Als hätten sie Land betreten

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Aber nicht die Nähe

Veza

Hier haben sie es verknetet, das Leben mühsam zusammengehalten, soviel sich davon in der Kürze einsammeln ließ.

Im Hause Herczeg nahm man die Bedrohung nicht ausreichend ernst. Man hatte Bekannte, die sich Visa für eine Ausreise verschafft hatten, die nichts anderes als eine Flucht war, und man hatte Bekannte, die davon abrieten, die nichts Gutes zu berichten wussten. Sie erzählten, dass man sie dort, in den anderen Ländern, ebenfalls schlecht behandle, dass man vor ihnen Angst habe, sie interniere und für Spione hielte. Dass man sie nach Belieben weiterverschicke und sich aus der neuen Heimat keine Heimat machen ließe. Sie waren unschlüssig und blieben, hielten an dem fest, was sie kannten und ihr Eigentum nennen konnten. Dass selbst diese Selbstverständlichkeiten bald keine mehr wären, lag jenseits ihrer Vorstellungskraft. Herr Herczeg hatte im ersten Weltkrieg als Soldat gedient. Er war für seinen Verdienst um das Vaterland ausgezeichnet worden, dieser Einsatz musste Gewicht, musste eine Bedeutung haben. Darauf vertraute man, auf etwas musste man sich verlassen können.

Veza wollte sich nicht verlassen, sie hatte sich umgehört. Man hatte ihr von einem Pfarrer erzählt, der Juden taufte und sich, entgegen der Vorschrift, dafür einsetzte, dass im Taufbuch nicht explizit die israelitische Herkunft angeführt wurde. Veza war gerade achtzehn, sie liebte ihr Leben und sie liebte Lotti. Sie war nicht bereit, auf ihr Leben oder auf Lotti zu verzichten. Sie verrannte sich in die Vorstellung, gerettet zu werden, obwohl sie wusste, dass Rettung höchstens eine Möglichkeit, nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit war. Es war besser, als untätig auf ein Wunder zu warten. Und obwohl es sich wie ein Sprung vom Dreimeterbrett anfühlte, ohne die Tiefe des Beckens zu kennen, sprang Veza. Sie tauchte ein in die neue Religion, tauchte ein in den Geruch von Weihrauch, in das kalte Taufwasser, in das weiche Gefühl des Chrisams auf ihrer Stirn, ins Widersagen und in ein fremdes Glaubensbekenntnis. Es war dunkel, es war stimmungsvoll, und Veza gefiel, was sie sah, ihr gefiel, was sie hörte und fühlte.

Vezas Eltern gefiel nicht, was sie hörten, als sie von ihrer Tochter vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Für die Mutter war es ein Schock, sie ging so weit, die eigene Tochter als Apostatin hinzustellen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich geweigert, das abtrünnige Kind als das eigene anzusehen. Lange prasselten die Vorwürfe auf Veza an dem Abend ein, als sie die Eltern eingeweiht hatte. Habe sie nicht verstanden, dass die Geschichte der Juden eine endlos sich wiederholende Geschichte von Flucht und Vertreibung, von Verfolgung und Auswanderung sei, dass es umso wichtiger sei, sich als Teil dieser Schicksalsgemeinschaft zu fühlen und sich zu deklarieren, Position zu beziehen und nicht fahnenflüchtig zu werden? Was erwarte sie von der Taufe? Denke sie, man könne einen neuen Glauben nach Belieben überziehen und den alten, einem abgetragenen Pullover gleich, abstreifen?

