Buch lesen: «Steirerland»
Claudia Rossbacher
Steirerland
Sandra Mohrs fünfter Fall
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
5. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher
ISBN 978-3-8392-4642-9
Widmung
Für meine Herzallerliebsten
Vorbemerkung
Ein Glossar der steirischen beziehungsweise österreichischen Ausdrücke befindet sich am Ende des Buches.
Prolog
Der Geruch explodiert in der Nase,
beißt sich in der Lunge fest,
frisst sich durchs Gehirn.
Gedanken verblassen,
verlieren sich im Nichts.
Der Körper sinkt leblos zu Boden,
leer der Kopf.
Blutrot. Schwarz.
Die Seele entschwebt,
tanzt ins Licht.
Die Hände haben ausgespielt.
Nichts mehr spüren,
nichts mehr berühren.
In Sehnsucht verbunden,
auf ewig vereint.
Kapitel 1
Sonntag, 3. November
1.
Nachts hatte sich dichter Nebel über das Steirische Vulkanland gelegt. Gleich einer Daunendecke, die die goldgelbe Pracht beschützen sollte. Erste Nebelfenster taten sich spätmorgens auf. Allmählich setzte sich die Sonne auf den Hügelkuppen durch. Baumwipfel, Dächer und Kirchtürme glitzerten im Morgentau. Weiter unten zogen mystische Schwaden durch Wälder, Wein- und Obstgärten, über Wiesen, Äcker und Landstraßen. Langsam, wie von Geisterhand, lösten sich auch die letzten Schleier in Nichts auf, bis das Vulkanland einmal mehr in seinem farbenprächtigsten Gewand erstrahlte.
Sandra Mohr genoss die Stille dieses Sonntagmorgens. Die frische Herbstluft, die durch die geöffnete Balkontür ins Hotelzimmer drang, weckte spürbar ihre Lebensgeister. Ein weiterer Altweibersommertag kündigte sich an. Der letzte, den sie vorwiegend mit sich selbst verbrachte. Ihr Koffer war bereits für die Abreise gepackt. In weniger als 24 Stunden war ihre Auszeit vorbei. Dann würde sie den Polizeidienst im Grazer Landeskriminalamt wieder antreten. Erholt von den Strapazen der Mordfälle, die sie zuvor mit Chefinspektor Sascha Bergmann und den anderen Kollegen aufgeklärt hatte, der Trennung von ihrem Freund Julius und den ersten Anzeichen eines Burnouts, die sie eine Weile kürzertreten ließen.
In den vergangenen drei Monaten hatte sich Sandra einer Therapie unterzogen, eine Pilgerreise angetreten und viel nachgedacht, um schließlich eine Entscheidung zu treffen. Sie würde ihren Beruf weiterhin ausüben. Dennoch wollte sie einiges ändern, um nicht noch einmal beinahe auszubrennen. Sie nahm sich vor, künftig auszusprechen, was ihr gegen den Strich ging, mehr auf sich selbst zu achten und öfter nein zu sagen. Bevor sie wieder ihre Grenzen überschritt. Sandra war gerne Polizistin, wie ihr verstorbener Vater. Sie konnte sich keinen anderen Job für sich vorstellen. Weder wollte sie Ernährungsberaterin noch Schriftstellerin oder gar Wunderheilerin werden, wie manche Frauen, die sich in Krisenzeiten völlig neu erfanden. Ihr Leben war gut, wie es war. Meistens jedenfalls. Höhen und Tiefen gehörten nun einmal dazu und ließen sich zumeist ohnehin nicht vorausplanen oder vermeiden. Besser war es, Probleme anzunehmen, sie wenn möglich zu lösen und daraus zu lernen, wie Sandra es nach ihrem Zusammenbruch getan hatte. Die Augen-zu-und-durch-Methode, mit der sie jahrelang gut gefahren war, funktionierte eben nicht immer. Vor allem dann nicht, wenn einem das Schicksal ein Bein stellte. Wie mit dem Skiunfall ihres nunmehrigen Exfreundes Julius Czerny. An seiner Querschnittlähmung war die Beziehung endgültig zerbrochen. Im Privatleben wollte sich Sandra fortan nur noch mit Menschen umgeben, die ihr guttaten. Menschen wie Andrea, die immer für sie da waren. Auch und gerade dann, wenn es ihr schlecht ging.
