Plätzchenduft und Tannengrün

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Plätzchenduft und Tannengrün
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Claus Beese (Hrsg.)

Plätzchenduft und Tannengrün

Weihnachtsgeschichten-Anthologie der Lagerfeuer-Autoren

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Buch

Vorwort

Das Ungeheuer von Staberhuk

Der kleine Paul

Weihnachtsbeschluss

Kekse für Afrika

Die Geschichte vom Weihnachtsstern

Sonntag im Winter

Der gestohlene Weihnachtsbaum

Das Weihnachtsleuchten

Die Fee mit dem Röckchen

Weihnachtsmänner

Wunschzettel

Erkenntnis

Ein filigranes Bäumchen

Kindheitserinnerung

„Oh, du fröhliche”

Sternenlichter

Schwere Kinderherzen

Das Glöckchen

Ein Sonntag im Advent

Der Weihnachtsengel vom Kinderheim

Stille Nacht

Weihnachtszeit

Die kleine Weihnachtstanne

Der Trompeter

Weihnachten

Die heilige Familie

…und dann ist plötzlich Weihnachten

Weihnacht

Grüß Mama…

Weihnachten unter Palmen

Zeit der stillen Diamanten

Nachwort

Die Autoren

Weitere Bücher der Lagerfeuer-Autoren

Impressum neobooks

Zum Buch

Dieses Buch ist als Printausgabe beim Mohland Verlag unter der

ISBN-Nummer 978-3-86675-214-6

erschienen und im Handel, beim Verlag oder beim Autor erhältlich.

Keine Zeit eines Jahres wird je so tiefgehende Gedanken,

intensive Gefühle

und kindliche Erinnerungen in sich bergen,

wie die besinnliche Weihnachtszeit.

Marie van Klant

Vorwort

Von Klaus-Dieter Welker

Funken wirbelten wie Glühwürmchen in den nächtlichen Himmel, als eine einzelne Windböe das Lagerfeuer am Rande der Dünen erfasste.

„Ein leichter Nordwest“, murmelte eine der dunklen Gestalten. „Hoffentlich bringt er nicht noch mehr Schnee mit.“

„Nein, danach sieht es nicht aus. Ich glaube, bald klart es auf.“

Ein bärtiges Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf und legte ein weiteres Scheit auf die Flammen.

„Das wäre auch nicht schlimm“, ließ sich eine weitere Stimme vernehmen. „Weiße Weihnachten, was gibt es Schöneres?“

„Na, Weihnachten unter Palmen“, lachte eine diesmal weibliche Stimme. „Stellt es euch doch mal vor: eine warme, klare Nacht. Keine jagenden Wolken, kein kalter Wind.“

„Ohne Schnee würde mir etwas fehlen. Und eine festlich geschmückte Kokospalme: nein, so sehr ich Kokos auf Makronen liebe, mir ist ein schöner Tannenbaum lieber.“

Es war eine bunt zusammengewürfelte Schar, die sich um das Feuer versammelt hatte. Männer und Frauen, junge und ältere. Aus ganz Deutschland hatten sie sich zusammengefunden, von den Küsten der Nord- und Ostsee, den hessischen Wäldern, den Ufern des Rheins und der Mosel bis weit hinunter in den Süden. Und so verschieden wie ihre Herkunft, ihr Alter und ihr Geschlecht, so unterschiedlich waren ihre Geschichten. Ein jeder von ihnen hatte seine eigenen Erfahrungen gemacht, hatte gute und schlechte Zeiten erlebt.

Eins aber hatten sie alle gemein: sie liebten Geschichten. Es konnten wahre sein, die sie selbst erlebt hatten und die für sie – und vielleicht auch für andere – eine besondere Bedeutung hatten. Aber ebenso konnten sie aus dem Reich der Phantasie stammen, einer anderen, ganz besonderen Welt mit ihrem Zauber. Sie konnten besinnlich, nachdenklich, manchmal traurig, aber ebenso heiter und voller Lebenslust sein.

Sie waren wie das Lagerfeuer, an dem sie nun saßen und das sie wärmte. Das heitere Knistern harziger Kiefernzweige oder ein Funkenregen weckte bei dem einen Erinnerungen an lustige kleine Begebenheiten, die rote Glut brachte den anderen zum Träumen von längst vergangenen Zeiten, von Liebe, von funkelndem rotem Wein. Die lodernden Flammen waren ein Aufbruch, die Kraft der Jugend. Die Wärme war Geborgenheit, war Vertrauen. Und der Wind, der sie umwehte, erzählte seine eigene Geschichte.