Veza wartete ungeduldig, bis die Mutter Unverständnis und Verunsicherung aus sich herausgeschrien hatte. Sie hoffte auf ein milderes Urteil, vielleicht sogar auf Verständnis seitens des Vaters. Sie fixierte seine Hände, die nebeneinander auf dem Tisch ruhten. Sie strahlten jene Ruhe und Sicherheit aus, die sie kannte. Sie wusste, wie zart diese Hände über den Stoff glitten, wie behutsam sie seine Struktur erkundeten, Leinen und Seide, Kaschmir und Baumwolle. Dass sie so groß und gleichzeitig so einfühlsam sein konnten. Oft hatte Veza sie dabei beobachtet, wie sie Schnitte an die Stoffe hefteten, bevor die Schneiderkreide den Rändern entlang ihre weiße Spur ziehen durfte. Er erzählte dabei von der langen Reise der Stoffe, von den Tieren, deren Rasse, Herkunft und Ernährung die Beschaffenheit des Tuches beeinflussten, von den spinnfähigen Haaren und den Fäden, die man in der richtigen Stärke und Festigkeit zwirnen musste, und vom Weben. Nur wenn Kett- und Schussfäden richtig verwoben wären, erhielte man das wahre Tuch. Es schmiege sich an den Körper wie eine zweite Haut.

Tatsächlich mahnte er jetzt zur Besonnenheit, in schweren Zeiten sei es schwer, das Rechte zu tun. Damit war vorläufig alles gesagt.

In der Nacht untermalte das Surren der Nähmaschine ihre Gedanken, doch der Schlaf ließ sich nicht nieder, er zog bloß fahrig über sie hinweg.

Tiefer und tiefer tauchte Veza in die neue Religion. Sie erfasste die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Seelenwelt, die Farbenpracht ihrer Bilder und die Weisheit dieses im Unendlichen wohnenden Glaubens. Sie erkannte, dass der Teufel die Welt regierte, und eine wilde und innige Frömmigkeit ergriff sie. Sie öffnete sich für neue, geheimnisvolle Erfahrungen, sie betete und befragte Gott, was der Sinn des Lebens sei. War es die auf die äußere Form bedachte Schönheit oder war es die Güte, für die nichts als der Inhalt zählte. Und wie konnte es sein, dass der Mensch ein böses Geschöpf war und doch nicht böse sein wollte. War der Mensch möglicherweise nicht die Krone der Schöpfung sondern eine Missgeburt?

Sie besuchte die katholischen Gottesdienste. In die hinterste Reihe gekauert, ließ sie sich mitreißen vom monotonen Gemurmel der Gläubigen, von Dunkelheit und Mystik, von Transzendenz und Transsubstantiation, von den Mahnungen und von der Aussicht auf eine alles umfassenden Vergebung. Lamm Gottes, nimm hinweg die Sünde der Welt, wandle Brot in Leib und Alleinsein in Gemeinschaft, wandle Wein in Blut und Ängstlichkeit in Zuversicht.

Veza lag weit unten, fast lag sie am Boden, sie erkannte noch einen Halm, und nach dem wollte sie greifen. Sie schaffte Hindernisse aus dem Weg, bereitete den Boden auf und ihre Schritte vor. Schon wurde das Ziel deutlicher, es war ein geschützter Raum, ein Raum außerhalb der Wirklichkeit, ein sicherer Hafen.

Veza war stolz, sie würde ihren Weg gehen. Sie brauchte ihre Familie nicht, eigentlich hatte sie ihre Familie nie gebraucht. Immer waren sie geschäftig, man hatte Marillen oder Kirschen bekommen, man musste die Birnen und Äpfel versorgen, musste einkochen und einlegen, Kompotte und Marmeladen, Quittengelee und Powidl. Man bekochte die Großfamilie, bewirtete und bediente, alle waren sie gesellig. Wir sind so viele, stellten sie zufrieden fest und blickten in die Runde. Sie waren unerträglich spontan, plötzlich stand töpfeweise Essen auf dem Herd, Suppen und Eintöpfe, Strudelteig wurde gezogen, Streusel und Kaffeebohnen geröstet, Nachtisch folgte auf Nachschlag und nach dem Süßen der mit reichlich Zucker angesetzte Kaffee. Der Familie schmeckte es, die Familie war wunderbar. Geschichten türmten sich über dem Tisch, sie drängten aus den wohlig gefüllten Bäuchen, am liebsten sprach man von damals, von der guten alten Zeit, eine Heerschar von Tanten und Onkeln, Cousinen und Großeltern, die ganze Mischpoche zog an den Bänken vorüber, machte Rast und brach wieder auf, während die Nächsten ihren Platz einnahmen. Und immer hatte jemand Geburtstag, und immer blieb einer ewig sitzen und hörte nicht auf zu reden, man kannte sie, die Sitzenbleiber, aber so unhöflich durfte man nicht sein, dass man mit dem Aufräumen begann, bevor sich der letzte Gast verabschiedet hatte.