Während ihrer Auszeit hatte Sandra viel Zeit mit der Freundin verbracht, reichlich geschlafen und so viel gegessen wie noch nie. Gestärkt und um fünf Kilo schwerer war sie nun wieder bereit für alles, was auf sie zukommen würde. Mehr noch: Sie freute sich auf den Dienst und ihre Kollegen. Sogar auf Sascha Bergmann, der – mit Abstand betrachtet – gar kein so übler Partner war. Auch wenn sie der Chefinspektor gelegentlich auf die Palme brachte. Dass sie ihn früher zu Gesicht bekommen sollte, als sie glaubte, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
2.
»Ich habe eine Nachricht für Sie, Frau Mohr. Von einem Herrn Bergmann. Wir konnten Sie in Ihrem Zimmer nicht erreichen, als er vorhin angerufen hat.«
»Bergmann?« Sandra sah die Rezeptionistin verwundert an. Nach der ersten Schrecksekunde schob sie ihre Kreditkarte über die Empfangstheke und nahm den Briefumschlag entgegen. »Wann hat er denn angerufen?«, erkundigte sie sich.
»Die Uhrzeit steht vorne auf dem Kuvert drauf, neben Ihrer Zimmernummer«, antwortete die Hotelangestellte.
Sandra entdeckte die blasse Bleistiftschrift und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war noch keine halbe Stunde her, dass Bergmann versucht hatte, sie zu erreichen. Während sie gerade beim Frühstück gesessen war, überlegte sie und zog den Zettel aus dem Umschlag.
›Ruf mich an, bevor du nach Hause fährst. Dringend!‹, stand da geschrieben. Sandra griff nach ihrem Handy, das in letzter Zeit nur dann eingeschaltet war, wenn sie auch wirklich bereit war zu telefonieren. Sie fand es heilsam, nicht immer und überall erreichbar zu sein. Doch damit war es demnächst wohl vorbei.
Was zum Teufel wollte Bergmann von ihr? Konnte er nicht bis morgen warten? Woher wusste er überhaupt, dass sie an ihrem letzten freien Wochenende in diesem Wellnesshotel nahe Bad Gleichenberg einquartiert war? Wahrscheinlich hatte er wieder Andrea ausgefratschelt. Außer ihrer Freundin wusste ja niemand, dass sie hier war. Oder etwa doch?
Den offiziellen Weg übers Meldeamt war der Chefinspektor bestimmt nicht gegangen. Die Behörde konnte ihren Aufenthaltsort noch gar nicht kennen. Da Sandra erst am Freitag im Hotel eingecheckt hatte, waren ihre Meldedaten dort gewiss noch nicht eingelangt. Handy- oder Laptop-Ortungen waren bei ausgeschalteten Geräten ebenfalls auszuschließen, spann sie ihre kriminalistischen Überlegungen aus alter Gewohnheit weiter. Derlei Fahndungsmaßnahmen wären zudem völlig unangemessen gewesen. Obwohl man bei Sascha Bergmann nie so genau wusste.
Sandra registrierte drei versäumte Anrufe und eine neue Nachricht von Bergmann auf ihrer Mobilbox, die ihr nicht viel mehr verriet als die Notiz. Nach so langer Zeit wieder seine Nummer zu wählen, fühlte sich seltsam an. Ihr Puls beschleunigte sich, bis er abhob. »Hast du nach mir fahnden lassen? Oder wieder mal Andrea missbraucht, um mich zu finden?«, fragte sie, kaum, dass er sich auf seinem Handy gemeldet hatte.
»Missbrauch würde ich das nun nicht gerade nennen. Schließlich hat deine liebe Freundin freiwillig mitgemacht.«
Dass Bergmann sie bei der erstbesten Gelegenheit mit einem seiner Macho-Sprüche provozieren wollte, war zu befürchten gewesen. Sein dreckiges Grinsen hatte Sandra deutlich vor Augen. Den Gefallen, sich darüber zu ärgern, machte sie ihm allerdings nicht mehr. Zu ihrem eigenen Wohl würde sie künftig nicht alles persönlich nehmen. Auch das zählte zu den guten Vorsätzen, die sie gefasst hatte. »Was gibt es denn so Wichtiges, dass du mich unbedingt heute schon sprechen musst?«, bemühte sie sich, gelassen zu bleiben.
