Buch lesen: «Religion ohne Kirche»

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Für Thomas

Copyright © Claudius Verlag, München 2020

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Layout: Mario Moths

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

ISBN 978-3-532-60058-0

INHALT

Ein Wort vorab

Religion als Wurzel allen Übels?

9,5 Thesen für ein erneuertes Christentum

1.Wir besinnen uns auf unseren Religionsstifter.

2.Es gibt nur eine Konfession.

3.Wir brauchen kein Weihesakrament.

4.Wir leben echte Geschlechtergerechtigkeit.

5.Verschiedene Lebensformen stehen gleichberechtigt nebeneinander.

6.Religion ist klug und sinnlich.

7.Entwicklungshierarchien ersetzen Machthierarchien.

8.Wir lassen das duale Weltbild los.

9.Religion wirkt aus dem Verbundenheitserleben heraus gestaltend in die Welt hinein.

9,5.Diese neun Thesen sind nicht in Stein gemeißelt.

Sieht denn keiner, dass der Bischof keine Kleider anhat?

Epilog

Dank

Literatur

Anmerkungen

Ein Wort vorab

Die Idee zu diesem Buch entstand in der Zeit nach der Veröffentlichung der von der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK) in Auftrag gegebenen Studie mit dem sperrigen Titel „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“, nach den Standorten der Institute der beteiligten Wissenschaftler*innen, Mannheim, Heidelberg und Gießen, kurz „MHG-Studie“ genannt.1 Die Inhalte der Studie überraschten mich nicht. Als Betroffene von sexuellem Missbrauch durch einen Priester bin ich in den vielen Jahren der not-wendigen Aufarbeitung tief hinabgestiegen in die Abgründe des Männerbundes Katholische Kirche. Un-er-träglich aber sind für mich die Lippenbekenntnisse der Kirchenoberen, die sich bestenfalls in Reförmchen verlieren, statt das Übel an den Wurzeln zu packen und die unübersehbaren Zusammenhänge von sexualisierter Gewalt und dem Missbrauch klerikaler Macht anzuerkennen und ernsthaft zu bearbeiten.

Dies ist kein Buch über Missbrauch und auch keines über die haltlosen Zustände in den christlichen Kirchen oder anderen Religionsgemeinschaften. Ich erzähle davon nur so viel, wie als Begründung für meine Auffassung einer dringend notwendigen Erneuerung nötig ist. Um einen Sumpf trockenzulegen, braucht man ihn nicht noch mit Aufmerksamkeit wässern. Deshalb habe ich das Buch in zwei Teile gegliedert: Der zweite, kürzere Teil beschreibt die Zustände, wie ich sie wahrnehme und für zwingend reformbedürftig halte. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir uns der Realität des Ist-Zustandes stellen, so unangenehm die Auseinandersetzung damit auch ist. Ursprünglich sollte das Buch mit diesem Teil beginnen. Ich hatte zunächst die kirchlichen Missstände beschreiben und dann übergehen wollen zu meiner Vision von einem spirituellen Leben im Christusbewusstsein und einer für mich wünschenswerten lebendigen Religionsgemeinschaft. Doch als ich wahrnahm, wie mich die Beschreibung dieser schlimmen Zustände energetisch schwächte und dass sich der Hebel hin zum Neuen und Freudvollen nur schwer umlegen ließ, beschloss ich, die Zukunftsthesen voranzustellen und den kirchlichen Sumpf hintan. Wenn wir uns zu sehr beim Thema Kirche und den damit verbundenen Missständen aufhalten, verlieren wir leicht den Zugang zu der Vorstellung, wie sich Glaube und Spiritualität anders anfühlen könnten.