Veza hasste die betuliche Hektik, es war ihr von allem zu viel, zu viel Wirbel, zu viel Essen, zu viel Lärm. Warum aufwendig kochen, wenn sie vom Einfachen satt wurden, wozu das sich Ereifern, das Beklatschen und Schulterklopfen, wozu all das Unnötige breittreten. Und doch die geheime Freude, am nächsten Tag erzählen zu können, ich bin müde, wir hatten am Abend Gäste. Das klang so normal.

Die Mutter teilte ihre drei Mädchen ein. Sie schnipselten Zwiebel und Paprika für Letschos, Orangen und Äpfel für Obstsalate, sie schleppten sauberes Geschirr von der Kredenz zur Tafel und das gebrauchte zurück in die Küche. Sie halfen beim Abwasch und kratzten die Reste von den Tellern, den abgestandenen Geruch der eingetrockneten Saucen und zurückgelassenen Beilagen fanden sie widerlich. Am nächsten Morgen übernächtig und nüchtern in der unaufgeräumten Küche zu stehen, war jedoch für die Mutter undenkbar.

Ein Glück, dass die Töchter hilfsbereit waren, von ihrem Mann konnte sie das nicht behaupten. Die Nachlässigkeit und provozierende Langsamkeit, die er an den Tag legte, wenn er ihr ausnahmsweise im Haushalt an die Hand ging, waren aufreizend. Als sei jeder Handgriff, jede Bewegung eine Überforderung. Als wisse sie nicht, wie flink und präzise, geradezu pedantisch er mit Nadel und Faden war, wie seine Aufmerksamkeit der kleinsten Unebenheit nachspürte, dem Faltenwurf, dem falschen Nadelstich, der zu großen Öse. Übergenau war er, seine Arbeit musste höchsten Ansprüchen genügen. Als sei ihre Arbeit es nicht wert, dass man Ansprüche stelle. Lustlos und halbherzig war seine Unterstützung, und halbfertig, nie zu Ende geführt, ein stummer Protest. Diese Wand aus Gleichgültigkeit. Hätte sie denselben Minimalismus angewandt, wären ihnen Ordnung und Sauberkeit abhandengekommen. Die Weinflaschen spülte er nicht aus, die Balken zum Balkon öffnete er nie bis zum Anschlag, die Gießkanne blieb halbvoll in der Badewanne stehen, und an den leeren Saftsteigen stieß sie sich so oft den Fuß, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und ihn anschrie. Erst danach trug er sie murrend in den Keller. Ihre Gäste jedoch verwöhnten sie stets mit einem zuvorkommenden Lächeln.

Was war er für ein Mann gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Hätte sie ihn gebeten, Gewichte für die Wasserwaage zu besorgen, hätte er aus seinen klaren, dunklen Augen auf sie herabgeblickt und geantwortet, ihr Wunsch sei ihm Befehl. Er hätte sich etwas einfallen lassen, einen Schwank, einen Vers vielleicht, mit dem er auf ihre Torheit gekontert hätte. Er fuhr ihr nach, wenn sie mit ihren Eltern auf Sommerfrische war und nahm sich ein Zimmer in der Nähe, um ihr beim Nachmittagskaffee seine Aufwartung zu machen. Er hatte nie einen Jahrestag vergessen, nicht den ersten Kuss, nicht das Anhalten um ihre Hand und nicht die Verlobung. Er umgab sie mit unaufdringlicher Nähe, war feinfühlig und aufmerksam.