»Ich hätte dich bestimmt nicht gestört, wenn ich nicht wüsste, dass du ganz in der Nähe bist«, schlug Bergmann auf einmal deutlich sanftere Töne an. »Und dass du uns ab morgen ohnehin wieder Gesellschaft leistest.«
Gleich würde ihm ein Heiligenschein wachsen, dachte Sandra. »Soso … Ganz in der Nähe wovon eigentlich?«, wollte sie wissen.
»Vom Leichenfundort. Was denn sonst?« Bergmann blies hörbar Luft aus. Oder war das eben Zigarettenqualm gewesen? Sandra hoffte inständig, dass er in ihrer Abwesenheit nicht wieder mit dem Rauchen angefangen hatte.
»Ein Mord?«, fragte sie nach, um sicherzugehen, dass Selbsttötung, Unfall oder ein natürlicher Tod ausgeschlossen werden konnten.
»No na ned. Ich bin es, Sandra. Chefinspektor Sascha Bergmann, LKA Steiermark, Abteilung Leib und Leben. Erinnerst du dich noch an mich?« Da waren sie wieder, die gewohnt sarkastischen Töne.
Bergmann, wie er leibt und lebt, dachte Sandra und musste schmunzeln. »Ich erinnere mich sehr gut an dich, Sascha. Leider. Eine Gehirnwäsche zahlt die Krankenkassa nämlich nicht. Nur Psychotherapie.«
»Und wo ist da der Unterschied?«, ätzte Bergmann.
Sandra atmete durch, ehe sie auf den Mordfall zu sprechen kam. »Wo wurde die Leiche denn gefunden?«
»Bezirk Südoststeiermark. In der Nähe von Straden. Schon wieder …«
»Wieso schon wieder?« Sandra hatte keine Ahnung, wer in ihrer Abwesenheit gewaltsam zu Tode gekommen war. Oder wo. Während ihrer Auszeit hatte sie sich ganz bewusst von allen Nachrichten ferngehalten. Vom LKA und von den Kollegen sowieso.
»Du hast davon gar nichts mitbekommen?« Bergmann klang enttäuscht. »Also doch Gehirnwäsche …«
»Nein, ich habe nichts mitbekommen. Aber du wirst es mir bestimmt gleich erzählen. Ob ich es nun will oder nicht.« Sandra überflog die Rechnung, die ihr die Rezeptionistin wortlos zugeschoben hatte, und unterschrieb den Kreditkartenbeleg.
»Du willst also nicht. Auch gut …«
»Jetzt red schon endlich, Sascha.« Bergmann konnte einem wirklich den allerletzten Nerv rauben.
»Also doch … Möglicherweise haben wir es mit einem Serientäter zu tun«, verkündete er.
»Was du nicht sagst … So viel konnte ich mir aus deinen Worten schon zusammenreimen.«
»Es geht dir doch eh wieder gut. Gell ja, Sandra?«
Schon wieder diese scheinheiligen Töne, stellte Sandra irritiert fest. »Ja. Aber wenn du mich schon fragst: Vor deinem Anruf ging es mir bedeutend besser.«
»Aber du warst es doch, die mich angerufen hat«, korrigierte Bergmann sie mit diesem provokanten Grinsen in der Stimme.
»Nur, weil du es unbedingt wolltest«, entgegnete Sandra forscher als beabsichtigt und steckte die Hotelrechnung ein. Um sich zu verabschieden, nickte sie der Angestellten zu. Die grüßte lächelnd zurück und wünschte ihr eine gute Heimreise. Von wegen … Sandra seufzte.
Während sie den schwarzen Rollkoffer neben sich her durch die Lobby schob, gab Bergmann ihr die Wegbeschreibung zu jenem Waldstück in Hof bei Straden durch, in dem eine Spaziergängerin an diesem Morgen eine unbekannte männliche Leiche aufgefunden hatte. In etwa 25 Minuten würde der Chefinspektor dort eintreffen, schätzte er. Tatortgruppe und Gerichtsmedizinerin waren ebenfalls auf dem Weg zum Einsatzort. Sandra konnte es in einer knappen Viertelstunde schaffen, wenn sie wollte. Immerhin überließ ihr Bergmann dann doch noch die Entscheidung, ob sie sofort oder erst morgen in die Mordermittlungen einstieg. Aber wo sie schon einmal in der Nähe war, könne sie doch genauso gut den kurzen Umweg zum Leichenfundort nehmen und anschließend über Mureck, Sankt Veit am Vogau und Leibnitz nach Hause fahren, ließ er nicht locker.