Das ist das Problem unserer und, wenn wir nicht schleunigst etwas anderes vorleben, der nachfolgenden Generationen: Wir verbinden die christliche Religion so sehr mit den kirchlichen Machtstrukturen, dass wir größtenteils auch mit der Ursprungsidee nichts mehr zu tun haben wollen. Dieses Problem erzeugt Kirche selbst und hält es in ihrem sturen Beharren auf überkommenen Positionen aufrecht. Solange die Vertreter dieses Systems weiterhin das Monopol beanspruchen für die Weitergabe des christlichen Glaubens und die Art, wie er auszugestalten sei, werden sich immer mehr Menschen kopfschüttelnd abwenden. Von Kirchenvertretern wird oft der in unserer Gesellschaft vorherrschende Trend zur Individualisierung beklagt. In religiöser Hinsicht war diese Emanzipation bitter notwendig, um aus dem engen Korsett der Normen und Vorschriften auszubrechen, den der kirchliche Machtapparat, egal welcher Konfession, im Lauf der Jahrhunderte zur Perfektion brachte. Diese Ketten zu sprengen war ein echter Befreiungsschlag, allerdings mit weitreichenden Folgen, die uns vielleicht nicht nur guttun. Machen wir uns nichts vor: Die Mehrheit der aufgeklärten Menschen in unserer westlichen Welt interessiert sich keinen Funken mehr für das, was Kirche ihnen vorschreiben will. In einer TV-Talkshow rutschte mir einem Bischof gegenüber heraus: „Ihr macht unsere Religion kaputt!“ In BILD online brachte es dieser emotionale Ausbruch zum „Zitat des Tages“, eine zweifelhafte Auszeichnung, die mich nachdenklich macht: Wo liegt der Grund für den medialen Applaus? Vermutlich spürten auch die Medienvertreter die darin enthaltene Wahrheit: Der klerikale Machtapparat in seiner Erstarrung und Verkommenheit trägt dazu bei, dass Menschen sich zugleich auch von der eigentlich so segensreichen und wohltuenden Religion abwenden. Diejenigen, die die Mühe auf sich nehmen, Glaube, Religion, Christentum und Kirche auseinanderzusortieren, finden oft zu einer freudvollen, lebendigen Spiritualität mit unmittelbaren Christusbegegnungen und Gotteserfahrungen zurück. Dabei gehen viele von ihnen ihren Weg mutterseelenallein, meist nur begleitet von guten Büchern und, mit etwas Glück, von der ein oder anderen Freundin, mit der sich über etwas anderes reden lässt als über die letzte Urlaubsreise oder die neuesten Errungenschaften in Haus und Hof. Jetzt aber ist es an der Zeit, allmählich aus den Löchern zu kriechen und sich wieder zusammenzutun, um intensiven Austausch zu pflegen, tragfähige Gemeinschaften zu bilden und miteinander neue Wege zu gehen – auf einer alten, aber ungebrochen aktuellen Basis, nämlich dessen, was uns dieser Jesus Christus an heilsamen und freudvollen Botschaften gebracht und hinterlassen hat. Wenn dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leistet, hat es seinen Sinn erfüllt.

Im Februar 2020

Claudia Mönius

Religion als Wurzel allen Übels?

Anders als zu Luthers Zeiten brauchen wir heute keine ausschweifenden 95 Thesen, um den Kern einer erneuerten Religion zu beschreiben. Es genügen wenige markante Eckpunkte, die für Menschen auf der Suche nach einer lebbaren Spiritualität in Gemeinschaft als Anhaltspunkte fungieren können. In kleineren oder größeren Gruppierungen können Suchende die Kernaussagen dieses Büchleins diskutieren, abwandeln und mit Leben füllen. Ich träume von Gemeinschaften, die ihre ureigenen Formen und Rituale leben, sich aber zugleich mit Menschen überall auf der Welt verbunden fühlen, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht haben, um miteinander die Essenz der christlichen Tradition herauszuarbeiten und in für sie passenden Formen zu praktizieren und im Alltag zu leben.

Wir brauchen eine grundlegende Reformation, müssen aber das während des Luther-Jahres 2017 überstrapazierte Wort dafür nicht bemühen. Vielleicht braucht Religion, wie sie heute praktiziert und vielfach missbraucht wird, ohnehin eher eine Revolution als eine Reformation. Ganz sicher brauchen wir eine Transformation. Dennoch: Re-formation im Wortsinn bedeutet, etwas Bestehendem eine neue Gestalt zu geben. Mit meinen 9,5 Vorschlägen möchte ich die Ursprungsidee dieses großartigen Jesus von Nazareth aufgreifen und so wiederbeleben, dass ihr tiefer Sinn und ihre heilsame Wirkung wieder erfahrbar werden. In unserer heute oft von Angst, Habgier und gnadenlosem Egoismus bestimmten Gesellschaft mit den daraus resultierenden fundamentalistischen Tendenzen erscheint mir das wichtiger denn je.