„Weihnachten. Das ist mehr als eine Geschichte. Es ist etwas ganz Besonderes, für jeden von uns auf seine eigene Art“, sagte Claus leise und blickte in die Runde. „Ich würde euch gerne eine Geschichte erzählen, wenn ihr wollt. Und vielleicht fällt euch ja auch etwas ein, das ihr uns erzählen könntet.“

Ja, das wollten sie, darum waren sie hier. Und so rückten sie näher an das Feuer, das sich in ihren Augen spiegelte.

Das Ungeheuer von Staberhuk

Von Claus Beese

Welcher Teufel hatte mich geritten, ausgerechnet am Vormittag des Heiligen Abend angeln zu wollen? Ich will es nicht beschwören, aber es bestand durchaus die Möglichkeit, dass es mit dem Wunsch meiner beiden weiblichen Familienangehörigen zusammenhing, Weihnachten auf Mallorca zu verbringen. Mir fehlte dafür jedes Verständnis, denn zwar wurde das Fest der Feste nahezu überall auf der Welt und in jeder Klimaregion gefeiert, doch Heiliger Abend ohne Schnee, Christbaum und ein wenig Gemütlichkeit war nun mal für mich kein Weihnachtsfest. „Feliz Navidad” anstelle Fröhlicher Weihnachten war nichts für mich, und anstatt am Strand von Malle bei 20 Grad zu grillen, stand ich lieber bei knappen null Grad am Strand von Fehmarn, um mir seefrischen Weihnachtsdorsch zu angeln.

Der laue Westwind ließ keine festliche Stimmung aufkommen, aber wozu auch? Frau und Tochter vergnügten sich bei den Spaniern, und mir allein würde der olle Rauschebart sicher nichts unter den Baum legen. Da konnte ich genau so gut selbst für mein Festtagsmenü sorgen, ohne dass sich zwei Nasen kraus zogen. Niemand würde mit spitzer Stimme sagen: „Riechst du es? Ich glaube, Papa kommt gleich heim. Heute gibt es wohl Fisch anstatt Gans!”

Nein, mein Weihnachtsgeschenk hatte ich mir selbst gemacht. Angelsachen gepackt, rein in den Wagen und ab nach Staberhuk. Weit und breit kein Frost, kein Schnee, das Meer plätscherte mit leisen Wellen gegen den Strand. Klasse Wetter! Wenn jetzt noch die Geschuppten mitspielten, würde ich mir heute Abend leckere Dorschfilets in der Pfanne goldbraun braten.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich in meinem Leben schon viele Dorsche gefangen habe, was also auf ein gewisses Maß an Erfahrung schließen lässt. Doch heute war es wie verhext, nichts, aber auch rein gar nichts tat sich an der Rute. Ich hatte nur „kleines” Gepäck dabei, rechnete ich doch damit, größere Mengen an Fischfilet nach Hause schleppen zu müssen. Allerdings sah es im Augenblick eher nicht danach aus. Ah, vermutlich falsche Stelle. Ein paar hundert Meter weiter in Richtung Leuchtturm fiel der Grund etwas steiler ab, und dort würden sich die Dorsche vermutlich stapeln.

 

Ich merkte recht schnell, dass sie das nicht taten. Egal, was ich als Köder an die Leine baumelte, es ließ sich keiner der Ostsee-Leoparden zum Biss überreden. Also noch etwas weiter in Richtung Kap. Ich krabbelte über Felsblöcke, stapfte durch den tiefen Sand, schlidderte über Geröll und kam dabei gut ins Schwitzen. Ich merkte weder, dass es langsam dämmerig wurde, noch dass die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt gefallen war. Der Wind hatte auf Nord gedreht, und ich schaute erstaunt in den Himmel, als plötzlich weiße Flocken herabsegelten. Im Nu machte sich ein Schneetreiben auf, wie ich es noch nie gesehen hatte. Der scharfe Nordwind wehte die Eiskristalle mit solcher Wucht heran, dass sie mir schmerzhaft ins Gesicht schlugen. Wie kleine Nadelstiche piekste das. Ich zog die Ohrenklappen meiner Fellmütze herab, stellte den Kragen meiner Jacke hoch und wollte in die Handschuhe schlüpfen. Wo waren sie noch gleich? Ah, richtig. Im Wagen. Dort hatte ich sie nämlich vergessen. Gut, denn dort würden sie mit Sicherheit nicht nass werden können.