»Woher kennst du denn Sankt Veit am Vogau?«, wunderte sich Sandra über die ungewöhnliche Ortskenntnis des Wiener Chefinspektors, der sich noch nicht einmal in Graz auskannte, obwohl er seit über drei Jahren in der steirischen Landeshauptstadt lebte.
»Ich habe mir die Strecke extra angeschaut, um dich ja nicht zu überfordern«, erwiderte er nahezu sanftmütig.
»Du kannst die Glacéhandschuhe wieder ausziehen, Sascha. Sie passen dir nicht.«
»Ich dachte, ich versuche es mal mit Einfühlungsvermögen«, kehrte er zum üblichen süffisanten Tonfall zurück.
Sandra lachte hell auf. »Vergiss es. Das kauft dir ohnehin niemand ab. Ich am allerwenigsten.« Schmunzelnd stellte sie ihren Koffer hinter dem Leihwagen ab und öffnete die Heckklappe. »Ich bin schon unterwegs. Bis dann«, beendete sie das Gespräch.
Ob sie jetzt gleich oder erst in ein paar Stunden ihren Dienst wieder aufnahm, machte wirklich keinen großen Unterschied. Außerdem wollte sie endlich wissen, was es mit diesen mutmaßlichen Serienmorden auf sich hatte.
3.
Die weißen Folientunnel auf dem Gemüseacker zu ihrer Linken ließen Sandra die Streifenwagen, die dahinter auf dem Feldweg parkten, zu spät erkennen, um noch rechtzeitig vor der Kreuzung abbremsen und abbiegen zu können. Den Gedanken, zurückzusetzen oder den Toyota zu wenden und zur Abzweigung zurückzufahren, verwarf sie gleich wieder. Stattdessen stellte sie den Kleinwagen hinter einer Funkstreife am Bankett ab. Der Forstweg, der von dort in ein Waldstück führte, war durch das Einsatzfahrzeug ohnehin schon blockiert. Wen störte es also, wenn sie auch noch dahinter parkte?
Bevor Sandra den Sicherheitsgurt öffnen konnte, stand ein Uniformierter neben dem Wagen und deutete ihr, dass sie hier nicht stehen bleiben durfte. Sie hielt ihren Dienstausweis gegen die Scheibe. Nur gut, dass sie ihn – im Gegensatz zu ihrer Dienstwaffe, den Handschellen und anderen kriminalpolizeilichen Ausrüstungsgegenständen – auch privat stets bei sich trug. Augenblicklich wich der Polizist zurück und kam neben seiner hageren Kollegin zu stehen, die inzwischen ebenfalls die Funkstreife verlassen hatte.
Sandra stieg aus dem Leihwagen aus und stellte sich offiziell vor. »Abteilungsinspektorin Sandra Mohr, LKA Steiermark.«
Die beiden Uniformierten von der Polizeiinspektion Halbenrain nannten ihrerseits Namen und Dienstränge.
»Die Kollegen aus Graz sollten etwa in einer Viertelstunde hier eintreffen. Wo ist die Leiche?«, kam Sandra direkt zur Sache.
»Hier drin.« Der Polizist deutete in den Wald.
»Kommt wer mit zur Fundstelle oder finde ich sie allein?«, fragte Sandra.
»Ich komm schon mit«, bot sich der Kollege an.
»Vom Feldweg, wo die anderen Einsatzwagen stehen, ist es aber näher«, warf die Polizistin ein.
»Wir können genauso gut durch den Wald gehn«, entgegnete ihr Partner, offenbar genervt von ihrer Besserwisserei.
»Wie weit ist die Stelle denn von hier entfernt?«, fragte Sandra.
»Keine 300 Meter.«
»Haben Sie Handschuhe für mich?«
Die Polizistin holte ein Paar Einweghandschuhe aus der Funkstreife und überreichte sie der LKA-Ermittlerin.
»Danke. Gehen wir.« Sandra setzte sich in Bewegung. »Wo ist die Zeugin, die den Toten aufgefunden hat?«, wandte sie sich an ihren Begleiter.