Angesichts der immer deutlicher zutage tretenden Missstände in den großen christlichen Kirchen und ebenso in anderen Religionsgemeinschaften werden Rufe nach Abschaffung jedweder Religion lauter. In unserer ohnehin säkularisierten westlichen Welt heißt es schnell, der Missbrauch von Macht wäre systemimmanent. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man das meinen. Nachdem ich den ebenso erschütternden wie großartig gemachten Kinofilm „#female pleasure“2 zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich auch: Ja, das Problem sind die Religionen an sich. In allen Kulturen und Weltreligionen werden Frauen im Namen einer wie auch immer ausgeprägten übergeordneten Macht missbraucht und gedemütigt. Ich schaute den Film ein zweites Mal an und fand meine Klarheit wieder: Nein, nicht Religion an sich ist das Problem, sondern der Missbrauch von Religion zum Zweck der Unterdrückung und Machtausübung. Das, was Menschen und leider vorwiegend Männer aus Religion machen und wie sie sie für ihre Zwecke einsetzen und missbrauchen, ist das eigentliche Problem. Es mag sein, dass ein religiöses System, das auf Autoritäten baut und zugleich eine metaphysische Komponente beinhaltet, besonders leicht entstellt und zweckentfremdet werden kann. Doch genauso werden andere Systeme zum Zweck der Machtausübung missbraucht. Am augenfälligsten ist es sicher in der Politik; aber auch in Wirtschaft, Bildung oder Gesundheitswesen werden Menschen systematisch unterdrückt, kleingehalten, belogen und betrogen. Seltsamerweise käme niemand auf die Idee zu sagen, Bildung an sich sei schlecht oder Gesundheit, wenn die Systeme abdriften, in denen diese immateriellen Güter entwickelt, verwaltet oder bewegt werden. Keiner würde sagen, wir müssen Bildung abschaffen, wenn das Bildungssystem zu wünschen übriglässt. Plötzlich können wir differenzieren zwischen dem Gut oder dem Wert an sich, den Menschen, die darin beschäftigt und dafür verantwortlich sind, und dem Gesamtsystem. Warum gelingt uns das bei Religion nicht? Ich bin überzeugt, dass wir Religionen brauchen, dringend sogar und vielleicht notwendiger denn je. Aber eben mit anderen Vorzeichen und so, wie sie ursprünglich gedacht waren: als Transportgefäße für Werte, an denen wir uns orientieren können, und als hilfreiche Lotsen beim Erforschen einer Wirklichkeit, die unserem Alltagsbewusstsein nicht immer unmittelbar zugänglich ist. Religion, definiert als Schnittstelle zwischen Immanenz und Transzendenz, als Geländer, das sowohl Leitlinie sein kann im Umgang mit meinem Nächsten und der Schöpfung als auch Wegweiser hin zu einer nicht greifbaren und doch erlebbaren Wirklichkeit, ist etwas zutiefst Beglückendes und ein Segen für die Menschheit. Wenn wir das Rad der Perversion und Entgleisung zurückdrehen und Religion neu erfinden, bereinigt um Macht, Gewalt und Herrschaftsanspruch, können wir andere drängende gesamtgesellschaftliche Probleme nicht nur leichter bewältigen, sondern deren Lösung ergibt sich ganz von selbst. Wer die Verbundenheit von allen mit allem spürt, sich seinen eigenen Schatten und Dunkelheiten stellt und sich ehrlich an einem Leitstern orientiert, der Gewaltfreiheit, eine nicht wertende Haltung und umfassende Liebe nicht nur gepredigt, sondern vor-bildlich gelebt hat, wird auch dankbar und respektvoll mit dieser Schöpfung umgehen und damit unser aller Lebensgrundlage bewahren.