Ganz im Gegensatz zu mir. Ich verwandelte mich innerhalb von Minuten in einen wandelnden Schneemann. Es schien mir geraten, langsam ans Einpacken zu denken. Heute würden sie ungeschoren davonkommen. Ich war geneigt, den Ostseedorschen eine gewisse Galgenfrist einzuräumen, noch dazu wo doch Weihnachten war. Ich würde in diesem Jahr ausnahmsweise einmal die Nächstenliebe auch den Fischen angedeihen lassen. Petrus sei Dank, waren es ja nur drei Tage, nach deren Ablauf es keine Ausflüchte mehr gab. Die Pfanne wartete.

Upps! Was war das? Die Schnur ließ sich nicht einkurbeln. Ich hatte nicht aufgepasst, und so war an den Schnurlaufringen dickes Eis gewachsen. Die Schnur hing fest, und ich musste die Ringe irgendwie auftauen. Zu allem Überfluss zerrte etwas mit uriger Kraft an der Leine. Ein Königreich für ein Feuerzeug, warum musste ich auch Nichtraucher sein? Der Fisch zog an der Leine und normalerweise müsste jetzt die Rolle die Schnur freigeben, um den Druck auf die Rute zu vermindern. Doch das ging ja nicht! Ich spürte so etwas wie Panik aufkommen. Das Gerät war kurz vor dem Bersten, als ich mich entschied, dem Fisch ins Wasser entgegenzugehen. Ah, ich lag völlig richtig mit meiner Vermutung, dass es hier schnell tiefer würde. Die Ostsee eroberte meine Stiefel, und der Fisch zog noch immer. Um mich herum wirbelten die weißen Flocken und hoch über mir fingerten die Lichtbalken des Leuchtturmes durch die Dunkelheit. Während mir unten die Beine abstarben, rann mir oben der Schweiß in die Augen.

Wie verrückt muss man eigentlich sein, fragte ich mich, um dies hier nicht schnellstmöglich zu beenden? Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich noch nicht verrückt genug war und watete zurück zum Strand. Die Rute würde im nächsten Augenblick zerbrechen oder die Schnur mit lautem Knall zerreißen. Egal. Verbissen kämpfte ich mich weiter den Strand hinauf, als das Unerwartete geschah. Schlagartig ließ der Zug am anderen Ende der Leine nach, und ich fiel vornüber. Das war nicht angenehm, ersparte mir aber eine unliebsame Begegnung mit dem schweren Blei. Mit einem scharfen Laut zischte es an mir vorbei und verschwand in der flimmernden Dunkelheit des Abendhimmels. Es flog zielsicher in die Richtung, aus der das leise Schellen von Schlittenglocken zu vernehmen war. Dann folgte ein dumpfer Schlag, als sei es gegen irgendetwas gestoßen. Vom Himmel hoch ertönte ein unterdrückter Schrei, dann fiel etwas Rotes herab und landete in einer der Schneewehen, die der Wind mittlerweile aufgetürmt hatte.

Meine Hosenbeine waren im Nu steifgefroren, doch stakste ich zu dem weißen Haufen hinüber und fing an, das merkwürdige Ding auszugraben, das da vom Himmel gefallen war. Ich hoffte, dass es kein teurer Satellit gewesen war, doch andererseits beruhigte mich die Überzeugung, dass kein Angelblei so hoch fliegen konnte. Ich zerrte und zog an einer roten Mütze, griff auch in den mächtigen weißen Bart und langsam kam ein alter Mann mit leichtem Übergewicht zum Vorschein. Ganz offensichtlich war er ohnmächtig, und ich wünschte, irgendjemand würde jetzt hier vorbeikommen, um mir zu helfen.

„Halt! Was machen Sie da?”, ertönte hinter mir eine scharfe Stimme. Ich blickte mich um. Eine Handvoll Bundeswehrsoldaten war im Anmarsch. Sie mochten von der nahe gelegenen Radarstation kommen und der erste von ihnen hob abwehrbereit seine Schneeschaufel. Offenbar schien ihr Motto das der Pfadfinder zu sein. „Allzeit bereit, zu jeder Jahreszeit!”