»Drüben am Feldweg. Beim Inspektionskommandanten Stöckler«, sagte er. »Wir kennen die Frau. Krenn Waltraud heißt sie, eine Pensionistin, wohnhaft in Hof bei Straden. Nach der Sonntagsmesse war sie mit ihrem Hund spazieren. Ohne den hätt s’ die Leich wahrscheinlich gar nicht entdeckt.«
»Wann genau war das denn?« Erst jetzt bemerkte Sandra, dass sie fröstelte ohne ihre Jacke, die sie im Auto gelassen hatte. Obwohl die Herbstsonne an diesem späten Vormittag durch die teilweise kahlen Kronen der Laubbäume schien, war es kühl im Wald. Die leichte Brise, die ihr um die Nase wehte, roch nach Holzrauch, als würden in der Nähe Fleisch oder Würste geselcht werden. Sandra beschleunigte ihre Schritte.
»Wir sind um halb zehn von der Einsatzzentrale verständigt worden.« Sandras Begleiter passte sein Tempo dem ihren an und streckte den Arm aus. »Der Tote liegt dort hinten. In einem Graben unterm Laub.« Er deutete zu einem Holzstoß, in dessen Nähe sich zwei weitere Polizisten miteinander unterhielten. »Ihm fehlen beide Hände«, berichtete er weiter.
»Ihm fehlen die Hände?«, hakte Sandra nach.
»Ja, sie wurden ihm abgetrennt.«
Sandra hielt vor dem brusthohen, etwa vier Meter langen Holzstoß inne und streifte die Handschuhe über. »Sie meinen, im Zuge seiner Ermordung?«
Der Uniformierte sah Sandra an, als wäre sie schwer von Begriff. »Ja sicher.«
Sicher? Der Mann hätte ja auch schon vor seinem Tod bei einem Unfall die Hände verlieren können. Oder ein paar Waldtiere hatten nach seiner Ermordung daran genagt, überlegte Sandra. »Könnte es sich nicht auch um Tierfraß handeln?«, fragte sie. »Füchse, Wildschweine, Ratten, Krähen …?« Es brauchte höchstens drei Tage, bis eine Rotte Wildschweine einen ganzen Menschen aufgefressen hatte.
Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Glaub ich nicht.«
»War die Leiche denn vollständig mit Laub bedeckt, als sie aufgefunden wurde?«
»Die Kollegen wissen das besser als ich. Sie haben den Fundort abgesichert und sind seither hier postiert.«
Sandra trat hinter den Holzstoß und wandte sich an die Uniformierten am Absperrband, um ihnen dieselbe Frage zu stellen. Neben dem Surren zahlreicher Fliegen waren immer wieder Stimmen aus ihren Funkgeräten zu vernehmen. Ebenso jene, die von den Einsatzfahrzeugen am nahen Feldweg in den Wald herüberdrangen. Um sie verstehen zu können, waren diese jedoch zu weit entfernt.
»Der Zeugin ihr Hund hat die Leich ausm Laub ausgegraben«, antwortete einer der Männer. »Dann ist sie in die Muldn einigstiegen und hat nachgschaut, ob s’ dem Mann noch helfen kann. Die Frau Krenn war früher Hebamme. Von dem her kennt sie sich medizinisch recht gut aus. Aber da war nix mehr zu machen. Die Leich is ja schon am Verwesen«, berichtete der Landpolizist gleichmütig, als stünden derartige Leichenfunde auf der Tagesordnung.
Sandra wollte sich gerade nach dem ersten Mordopfer erkundigen, als der andere Beamte ihrer Frage zuvorkam. »Wir ham dann auch noch ein bissl was vom Laub wegg’schafft, damit wir seine Taschen durchsuchen können. Anschließend ham wir ihn wieder mit Blattln zuadeckt«, schilderte er die Vorgänge weiter.
Wozu das denn, wunderte sich Sandra. »Irgendwelche Hinweise auf seine Identität? Brieftasche? Ausweis? Handy? Persönliche Gegenstände?«
Beide Polizisten schüttelten die Köpfe. »Nicht einmal ein Schneiztiachl.«
»Wurde die Position der Leiche verändert?«
Wieder folgte synchrones Kopfschütteln. »Liegt genauso da wie vorher.«
Sandra nickte. Es war nicht das erste und bestimmt nicht das letzte Mal, dass Polizisten bei einem Einsatz neue Spuren an einem Tatort oder Fundort setzten, die später abgeglichen werden mussten, um zu den tatrelevanten zu gelangen. Den Kommentar, der ihr auf der Zunge brannte, schluckte sie hinunter und tauchte stattdessen unter dem rot-weißen Flatterband mit dem Polizei-Schriftzug hindurch. Die Leiche lag jetzt gute zwei Meter von ihr entfernt, bäuchlings in einem Graben, der mit kupferbraunem Laub gefüllt war. Kopf, Arme und Beine waren fast vollständig damit bedeckt. Nur der Rücken und das Gesäß, beide durch schwarze Kleidung verhüllt, ragten hervor.