Gerade junge Menschen sind oft verzweifelt auf der Suche nach einem tragenden Grund. Sie spüren: Schule, Ausbildung, Studium, ein guter Job, dann vielleicht Familiengründung, ein liebenswerter Freundeskreis und ein spannendes Freizeitleben, all dies sind wohltuende immaterielle Güter und erstrebenswerte Lebenssituationen. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem viele von ihnen spüren: Das kann nicht alles sein, es muss noch etwas „hinter den Dingen“ geben. Immer wieder erlebe ich in Beratungssituationen junge Erwachsene, die von einer unbestimmten Traurigkeit geplagt werden bis hin zu tiefer Verzweiflung. In ihrer Biografie finden sich keine Anhaltspunkte für die Wurzeln dieser hartnäckigen und offenbar tief sitzenden Störgefühle, die manchmal bis hin zur Lebensmüdigkeit reichen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ganz in der Tiefe um die Sinn-Frage geht. Das meint nicht die Frage nach dem „Warum“. Die ist schnell beantwortet, wenn sich ein junger Mensch eine Existenz aufbauen muss, um im Außen ein einigermaßen gelingendes Leben zu führen. Tiefer gehend ist die Frage nach dem „Wozu“. Wozu mache ich das alles? Wohin führt es mich? Gibt es ein übergeordnetes großes Ganzes, auf das ich zulaufe und an dem ich zugleich gestaltend mitwirke? Bis hin zu der Frage: Kann es sein, dass dieses übergeordnete „Wozu“ nicht einmal durch meinen physischen Tod ad absurdum geführt wird? Ich glaube, das sind die Fragen, die das Leben an uns stellen möchte, wenn wir sie denn zulassen, statt sie auszublenden, indem wir uns mit allem möglichen Firlefanz beschäftigen, uns bis ins hohe Alter mit Arbeit zuschütten oder uns von früh bis spät in digitalen Parallelwelten verlieren.

Die Aufgabe von Religion bestünde darin, Menschen dabei zu begleiten, ihre eigenen Antworten auf existenzielle Fragen zu finden. Religion, die vorgefertigte Antworten gibt, ist fundamentalistisch und erkennt nicht die Größe und Genialität jedes einzelnen Geschöpfs an. Das ist einer der zentralen Widersprüche, in den Kirche sich verstrickt hat: Wir alle sind von Gott geliebte Wesen, ein jedes nach seiner oder ihrer Fasson, aber Kirche meint genau zu wissen, wie wir zu sein und was wir zu tun haben. Für alle gelten die gleichen oft lebensfeindlichen Vorschriften und Regeln. Kirche gibt Standardantworten, statt die richtigen Fragen zu stellen. Dabei hat Jesus uns das anders vorgelebt. Sogar den Blinden fragt er: „Was soll ich dir tun?“ Die Frage wirkt fast lächerlich angesichts des Leids des nicht sehenden Menschen. Aber Jesus ist eben nicht übergriffig, indem er meint zu wissen, was der Mann doch offen-sichtlich braucht. Vielmehr appelliert er mit der Frage an dessen eigene innere Wirklichkeit, an seine Sehnsüchte und Wünsche, und damit an seinen Lebenswillen und das Vertrauen, dass dieser große Wunsch „wirk-lich“ werden und sich erfüllen kann: „Ich möchte wieder sehen können!“ (Mk 10,51).

Leider gelingt es nur wenigen Menschen, Religion, Glaube und christliche Spiritualität losgelöst vom kirchlichen Machtapparat zu sehen. Die meisten, zumal christlich Sozialisierten, werfen alles in einen Topf und versehen es mit dem Etikett: „Ungenießbar. Haltbarkeitsdatum abgelaufen“. Das ist nicht verwunderlich, denn was sollen wir machen, wenn das alte Transportgefäß für einen guten Inhalt nicht mehr taugt, aber weit und breit kein neues in Sicht ist? Wie komme ich denn zu diesem lebensspendenden Saft, wenn es kein brauchbares Gefäß mehr dafür gibt? Daher rührt doch die angestrengte Suche vieler: in anderen Religionen (– erweisen sie sich als tragfähiger? –), vermeintlich moderneren Meditationstechniken mit hippen englischen Bezeichnungen (– alter Wein in neuen Schläuchen? –) und bei selbsternannten Speaker-Gurus, die mit ihren Lebensweisheiten via Youtube die Bildschirme und Kopfhörer fluten (– ein Schelm, wer dabei an die Verkaufszahlen ihrer den Buchmarkt überschwemmenden Lebensratgeber denkt? –).

