aber auch protosoziologische Texte verfasst hat und der in Deutschland als Anhänger der Französischen Revolution verfolgt wurde. Benimmbücher hat er aber sicher nicht geschrieben; auch Über den Umgang mit Menschen passt nicht in eine solche Tradition. Ein Rezensent der Zeit bringt es auf den Punkt:
Noch einmal und noch einmal und noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben, auch für die Medienkollegen: Adolph Freiherr Knigge war kein Benimm-Onkel. Fischbesteck und Dresscodes haben ihn null interessiert. Sein Buch ‚Über den Umgang mit Menschen‘ von 1788 wurde im 19. Jahrhundert von irgendwelchen Stehkragen-Spießern zu einer Etikettefibel zugrunde gefälscht. Nicht um Umgangsformen ging es Knigge, sondern um Lebensformen und Weltklugheit. (Erenz 2016)
Knigges Buch kann als Vorläufer soziologischer, sozialpsychologischer, philosophischer oder ethnologischer Überlegungen angesehen werden, sicher aber nicht als Ratgeber für formvollendetes, höfisches Verhalten. Das Werk ist in drei Teile aufgeteilt. Der erste trägt die Überschrift Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen, der zweite behandelt den Umgang mit besonderen Gruppen von Menschen (Eltern, Kinder und Blutsverwandte, Eheleute, Verliebte, Hauswirte, Nachbarn, Wirt und Gast usw.), der dritte Teil schließlich widmet sich dem Umgang mit Menschen von verschiedenen Ständen und Verhältnissen. Modern ausgedrückt ist der Umgang mit DiversitätDiversität ein zentrales Thema, also die Frage, wie man in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben kann, in der Kontakte mit sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen immer wichtiger werden.
Der Autor selbst bringt die Ziele des Buches in der Einleitung zur dritten Auflage auf den Punkt, indem er die Überschrift paraphrasiert: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können“ (Knigge 1788/1977, o. Pag.). Der vermeintliche Ahnherr der Etikettebücher macht deutlich, dass es im Umgang mit Mitmenschen gerade nicht auf eine Sammlung allgemeiner Verhaltensanweisungen ankommt und dass die Regeln des Umgangs miteinander eine große Bedeutung für die Organisation des sozialen Lebens haben. Wenn man beschreiben und analysieren will, was eine Gesellschaft zusammenhält und wie sich ihre Mitglieder in ihrem Verhalten organisieren bzw. woran sie sich orientieren, dann sollte man demnach auch den Begriff der Höflichkeit jenseits der puren Konventionalität vertiefen und genauer ergründen, was Menschen voneinander erwarten können bzw. welche Pflichten und Rechte sie im Umgang mit anderen haben.
Abb. II.1: Knigge, Ausgabe im Insel Verlag (2008) © Suhrkamp Verlag
Eine moderne Version der Ideen Knigges schlägt die Deutsche Knigge-Gesellschaft vor. Schon durch die Namensgebung erhebt der Verein den Anspruch, in einer Linie mit den Ideen des Freiherrn zu stehen und die authentische Interpretation seiner Gedanken wiederzugeben. In diesem Sinne werden z.B. Beratungen für Unternehmen und Institutionen angeboten oder Trainings für verschiedene Gruppen von Interessierten (u.a. über die „Knigge-Akademie“). Auf der Homepage der Gesellschaft wird an die Ideen von Knigge angeknüpft. Unter der Überschrift „Etikette alleine reicht nicht“ heißt es etwa: „Man darf allerdings auch hier nicht übertreiben. Gutes Benehmen ist nicht alles. Zum Stil gehört auch geistige Größe und Bildung (übrigens auch die des Herzens). ‚Nur geistige Kultivierung verfeinert‘, meint dazu Thomas Mann“ (Knigge-Gesellschaft). Es geht nicht um gutes Benehmen, sondern vor allem um StilStil. Auch das ist eine Ebene, auf der Ausführungen über Höflichkeit angesiedelt werden können.
Das Credo der modernen Knigge-Version wird auf der Homepage in sieben Punkten zusammengefasst:
Zurück zu den Wurzeln von Knigge: Aufklärung & Humanismus.
Locker bleiben!
Auch wenn ein Esel einen goldenen Sattel trägt, bleibt er dennoch ein Esel.
Trainiert nicht Euer Lächeln, trainiert Eure Herzen!
Nur geistige Kultivierung verfeinert. Purer Formalismus ist dumm.
Ehrlichkeit, Disziplin, soziale Einstellung, ethisch einwandfreies Verhalten statt formalem Perfektionismus, Ellbogen, und Raffer-Mentalität, die über Leichen geht.
Schluss mit den Auswüchsen steifer Etikette-Vorschriften! Wer will, soll ruhig „Guten Appetit“ und „Gesundheit“ sagen und diese albernen Übertreibungen zurückfahren (das setzt sich sowieso nicht durch). Natürlichkeit und Authentizität haben Priorität.(Knigge-Gesellschaft)
Halten wir hier erst einmal fest: Höflichkeit ist nicht so leicht zu fassen, sie ist vielschichtig und umstritten. Man kann sie als Etikette, als Verhaltensnorm verstehen. Dann spricht man von festen Vorschriften, die in manchen sozialen Kontexten befolgt werden und deren Nicht-Befolgung sozial sanktioniert werden kann. Man sagt damit aber wenig darüber aus, was für das menschliche Zusammenleben wirklich wichtig ist – man wird ja kaum annehmen wollen, dass unser Verhalten in erwähnenswertem Maß von Etiketteregeln konditioniert wird. Man kann Höflichkeit aber auch als Verhaltensdisposition, als Einstellung beschreiben, die der Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kooperieren, zugrunde liegt. Und hier wird es auch wissenschaftlich interessant; Höflichkeit ist dann ein Begriff, der deskriptiv verwendet werden kann, also nicht mehr, um zu sagen, was man in bestimmten Situationen tun sollte, sondern um zu beschreiben, was Menschen in bestimmten kommunikativen Kontexten tun und warum sie es tun bzw. welche sozialen Funktionen und Effekte dieses Verhalten hat. Darum sollte es bei einer linguistischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen gehen.