»Werd ich hier noch gebraucht?«, hörte sie hinter sich den Polizisten, der sie hergeführt hatte, fragen.
»Nein danke«, winkte Sandra ab, ohne sich umzudrehen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um so den Boden unter den abgestorbenen Blättern zu ertasten, während sie sich der Leiche im Graben langsam näherte. Schon einmal hatte sie beim Joggen im Wald eine Vertiefung unter einer laubbedeckten Stelle übersehen und sich eine langwierige Bänderzerrung im Sprunggelenk zugezogen. Einen ähnlichen Unfall wollte sie tunlichst vermeiden. Ihre Füße fanden den Rand einer Mulde. Kontrolliert rutschte Sandra seitlich weiter hinab, bis sie sicher im knietiefen Laub zu stehen kam. Wenn hier ohnehin schon alles durchwühlt worden war, konnte sie sich genauso gut auch noch umsehen, bevor die Tatortgruppe eintraf und Leiche und Fundort für die nächsten Stunden blockierte. Dass dem Toten beide Hände fehlten, konnte Sandra bestätigen, nachdem sie seine Arme behutsam aus dem Laub gehoben und die Ärmel des schwarzen Samtsakkos und des ebenso schwarzen Hemdes hochgeschoben hatte. Die Amputation der Hände war in beiden Fällen oberhalb der Handgelenke erfolgt. Zum Ellenbogen hin fehlten Hautteile. Die Wundränder waren ausgefranst, zahlreiche Maden fraßen sich bereits durchs Gewebe. Die Frakturen von Elle und Speiche ließen hingegen auf ein scharfkantiges Tatwerkzeug schließen. Sandra war kein einheimisches Tier bekannt, das die Knochen dermaßen glatt hätte durchtrennen können. Während sie sich neben den Kopf der Leiche hockte, wachelte sie mit der Hand wiederholt vor ihrem Gesicht herum, um die Fliegenschar zu vertreiben, die der Verwesungsgeruch magnetisch anzog. Sorgfältig fegte sie die Blätter vom Kopf und vom Hals des Mannes. Dann fasste sie in die braunen Locken, um seinen Kopf zur Seite zu drehen und eine tiefe Schnittwunde an der Kehle zu entdecken. Die Schlagader war durchtrennt. Maden und Insekten waren hier ebenso emsig am Werk wie an den Ohren. Ihr spontaner Verdacht des postmortalen Tierfraßes schien sich wenigstens an dieser Stelle zu bestätigen. Das andere Ohr war in einem ähnlichen Zustand. Die Nasenlöcher waren wie auch die Augen von Maden bevölkert. Andere Tiere als Insekten hatten diese Stellen wohl nicht erreichen und an ihnen nagen können, da der Tote darauf gelegen war. Ansonsten konnte Sandra keine sichtbaren Verletzungen ausmachen. Dafür hätte sie die Position des Leichnams verändern beziehungsweise ihn auskleiden müssen, was glücklicherweise nicht zu ihren Aufgaben zählte. Ohne den Obduktionsbefund zu kennen, der den Ermittlern frühestens am nächsten oder übernächsten Tag vorliegen würde, deutete für sie momentan alles darauf hin, dass der Mann verblutet war. Und dass er länger als zwei bis drei Tage tot sein musste. Die Totenstarre hatte sich bereits aufgelöst, Verwesung und Insektenbefall waren fortgeschritten. Auffällig erschien ihr, dass weder die Kleidung noch das Laub in der Nähe der Leiche sichtbare Blutflecken aufwiesen. Zumindest nicht an jenen Stellen, die in der Auffindesituation zu sehen waren. Der Regen konnte keine Spuren fortgewaschen haben. In der Region hatte es zuletzt vor einer guten Woche Niederschlag gegeben, wusste Sandra von der Frau, die sie in der Hotelsauna in ein Gespräch verwickelt hatte. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihr vor, als wären inzwischen mehrere Tage vergangen. Ein sicheres Zeichen, dass sie wieder in ihrem Job angekommen war.