„Wonach sieht es denn aus? Ich habe mit meiner Angel irgendwas vom Himmel gefischt. Helfen Sie mir mal, alleine kriege ich den Kerl nicht aus der Schneewehe.”

Man musste nur klare Anweisungen geben, dann wurden auch keine dummen Fragen gestellt. Hilfreiche Hände packten zu, und gemeinsam zogen wir den vom Himmel Gefallenen aus dem Schneehaufen.

„Wenn das nicht der Weihnachtsmann ist...”, murmelte der Soldat, den ich bereits auf dem Herweg als Wachhabenden am Tor der Station gesehen hatte. Ich schaute ihn groß an, und mein Blick verhieß nichts Gutes. Weihnachtsmann! Der wollte mich wohl veräppeln. Bevor ich jedoch etwas erwidern konnte, packten Soldatenfäuste zu. Sie hoben den Rauschebart hoch und schleppten ihn zum Stützpunkt. Ich hatte Mühe, ihnen mit meiner steifen Hose und der halben Ostsee in den Stiefeln zu folgen. Schließlich hakten mich zwei freundliche Bundeswehrkameraden rechts und links unter, hoben mich ein wenig an und trugen mich das letzte Stück des Weges. Mein gesamter Unterkörper war völlig vereist.

In der Wachstube am Tor schälten sie den Rotgekleideten und mich aus den Klamotten, und verschwanden mit ihnen.

„Wir haben Wäschetrockner hier, das geht recht schnell, dann können sie sich wieder anziehen. Bis dahin nehmen Sie die hier”, meinte der Wachhabende und reichte uns ein paar warme Wolldecken. Der alte Mann mit dem weißen Bart und der roten Unterwäsche fasste sich stöhnend an den Kopf, wo eine dicke Beule auf seiner Stirn prangte.

„Wenn ich nur wüsste, was mich aus meinem Schlitten geworfen hat”, murmelte er. Sein Blick fiel auf mich und meine Angelrute. „Hmmm”, machte er nachdenklich.

„Ich schwöre, ich habe daran keine Schuld”, beeilte ich mich zu versichern. Doch so wirklich schien er mir nicht glauben zu wollen. Ich begann, die ganze Geschichte zu erzählen und berichtete von dem unsichtbaren Riesenfisch, der meine Rute fast zerlegt hatte.

Man hatte uns heißen Tee mit Rum gebracht, und langsam kehrte das Gefühl in meine Beine zurück. Auch der Weihnachtsmann ließ sich nicht bitten und leerte seinen Becher. Etwas schien ihn zu beschäftigen, denn er machte einen abwesenden Eindruck.

„Das habe ich schon von vielen Anglern hier gehört. Und mir selbst ist es auch schon passiert”, sinnierte der Torwächter. „Das Ungeheuer von Staberhuk hat also wieder einmal zugeschlagen.”

„Ungeheuer?”, klang es wie im Chor aus meinem und dem Munde des Weihnachtsmannes.

„Ja, Ungeheuer. Noch niemand hat es zu Gesicht bekommen, aber gelegentlich beißt es an den Angelruten an. Es hat bereits viele zerbrochen, unzählige Ruten in die See gezogen, meistens jedoch reißt es sich wieder los, bevor man es auch nur in Sichtweite bekommt. Niemand kann sagen, was es ist. Treibende Bäume, die sich in den Leinen verfangen, Heringshaie oder etwas noch Größeres!”

Unsere Sachen waren trocken und wir schlüpften hinein. Ah, mollig warm waren sie noch. Nur meine Stiefel trieften vor Nässe. Ich erhielt leihweise ein paar „Knobelbecher” in meiner Größe und versprach, sie in den nächsten Tagen wieder vorbeizubringen. Der Abschied war kurz, auf einen gellenden Pfiff des Alten hin ertönte das Klingen von kleinen Glocken und vor dem Tor der Radarstation landete ein Schlittengespann. Geduldig warteten die Rentiere bis ihr Kutscher eingestiegen war. Der Alte winkte uns zu.

„Wir sehen uns in nächster Zeit ja des Öfteren!”, rief er gutgelaunt. „Ich habe ab morgen 364 Tage Urlaub und hier ist ein interessantes Angelrevier! Hahaha! Fröhliche Weihnachten!”

Die Rentiere zogen an und der Schlitten hob ab. Wir standen inmitten der weißen Pracht vor dem Tor und wenn nicht ganz deutlich die Spuren des Schlittens im Schnee gewesen wären, ...!