 

Sie wusste nicht, wann und wie ihnen das entglitten war. Das erste Vergessen, möglich, dass sie beide vergessen hatten, anderes drängte in den Vordergrund, drängte ihr Miteinandersein in den Hintergrund. Die Arbeit, der Haushalt, die Familie. Und keine Zeit für die Liebe. Das war bedauerlich. Der Gedanke, ein Kind zu verlieren hingegen, war qualvoll. Bitter enttäuscht war sie, das hatte sie nicht verdient. Alles hatte sie den Kindern gegeben, ihren Körper, ihren Schlaf, ihre Jugend, die besten Jahre hatte sie ihnen geschenkt und war darüber alt geworden. Dass ihr nichts bleiben sollte, nur das Geben, dass sie nichts fordern durfte. Warum konnte nicht er gehen. Sie hätten sich durchgeschlagen, wären bei der weitläufigen Verwandtschaft untergekommen, sie hätten zusammengehalten. Das Mädel haut einfach ab, will ins Kloster. Wirft mit Begriffen um sich, Postulat, Noviziat, Profess. Ein Gelübde wolle sie ablegen, das Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit. Und einen neuen Namen wählen. Als sei ihr Name nichts wert. Dann solle sie halt gehen, dann solle sie halt ein anderer Mensch werden, wenn sie das für möglich hielte, sie würde sie nicht aufhalten. Das hatte sie ihr an den Kopf geworfen, als sie sich nicht mehr beherrschen konnte, als sie es nicht mehr ertragen konnte, in das Gesicht ihrer Tochter zu blicken, das ihr so fremd geworden war. Er schlug sich auf Vezas Seite, wie immer, es gehe um den Glauben. Von wegen Glauben, Flausen waren das, und nicht einmal Flausen, dazu waren die Konsequenzen zu schwerwiegend. Das Kind entschied, das Kind ging, und sie durften ihm dabei zusehen. Das hatte sie nicht verdient.

Der erste Gedanke, der Lotti kam, war, dass sie das nicht verdient hätte. Sie konnte die Tragweite der Neuigkeiten nicht verstehen. Sie versuchte einen anderen Zugang, näherte sich aus der Perspektive der Erwachsenen, bei denen sie Schutz suchen wollte.

Was sagen deine Eltern dazu?

Veza wehrte ab, die Eltern spielten keine Rolle mehr.

Sie versuchte es erneut, umkreiste in Gedanken den Satz, den Veza ihr hingeworfen hatte, sie werde in den Karmel eintreten, und bekam ihn nicht zu fassen. Nur im Hintergrund des Bewussten war etwas aus dem Gleichgewicht geraten.

Immer bestimmst du!

Nicht ein einziges Mal habe Veza sie nach ihrer Meinung gefragt, nie hätten sie gemeinsam darüber gesprochen.

Ich konnte es nicht.

Sie habe diese Entscheidung für sie beide getroffen, das müsse Lotti ihr glauben. Lotti wisse nicht, wie es sei, in der Unscheinbarkeit zu leben, sie kenne nicht das Aufden-Boden-Schauen und Sich-unsichtbar-Machen. Was könne sie sich von dieser Zukunft erwarten?

Sie wisse tatsächlich nicht, ob es etwas zu erwarten gäbe.

Sie hätten alles vor sich.

Daran zu glauben, fiele ihr jetzt sehr schwer.

Mit dem ersten Lichtstrahl werde sie zurückkommen, darauf gebe sie Lotti ihr Wort.

Es sei zu früh.

Was sei zu früh?

Es sei zu früh, sich Vezas Fortsein vorzustellen, diese Vorstellung mache ihr Angst. Sie hätte das Wenige nie freiwillig aufgegeben. Was bliebe ihnen nun außer Verständnis und Worten, Briefe, glattes, kühles Schriftliches, das sich nicht umarmen ließe, das in ihren Händen beim Lesen knittrig und feucht werde, das Fragen beantworte, die sie vor Wochen gestellt habe, und dennoch nicht wisse, was ihr fehle.

Veza holte zwei kleine, herzförmig Dosen aus ihrer Jackentasche, in den Deckel der beiden waren Blumen eingearbeitet. Sie öffnete sie, trat hinaus und hielt sie den Sonnenstrahlen entgegen, streckte sie den Ästen hin, die im Wind rauschten, drückte sie ans Herz und an ihren Mund, bedeckte sie fest mit beiden Händen und reichte eine Lotti.

Eine für dich und eine für mich, hier bewahren wir alles auf. Wenn wir sie öffnen, werden wir das Licht spüren und die Wärme, die Liebe und den Trost.