Sandra erhob sich aus der Hocke und suchte den Graben mit ihren Blicken ab. Oberflächlich war auch hier kein Blut zu entdecken. Sich weiter durch das Laub zu wühlen, um auf mögliche Spuren zu stoßen, überließ sie liebend gern der Tatortgruppe, die dafür zuständig war. Allen voran deren Leiter, Manfred Siebenbrunner. Die Tatsache, dass jemand anders als er und seine Leute zuerst in der Nähe der Leiche gewesen war, würde ihm bestimmt miserable Laune bescheren, wusste Sandra aus leidvoller Erfahrung. Ein Schauer jagte über ihren Rücken. Den Leiter der Kriminaltechnik hatte sie während ihrer Auszeit am allerwenigsten vermisst. Der Gedanke an den überheblichen Forensiker bereitete ihr beinahe noch größeres Unbehagen als die Gesellschaft der verstümmelten, verwesenden Leiche neben ihr.
Sandra stieg aus dem Graben, um die nähere Umgebung genauer zu begutachten. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich am Tatort befand. Vielmehr sah alles danach aus, als wären sowohl der Mord als auch die Amputation der Hände woanders durchgeführt und die Leiche erst später hier abgelegt worden. Warum schnitt man jemandem die Hände ab, fragte sie sich. Um einen Diebstahl zu bestrafen, wie es im Mittelalter und gegenwärtig in einigen islamischen Staaten noch immer praktiziert wurde? Oder um die Identifizierung der Leiche zu erschweren, da keine Fingerabdrücke mehr genommen werden konnten? Der Tote hatte keine Papiere und keine persönlichen Gegenstände bei sich. Hatte der Täter diese vielleicht aus demselben Grund verschwinden lassen? Oder hatte man ihn beraubt? Was war mit den Zähnen des Opfers? Sandra hatte es verabsäumt nachzusehen, ob das Gebiss erhalten war. Der Abgleich des Zahnstatus würde ohnehin im Gerichtsmedizinischen Institut erfolgen. Sofern der Mann zu Lebzeiten einen Zahnarzt in Österreich oder Ungarn, dem Zahnmekka vieler Österreicher, konsultiert hatte, würden sie seine Identität mehr oder weniger rasch feststellen können.
Noch einmal betrachtete Sandra das Mordopfer im Graben, diesmal von weiter oben. Wo waren seine Hände geblieben, fragte sie sich. Entweder der Täter hatte sie – aus welchen Gründen auch immer – mitgenommen, oder ein Tier hatte sie als willkommene Beute angesehen und verschleppt. Falls die fehlenden Gliedmaßen nicht doch noch unter dem Laub verborgen waren, was Sandra aufgrund der augenscheinlichen Spurenlage bezweifelte.
»Sandra! Griaß di!«, unterbrach eine Frauenstimme ihre Überlegungen. Sie wandte sich um und sah Miriam Seifert winkend auf sich zukommen. Im Schatten der jungen groß gewachsenen Kollegin folgte Sascha Bergmann, die obligate Sonnenbrille auf der Nase. Den schwarzgerahmten Klassiker hatte Sandra allerdings noch nie an ihm gesehen. Zuletzt hatte er eine verspiegelte Pilotenbrille getragen, die sie immer mit Pornodarstellern assoziierte. Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, wann sie zuletzt einen solchen Film gesehen hatte.
»Voll schön, dass du wieder da bist«, fügte Miriam, strahlend wie eh und je, hinzu. Fehlte nur noch, dass sie ihr gleich um den Hals fiel. Angesichts der Leiche, die Miriam aus ihrer Perspektive noch nicht sehen konnte, wäre diese Geste völlig fehl am Platz gewesen. Immerhin musste die junge LKA-Ermittlerin doch am Polizeiabsperrband erkennen, dass sie sich dem Leichenfundort näherte. Sandra konnte nicht umhin, über die herzliche Art der Kollegin zu schmunzeln. Genau wie die beiden Provinzpolizisten, die sich über die Blondine mit Modelmaßen sichtlich amüsierten. Nur Bergmann blieb todernst.
Beim Anblick der Leiche wich der fröhliche Ausdruck schlagartig aus dem hübschen Gesicht der Kollegin. Ihr überschwänglicher Auftritt schien ihr nun doch ein wenig peinlich zu sein. Vor allem vor den ihr unbekannten Männern, deren Blicke noch immer an ihr klebten. Was mehr an ihrem attraktiven Äußeren lag als an ihrem ungestümen Verhalten, vermutete Sandra.