„Unglaublich!”, murmelte ich. Der Wachhabende grinste nur.

„So unglaublich, wie die Geschichte vom Ungeheuer von Staberhuk? Nein, nicht ganz. Tatsächlich verfolgen wir in jedem Jahr zu Weihnachten den Weg des Weihnachtsmannes am Himmel auf unserem Radargerät. Es ist schon toll zu sehen, wie er hoch über uns durch die Nacht flitzt. Na, er hat ja auch allerhand zu tun. Übrigens, volle Deckung. Da kommt unser Weihnachtsessen!”

Der Wachmann zog mich unter ein Vordach und am Himmel ertönten erneut die Schlittenglocken. Ein hohles Sausen lag in der Luft, dann plumpste ein Netz aus der Dunkelheit und landete genau vor der Radarstation. Es war voller prächtiger Dorsche und Schollen. Lautes Gelächter verlor sich in der Dunkelheit.

„Das macht er immer so", erklärte der Wachhabende. „Dürfen wir Sie zum Essen einladen? Der Grill steht schon bereit, und es ist genug für alle da.”

Ich willigte dankbar ein und war mir sicher, dass dies der Beginn einer langen Freundschaft war. Was konnte man sich Schöneres zu Weihnachten wünschen?

Der kleine Paul

Von Klaus-Dieter Welker

Wollte man den Statistiken Glauben schenken, dann gab es ihn eigentlich nicht. Junge Studenten hatten sein Dasein unmöglich gemacht. Mit spitzer Feder, mit Hochleistungsrechnern und anderem intelligenten Unfug hatten sie errechnet, wie schnell er sein musste, um jedes Kind an Weihnachten zu bescheren. Wie viele Rentiere er vor seinen Schlitten spannen musste, um die ganzen Geschenke in der Christnacht transportieren zu können, und dass diese – und dann auch er – bei der errechneten wahnwitzigen Geschwindigkeit letztendlich verdampfen würden. Er schüttelte den Schnee von seinem Mantel und schaute auf seine Rentiere. Natürlich „dampften“ sie ein wenig. Das war ja auch kein Wunder, die kalte Luft ließ den Atem vor ihren Mäulern kondensieren. Aber von einem „Verdampfen“ konnte gewiss keine Rede sein.

Was wussten diese jungen Hüpfer schon von den Wundern der Weihnacht? Bei ihnen musste alles berechenbar, messbar und in Zahlen belegbar sein. Da fing das ganze Unglück ja an. Kaum waren die Menschen alt und klug genug, um zu rechnen und zu schreiben, begannen sie, sich als „allwissend“ zu betrachten. Und je älter und „klüger“ sie wurden, desto weniger glaubten sie an die Wunder dieser Welt. Es war also nur eine Frage der Zeit bis sie auch ihn aus ihren Gedächtnissen gerechnet hatten, keine Briefe mehr mit ihren großen und kleinen Wünschen an ihn schickten und darauf vertrauten, dass er sie, so gut es eben möglich war, erfüllen würde. Und gar zu viele erzählten ihren Kindern überhaupt nicht mehr von ihm, sondern mieteten sich gleich einen „Weihnachtsmann“, der ihn ersetzen sollte. Vielleicht würde es nicht mehr lange dauern, bis er überflüssig wurde.

Nein, das waren zu trübe Gedanken für diese Nacht. Noch war es nicht so weit, noch gab es Menschen, die an ihn glaubten. Und die wollte und durfte er nicht enttäuschen. Er schaute auf seine Liste, die in den letzten Jahren immer kürzer geworden war. Da mussten diese jungen Studenten mal dringend ihre Berechnungen aktualisieren, dachte er wehmütig schmunzelnd. Die Zahlen, die sie zugrunde gelegt hatten, waren längst überholt. Ja, früher einmal...

„Ach was, hör auf damit“, schimpfte er sich selbst.

Der nächste auf seiner Liste war Paul. ‚Sankt-Vincent-Heim‘ hatte in Schönschrift auf dem Brief gestanden, der an ihn adressiert gewesen war. Das war selten geworden; inzwischen schrieben ihm die Menschen mit Computern oder Schreibmaschinen. Oder sie legten ihren Wunschzettel auf das Fensterbrett – falls sie ihn nicht gleich ihren Eltern, Ehegatten oder sonstigen Verwandten gaben, damit die wussten, was sie im nächsten Juwelier-, Spiele- oder Geschenkladen einzukaufen hatten.