Aber nicht die Nähe. Wir brauchen einander doch.

Flatternde Angst

Lotti

Der Gedanke kam ihr, dass all die Pfade und der Rasen, durch und durch verquickt mit dem Leben, das sie dort geführt hatten, verschwunden waren; ausradiert waren; vergangen waren; unwirklich waren […].

Nach Vezas Abreise sperrte Lotti sich in ihrem Zimmer ein. Sie legte sich nackt auf den Boden, an der Stelle, an der die Sonnenstrahlen durch die Ritzen der geschlossenen Balken ein Muster auf ihr malen konnten. Sie fragte sich, wozu sie einen Körper habe, all die Rundungen, Hügel und Täler. Sie wusste nichts damit anzufangen. Sie spürte eine unbekannte Schwere, als stapelten sich Bleigewichte auf jedem Quadratzentimeter. Sie suchte nach den Abdrücken der Last, suchte nach Dellen und Wunden, Einschnitten und Prellungen und fand bloß ihren schlanken, intakten Körper.

Die Traurigkeit spülte Lotti fort, sie war eine Insel, die blühende Landschaft verkarstet, und zum ersten Mal war sie froh über das selbstherrliche Desinteresse, das ihr zu Hause entgegenschlug.

Man war weiter aufgestiegen in der Hierarchie der selbsternannten Größen. Gäste, denen Lotti nie zuvor begegnet war, wurden wie alte Freunde empfangen, Lottis An- oder Abwesenheit bei Tisch kaum registriert. Während sie unten lachten, hockte Lotti in ihrem Kinderzimmer. Es war ihr fremd geworden, die Einrichtung schien ihr lächerlich und unpassend, das viele Weiß und Zartrosa, Blumen rankten sich am geschwungenen Kopfteil ihres Bettes entlang. Sie lauschte der Stille, wenn es ruhig war im Haus, und verachtete die Fröhlichkeit. Dass sie froh sein konnten, wenn das eigene Kind litt. Dass sie Schuld daran hatten, dass das eigene Kind litt. Dass ihnen das eigene Kind nicht sagen konnte, wie sehr es litt.

In wenigen Tagen war Ostern. Am Ostersonntag würde Veza für das Noviziat eingekleidet, das hatte sie Lotti bei ihrer letzten Begegnung erzählt, Lotti solle, nein sie müsse, zu ihrer Einkleidung kommen. Lotti war ihr eine Antwort schuldig geblieben, sie hatte keine Antwort. Sie konnte nicht dabei zusehen, wie Veza diese befremdliche Kleidung entgegennahm, schwere, dunkle Stoffe, unter denen sie verschwand, ihr Haar und ihre schmale Gestalt, ihr Duft und überhaupt die Körperlichkeit, die sie nun verstecken, der sie entsagen musste.

Lotti hatte sich immer auf Ostern gefreut. Sie liebte das Brauchtum und die religiösen Feierlichkeiten. Jahr für Jahr fuhr sie mit ihrer Tante für die Segnung der Osterspeisen zu einer Kirche am Stadtrand. Sie liebte es, im taubengrauen Wagen der Tante durch die Straßen zu schaukeln, sie genoss das Ruckeln, wenn die behandschuhte Hand den Schalthebel umlegte, einer ungekrönte Königin gleich, stolz und souverän, steuerte die Tante ihr Gefährt. Wenn sie vor dem schweren Bau aus Sandstein, der je nach Lichteinfall rostrot oder ockerfärbig schien, einparkten, ernteten sie neidische Blicke, und Lotti schwebte erhobenen Hauptes im Dirndl hinein. Der spätgotische Innenraum mit dem Kreuzrippengewölbe fiel nicht durch seinen besonderen Schmuck auf, die gut erhaltenen gotischen Bleiglasfenster und deren Anordnung in einer Achse von Westen nach Osten, vom Abend zum Morgen, fielen hingegen ins Auge. Die einfallende Sonne reiste dieser Achse entgegen und brachte das Glas zum Leuchten. Umgeben vom gleichmäßigen Gemurmel sah Lotti zu den Fenstern hinauf, ihre Augen blieben am Blau hängen, an seinen Schattierungen, Indigoblau, Kobaltblau und Königsblau. Magisch zog diese Farbe sie an, sie stellte sich vor, ein Insekt zu sein, das dieser geheimnisvollen Lichtquelle nicht widerstehen konnte, das sie umschwirrte und nie genug bekam, davon nie satt wurde.