Bergmann half Miriam prompt aus der Verlegenheit, indem er die Aufmerksamkeit der Uniformierten auf sich zog. »Was gibt’s denn hier so blöd zu grinsen?«, schnauzte er die beiden an. Dann wandte er sich Sandra zu. »Servus«, begrüßte er sie knapp, aber immerhin. Mehr hatte sie auch gar nicht von ihm erwartet.
»Hallo, Sascha. Griaß di, Miriam.« Sandra schenkte der Kollegin ein Lächeln, das diese nunmehr zögerlich erwiderte.
»Und?«, erkundigte sich Bergmann, den Blick auf die Leiche gerichtet. »Schon was herausgefunden?«
Er hatte sich kein bisschen verändert, stellte Sandra fest. Weder sparte er mit schlechten Scherzen, wie vorhin in ihrem ersten Telefongespräch seit Monaten, noch nahm er sich sonst ein Blatt vor den Mund. Selbst Fremden gegenüber nicht. Dass der drahtige, bald 40-Jährige stets unrasiert und unfrisiert in löchrigen Jeans und Sportschuhen daherkam, war auch nichts Neues. Dennoch freute sich Sandra, ihn wiederzusehen. Wenngleich sie ihm das bestimmt nicht auf die Nase binden würde.
Besonders viel hatte sie dem Chefinspektor noch nicht zu berichten, außer ihren Schlüssen, die sie aufgrund der ersten Eindrücke vor Ort gezogen hatte.
Bergmann und Miriam hörten ihr aufmerksam zu, verzichteten jedoch darauf, den Toten selbst aus der Nähe zu betrachten. Die Gerichtsmedizinerin würde ohnehin jeden Augenblick hier eintreffen, meinte Bergmann, der unterwegs mit Doktor Jutta Kehrer telefoniert hatte.
Dass die Tatortgruppe soeben im Anmarsch war, war nicht zu überhören. Siebenbrunner schimpfte wie ein Rohrspatz, kaum, dass er die Kollegen ohne Schutzoveralls und Schuhüberzüge im abgesperrten Bereich erblickte.
Das konnte ja heiter werden, dachte Sandra. Ihre kurze Erläuterung der Fakten verschlimmerte die Laune des Chefforensikers nur noch. Wobei ihr Anblick allein vermutlich schon ausreichte, um Siebenbrunner den Tag zu verderben. Umgekehrt war auch ihr Ärger über ihn ziemlich rasch so weit gediehen, dass sie kurz davor stand, zu explodieren. Wie gut, dass Bergmann darauf drängte, den Fundort der Spurensicherung zu überlassen und die Zeugin einzuvernehmen.
Sandra atmete erst einmal tief ein und aus, während sie zu dritt die direkte Route zum Feldweg einschlugen. »Was für ein Grantscherbn«, murmelte sie.
»Einmal Wölli, immer Wölli«, stimmte Miriam ihr zu.
Sandra wandte sich an Bergmann. »Du hast vorhin erwähnt, dass es kürzlich schon einen Mord in der Gegend gegeben hat«, kam sie auf seine Bemerkung am Handy zurück.
Bergmann nickte. »Wenn du mich nachher nach Graz mitnimmst, erzähle ich dir unterwegs alles. Miriam kann ja allein zurückfahren.«
»Von mir aus …« Sandra sah die Kollegin fragend an.
Miriam deutete ihr mit einer Geste, dass sie ihr den Vortritt ließ. »Du schaust übrigens voll super aus«, sagte sie zu Sandra, während Bergmann, nunmehr einige Schritte vor ihnen, auf den ersten Streifenwagen in der Reihe zueilte. »Mindestens fünf Jahre jünger«, fügte sie an.
»Ach wirklich? Und fünf Kilo schwerer«, gestand Sandra.
Miriam musterte sie von oben bis unten. »Zu dünn in deinem Alter ist eh nix. Wegen der Falten …«
»Danke«, erwiderte Sandra trocken. Mit der letzten Bemerkung hatte Miriam ihr Kompliment mit einem Schlag wieder zunichtegemacht.
»Oh, entschuldige bitte. So hab ich’s nicht gemeint. Meine Mama sagt das immer.« Erst jetzt wurde Miriam bewusst, dass sie, wie so oft, ins Fettnäpfchen getreten war.