„Lieber Weihnachtsmann“, hatte in dem Brief von Paul gestanden, „ich wünsche mir so sehr, dass Heinrich wieder eine gute Arbeit findet, damit Ulrike nicht mehr arbeiten muss und wieder mehr Zeit für mich hat. Und dass ich dann vielleicht wieder nach Hause kann. Ich vermisse die beiden so sehr. Hier bin ich ganz allein, obwohl ganz viele andere auch hier sind. Aber die haben meistens keine Zeit für mich. Die meiste Zeit bin ich alleine in meinem Zimmer und nach draußen darf ich nur, wenn eine Schwester dabei ist. Aber die müssen sich ja noch um so viele andere kümmern. Bitte, bitte! Du kannst bestimmt eine Arbeit für Heinrich finden. Und wenn das nicht geht, könntest du dann vielleicht machen, dass sie mich öfters besuchen kommen?

 

Viele Grüße an das Christkind. Dein Paul.“

Der Brief war ordentlich und ohne Fehler geschrieben. Entweder ist er ein kluges Bürschchen, oder es hat ihm einer geholfen, dachte er. Nur die Wasserflecke unter „Dein Paul“ passten nicht dazu.

„Tränen“, dachte der alte Mann. Er hatte lange gegrübelt, als er den Brief gelesen hatte. Nein, ein Paul aus einem ‚Sankt-Vincent-Heim‘, war ihm nicht bekannt. Er hatte sich auch die Briefe der letzten Jahre angeschaut. Da war keiner von dem kleinen Paul dabei. Es schien also ein neuer „Kunde“ zu sein. Da musste er sich besondere Mühe geben.

Das ‚Sankt-Vincent-Heim‘ lag abseits der kleinen Stadt. Die meisten Fenster waren dunkel; nur im Treppenhaus brannte Licht. Es war wohl nur eine kurze Weihnachtsfeier gewesen und die Kinder lagen bestimmt schon in ihren Betten. Eigentlich schade, aber es erleichterte ihm seine Aufgabe, ungesehen dort hinein zu kommen. Ach Quatsch – sehen konnten ihn ja doch nur jene, die auch an ihn glaubten. Und außer von dem kleinen Paul hatte er keinen Brief oder Wunschzettel erhalten.

Entgegen der weit verbreiteten Meinung, er müsste durch den Schornstein rutschen, um in ein Haus zu kommen, hatte er das nicht nötig. Geschlossene Türen gab es für ihn nur dort, wo er nicht erwünscht war. Und so spazierte er durch die große Eingangstür, die sich bereitwillig vor ihm öffnete, stiefelte an der verglasten Empfangsloge vorbei, in der eine ältere Dame in einem Modemagazin blätterte und stieg unbemerkt die breite Treppe hinauf. Das war auch eines der Dinge, die sich die jungen Studenten, die ihn aus dieser Welt heraus gerechnet hatten, nicht erklären konnten, dachte er. Er fand seinen Weg ohne neumodische Navigationsgeräte oder Wegbeschreibungen. Sein „Navi“ – wie sie es nannten – war sein Herz, sein Gespür und sein Wunsch, die Menschen an diesem Tag glücklich zu machen. Nun, besser wäre es noch, sie für längere Zeit zu beglücken. Aber das gelang nicht immer. Die Menschen standen ihrem Glück oftmals selbst im Wege.

Oben begegnete ihm eine ältere Dame im weißen Kittel, die mit ärgerlichem Gesicht und einer Garnitur frischer Bettwäsche an ihm vorbei eilte, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu bedenken. Dabei war er ein stattlicher Mann und in seinem rotem Mantel, seinem langen, weißen Bart und dem großen Sack über seiner Schulter gewiss ein ungewöhnlicher Anblick. Schon wieder eine, die nicht an ihn glaubte.

Grummelnd verschwand die Weißbekittelte in einem der Zimmer. Da war wohl einem der Kleinen ein Unglück passiert. Eigentlich kein Grund, mit so bösem Gesicht durch die Gänge zu streifen, dachte er. Wem war das als Kind nicht passiert? Außerdem war Weihnachten. Das Fest der Freude. Aber hier in diesem „Heim“ war wenig davon zu spüren. Vielleicht – ja, vielleicht müsste er hier öfters einmal vorbeischauen. Und wenn er dann doch durch den Schornstein rutschen musste, weil er „unerwünscht“ war: nun, dann müsste er es eben tun. Da hätten die jungen Herren Studenten dann wieder genügend zu berechnen, um die Unmöglichkeit zu beweisen, dass ein Mann mit seiner Statur durch die heutigen Schornsteine passte. Und ob er das schaffen würde.