Ländlich war es in dieser Gegend. Riesige Körbe drängten sich am Karsamstag um den Altar, ihr Inhalt blieb unter den aufwendig bestickten Tüchern verborgen. Bald würden sie die gefärbten Eier, die Schinken und Würste, den Kren und das süße Osterbrot hervorholen. Ostern war stets verheißungsvoll gewesen, es bedeutete Freude und Hoffnung, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Dieses Jahr war alles anders, dieses Jahr blieb die Auferstehung aus.

Lotti beschloss, Ostern ausfallen zu lassen und wurde von einer neuen Nuance des Schmerzes überrascht, als die Eltern ihre Entscheidung ohne viel Nachfragen hinnahmen. Die Tante war nicht bereit, ihre Verweigerung zu akzeptieren, aber auch sie erreichte wenig, obwohl sie die Launen der Nichte mit Nachsicht und Verständnis ertrug. Von ihr kamen keine besserwisserischen Weisheiten, kein Das geht nicht, das darfst du nicht, das kommt nicht infrage, sie konterte anders, ließ Unüberlegtes gelten, warf höchstens ein Bist du dir da sicher, oder Ja, wenn du meinst ein.

Die Schwester der Mutter war unverheiratet und kinderlos geblieben. Jede Art von Abhängigkeit war ihr ungut, jede Umarmung eine Gradwanderung zwischen Besitz ergreifen und beschützt werden. Männer waren ihr zu territorial, sie markierten ihre Reviere mit großspurigen Gesten und stellten sich breitbeinig vor ihren Ehefrauen auf. Sie gehörte nur sich selbst, mehr war darüber nicht in Erfahrung zu bringen.

Die Tante war eine bemerkenswert moderne Frau zu einer Zeit, in der man es nicht gewohnt war, Frauen etwas zuzutrauen. Sie besaß einen Führerschein, später auch einen eigenen Wagen, und hatte eine Schule gegründet, in der Stenografie und Maschinenschreiben unterrichtet wurden. Sie hatte eine natürliche Begabung für Autorität, die sich mit spielerischer Leichtigkeit paarte, und beherrschte den Balanceakt zwischen Fordern und Überforderung.

Ihre Modernität endete bei ihrer Wohnung. Dunkles Mobiliar, Spitzendeckchen und erdrückende Ölgemälde, dazu eine Beleuchtung, die die Wahl ließ zwischen blendender Helligkeit und ermüdendem Halbdunkel. Die Zimmer waren schlecht gelüftet, die Luft abgestanden, es roch immer nach Essen und Alter, selbst als die Tante noch jung war. Ihre Abende und Wochenenden verbrachte sie mit Kreuzworträtseln, mit dem Häkeln und Besticken von Kissenbezügen und mit Büchern.

Lotti kam gerne zu Besuch. Sie durfte die Tante zur Arbeit begleiten und erhielt eine Gratislektion im Maschinenschreiben. Es faszinierte Lotti, mit welcher Geschwindigkeit die Tante die Tasten bearbeitete, wie sie die Buchstaben durch die Mechanik treffsicher aufs Papier hämmerte und daraus Texte entstanden. Alles ging ihr schnell von der Hand, und Lotti hechelte atemlos hinterher. Der Luftstrom, der ihren Körper umgab, war beinahe sichtbar, er strömte den Beinen entlang aufwärts, bremste unter den Achseln kurz ab und beschleunigte am eckigen, voller Tatendrang in die Höhe gereckten Kinn. Wenn sie Einkäufe zu erledigen hatte, marschierte sie kräftig ausschreitend voran, sie arbeitete ihre Liste ohne Zögern ab und war beim übernächsten Gedanken, während Lotti den vorletzten zu Ende dachte.