Er schritt weiter durch den langen Gang, der nur dürftig von einer Notbeleuchtung erhellt wurde. Er war fast da, das spürte er ganz deutlich. Dort, hinter der nächsten Tür, wartete der kleine Paul auf ihn, der wohl auch sein Kommen spürte, denn noch bevor er sie erreichte, wurde sie von innen geöffnet.

Ein paar große, vor kindlicher Freude strahlende Augen starrten ihn an. Pauls Mund stand vor Staunen ein wenig offen, als er den Weihnachtsmann erblickte. Dann legte er schnell einen Zeigefinger vor die Lippen um ihm zu bedeuten, ja leise zu sein und winkte ihn aufgeregt in sein Zimmer.

„Die Schwestern schimpfen bestimmt, wenn sie dich sehen“, flüsterte er. „Nach dem Zu-Bett-Gehen darf nämlich keiner mehr in die Zimmer kommen.“

Hastig zog er die Tür hinter sich ins Schloss und strahlte den Weihnachtsmann wieder an.

„Ich habe ganz fest daran geglaubt, dass du kommst“, wisperte er glücklich. „Ich bin extra wach geblieben. Und ich habe auch Milch und Kekse für dich. Die Milch ist aber noch vom Frühstück; abends bekommen wir keine mehr. Hoffentlich ist sie noch gut. Sie stand den ganzen Tag vor dem Fenster, damit sie nicht sauer wird.“ Er kicherte fröhlich. „Aber die Schwester ist ein bisschen sauer geworden als sie gemerkt hat, dass ein Milchkännchen fehlt. Aber morgen bringe ich es ja wieder zurück. Das ist doch nicht schlimm, oder?“

Erwartungsvoll schaute er den Weihnachtsmann an, der sprachlos und mit vor Staunen offenem Mund vor ihm stand.

„Ääh, nein. Ganz bestimmt nicht.“

Mehr brachte er erst einmal nicht heraus.

„Setz dich doch“, sagte Paul und deutete auf einen alten Sessel, der vor dem Fenster stand und ließ sich selbst auf sein Bett plumpsen. Doch sofort stand er wieder auf und eilte zu dem kleinen Fenster.

„Die Milch“, haspelte er aufgeregt und holte ein Blechkännchen vom Fensterbrett. Dann huschte er zum Nachttisch und kramte eilig ein paar in eine Serviette gewickelte Kekse aus der Schublade. Aus einem kleinen Spind holte er eine Tasse und einen Teller, goss die Milch ein und drapierte die Kekse liebevoll auf dem Porzellan.

„Die habe ich leider nicht selber gebacken. Das dürfen wir nicht, sagen die Schwestern. Die halten uns für zu dumm dafür. Dabei habe ich das früher immer selber gemacht. Mit Ulrike, als sie noch ein Kind war. Wir hatten ja nicht so viel Geld, um alles zu kaufen. Außerdem war es so viel schöner. Da haben wir uns schon wochenlang auf Weihnachten freuen können, wenn es im ganzen Haus nach frisch gebackenen Plätzchen und Keksen duftete. Meine Frau hatte es ja nicht so mit dem Backen und als sie gestorben war, da habe ich es gelernt. Und Ulrike hat es dann von mir gelernt. Sie backt die besten Plätzchen auf der ganzen Welt.“

Paul schaute den Weihnachtsmann traurig an.

„Naja, das ist nun leider alles nicht mehr möglich. Weißt du...“

Die Freude verschwand aus seinem Gesicht und damit alles Kindliche, das vorher dort gewesen war. Da saß er nun vor ihm, ein alter Mann in einem alten Schlafanzug. In einem lieblosen Zimmer mit kleinem Fenster, ohne Hoffnung und so voller Traurigkeit, dass dem Weihnachtsmann das Herz weh tat. Der „kleine Paul“, der ihn vorhin so glücklich in sein Zimmer gewunken hatte, er war verschwunden. Und der alte Mann vor ihm erzählte traurig weiter:

„Weißt du, manchmal bin ich wieder wie ein kleines Kind. Dann vergesse ich alles, weiß nicht mehr, wie ich heiße, wo ich wohne, wie ich meine Schuhe zubinden soll. Oder sogar, was Schuhe überhaupt sind. Und dann kann ich nicht alleine sein. Dann muss jemand auf mich aufpassen, sich um mich kümmern. Das hat Ulrike immer getan. Sie ist ein gutes Kind. Aber dann wurde Heinrich arbeitslos und sie musste arbeiten. Er ist auch ein guter Mann, hat sich immer um mich gesorgt. Aber so ganz gesund ist er auch nicht mehr. Das ging einfach nicht, als Ulrike arbeiten gehen musste und den ganzen Tag auf den Beinen war. Heinrich alleine hat es einfach nicht geschafft. Sie wollten beide nicht, dass ich hierher komme. Aber ich habe ja doch gemerkt, dass es so nicht weitergeht...“

Wieder schwieg er und ein paar Tränen kullerten über seine Wangen.

„Besuchen können sie mich auch nicht so oft. Dafür ist es zu weit. Und die Bahnfahrt kostet so viel. Und es ist auch immer so traurig, wenn sie wieder weg müssen. Dann weinen wir alle. Das tut mir am meisten weh. Wenn ich sehe, wie traurig die beiden sind.“

Schweigend sahen sich beide an. Was sollte er da nur tun, fragte sich der Weihnachtsmann. Wie konnte er nur helfen? Und wollten die beiden – Heinrich und Ulrike – wirklich, dass der alte Paul wieder zu ihnen kam? Das war ja das Wichtigste.

„Und da hast du mir geschrieben?“, fragte er Paul.

„Ja. Das war die Idee von Ulrike. Als ich mal wieder nicht so richtig im Kopf war, naja, als ich wieder wie ein Kind war. Das war wohl so vor drei Wochen. Da waren die beiden nämlich zu Besuch. Und da hat sie gesagt: Schreib doch an den Weihnachtsmann. So wie früher, als du noch klein warst. Da hast du auch immer einen Wunschzettel geschrieben, so wie ich selber. Vielleicht kann er ja helfen. Das hat er immer gemacht. Und dann hat sie noch gesagt: Wir schreiben selber auch einen Wunschzettel an ihn. Dann haben wir uns hier an den Tisch gesetzt und geschrieben.“

„Sie hat auch einen Wunschzettel geschrieben?“, fragte der Weihnachtsmann.

„Ja, das hat sie. Ich weiß natürlich nicht, was darin stand. Das muss ja ein Geheimnis bleiben. Aber das weißt du ja am besten.“

„Das sollte ich wohl wissen“, erwiderte der Alte im roten Mantel, während er in seinen großen Taschen kramte. Wo hatte er nur die Liste mit den Wunschzetteln hin gesteckt? Wahrscheinlich wurde er langsam auch ein wenig alt und vergesslich. In der letzten Tasche fand er ihn endlich und fuhr mit dem Finger über die Namen.

„Karl-Heinz, Fritz, Klaus-Dieter, Marina, Nathalie......“, murmelte er leise vor sich hin. „Da! Ulrike.“

Hoffentlich war es die Richtige. Er suchte noch schnell den passenden Brief dazu. Eine säuberliche Handschrift. Schönschrift. Das musste sie sein.

„Lieber Weihnachtsmann“, stand da. „Ich habe dir lange nicht mehr geschrieben. Aber heute muss ich es einfach tun und ich hoffe, dass du meinen Brief auch liest. Früher hast du es immer getan, aber da ich leider so lange nicht mehr an dich gedacht habe, weiß ich nicht, ob du mich nicht vergessen hast. Ich hoffe, dass du auch für uns Erwachsene noch da bist.

Ich habe nur einen Wunsch an dich. Einen ganz großen. Ich möchte meinen Papa Paul wieder haben. Er lebt im Sankt-Vincent-Heim. Wir alle, ich, mein Mann Heinrich und mein Papa sind sehr traurig, dass wir nicht mehr zusammen sind. Mein Papa ist schon 82 Jahre alt und hat Demenz. Manchmal vergisst er alles. Aber das ist nicht so schlimm für uns. Das Getrenntsein ist viel schlimmer. Er wollte uns keinen Kummer machen und deshalb ist er in das Heim gezogen. Weil er Angst hatte, dass uns alles zu viel wird, weil ich arbeiten muss und Heinrich nicht ganz gesund ist.