Lotti war in einem Zwiespalt zwischen Bewunderung und Zuneigung, zwischen respektvoller Distanz und dem Wunsch nach Nähe gefangen. Möglich, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit wahrnahm, das selbstbewusste Auftreten nach außen und das innere Schwanken. Ihr, und nur ihr, hatte sie die Geschichte der Freundin anvertraut und das Versprechen abgerungen, niemandem davon zu erzählen. Die Tante erfüllte das mit Stolz und einem gewissen Bedauern darüber, sich gegen eine Familie entschieden zu haben. Vielleicht wäre sie eine gute Mutter gewesen. Mit ihrer Erzählung hatte Lotti die nüchterne Seite der Tante überrumpelt und eine heimliche, romantische Ader zum Schwingen gebracht.

Obwohl sie kinderlos geblieben war, zeigte sie mehr Verständnis als Lottis Eltern, und vielleicht war es gerade deswegen. Sie gewährte Lotti mehr Freiheiten, sie durfte eine eigene Meinung haben und Entscheidungen treffen, selbst wenn diese banal waren. Lotti bestimmte, wie lange sie am Abend aufblieb und wann sie essen wollte. Morgens aßen sie meist Sterz, am Abend Pumpernickel mit Ziegenkäse und zwischendurch jede Menge Mannerschnitten, die Tante hatte immer Schnitten dabei. Dennoch blieb die Tante zeitlebens dünn wie ein Strich. Nur einmal im Jahr, zu Ostern, wich sie von ihren Gewohnheiten ab. Sie füllte ihren Korb mit Bergen von Schinken, Eiern und Osterbrot, die eine vierköpfige Familie eine Woche lang ernährt hätten.

Als die Tante dieses Jahr erfolglos von dannen gezogen war, vergrub sich Lotti noch tiefer in ihrem Zimmer. Die Zeit wurde ihr lang, Trotz und Traurigkeit begannen schal zu schmecken. Der Gedanke, nie wieder ein unbeschwertes Osterfest feiern zu können, ärgerte sie. Sie riss Schranktüren und Schubladen auf, zerrte Hefte und Bücher, Stifte, Spangen, Röcke und Blusen hervor, entriss sie ihrem stillen Dasein, und schleuderte sie auf den Boden. Da lag es vor ihr, ihr unbedeutendes Leben. Lottis Wut steigerte sich weiter. Sie trampelte auf den Gegenständen herum, sie rissen und brachen unter ihren Füßen und Fäusten. Danach fühlte sich Lotti nicht gut, aber so, als hätte sie in einem Kampf obsiegt. Sie ging in die Knie und untersuchte den Feind. Sie hatte ganze Arbeit geleistet.

 

Lotti war nun friedlicher gestimmt und wühlte sich durch Fetzen und Scherben. Sie erzählten Geschichten von früher, von der Schule und von Veza. Sie entdeckte ein Heft mit Skizzen und erinnerte sich an das Malbuch, das die Eltern ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatten, eine Einführung in die Lehre der Proportionen und Bewegungsabläufe. Lotti hatte sich damals sehr gefreut und mit Feuereifer zu zeichnen begonnen. Mit den wiedergefundenen Skizzen tauchten Bilder auf. Bilder von den leuchtenden Augen der Mutter, wenn sie die scheinbare Mühelosigkeit hervorhob, mit der die Tochter Menschen, Hunde und Pferde zu Papier brachte, Bilder von Vezas roten Wangen, wenn sie lachte, und Bilder von Vezas feinen, schmucklosen Händen.

Lotti suchte nach einem Stift und begann zu zeichnen. Zögerlich zunächst, sich herantastend an Ausdruck und Gestalt, doch bald sicher, führte sie den Stift über das Papier. Während ihre Hand scheinbar wie von selbst Linien über das Blatt zog, begann die Angst in ihrem Bauch zu flattern, diese Angst, die sie in den letzten Wochen gespürt und nie zu fassen bekommen hatte. Als die Zeichnung fertig war, hörte das Flattern auf, und im selben Augenblick fühlte Lotti sich frei, befreit von dem Gefühl, sie könnte Vezas Gesicht vergessen. Sie konnte es nicht vergessen, sie hielt es in ihren Händen, schwarz auf weiß.

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