Warum kommt mir dieser Inhalt plötzlich so bekannt vor? Richtig: Das ist das Ende meines 2018 erschienenen Buches, nur in etwas anderen Worten. Das Manuskript von „Feuer der Sehnsucht. Spiritualität einfach leben“3 schrieb ich im Jahr 2016. Damals hatte ich noch mehr Hoffnung auf eine echte und tief greifende Wandlung von Kirche. Papst Franziskus war erst seit kurzer Zeit im Amt und ich wollte noch glauben, er ginge mit seiner Reformbewegung vorsichtig zu Werke, um sein Pontifikat nicht zu gefährden oder gar sein Leben aufs Spiel zu setzen. (Nein, das ist nicht übertrieben. Kriminalität und Vatikan sind leider keine Gegensätze.) Noch vor Erscheinen des Buches zwei Jahre später relativierte ich meine Hoffnung, inzwischen habe ich sie begraben, Auferweckung unwahrscheinlich. Zumindest von oben her wird Kirche sich nicht so fundamental erneuern, dass sie wieder glaub-würdig wird. Damit aber der gute Inhalt wieder weitergegeben werden kann, brauchen wir dringend neue, attraktive Transportgefäße für lebendigen Glauben und eine alltagsrelevante, lebensbejahende Spiritualität.

Die nachfolgend dargelegten Thesen mögen als Diskussionsgrundlage dafür dienen und hoffentlich einen Beitrag zu einem freudvollen Neuanfang leisten. Die „Fridays For Future“-Bewegung bringt in ihren Demonstrationen und Protestmärschen die Dringlichkeit ihrer (und übrigens unser aller!) Anliegen laut und unbequem zum Ausdruck. Einer der im Wechselgesang skandierten Slogans der Klimaaktivist*innen lautet: „What do you want?“ – „Climate justice!“, „When do you want it?“ – „Now!“. Mit voller Überzeugung unterstütze ich die Forderung dieser großartigen jungen Menschen nach dem sofortigen Umsetzen ernst zu nehmender Maßnahmen für eine klimagerechte Welt. Darüber hinaus übertrage ich ihren Schlachtruf auf meine Vision von einem lebendigen, zukunftstauglichen Christentum: „What do you want?“ – „A new religion!“, „When do you want it?“ – „Now!“.

9,5 Thesen für ein erneuertes Christentum

„Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.“

Franz Kafka

1.Wir besinnen uns auf unseren Religionsstifter.

Wir haben eine immense Chance: In unseren Breiten und bei den nachfolgenden Generationen verkommt Kirche, egal welcher Konfession, mehr und mehr zur Bedeutungslosigkeit. Jetzt stehen wir vor der Wahl: Entweder wir klagen darüber und lamentieren über den Verfall der religiösen Sitten und Bräuche oder gar des oft bemühten sogenannten christlichen Abendlandes. Oder aber wir wachen auf und werden Sehende, wie die von Jesus tatsächlich oder symbolisch geheilten Blinden. Schlagartig erkennen wir: Dieser gesellschaftliche Umbruch eröffnet uns neue Möglichkeiten. Endlich können wir uns rückbesinnen auf diesen großartigen Zimmermannssohn aus Nazareth und auf das, was er uns an Lebensweisheit und spirituellen Erkenntnis- und Zugangswegen vorlebte und eröffnete.

Aus dem Mund bzw. der Feder einer Christin klingt dieses lapidar daherkommende „Wir besinnen uns auf unseren Religionsstifter“ zunächst platt. Dass wir, die wir uns Christinnen und Christen nennen, uns an Jesus Christus orientieren sollten, erscheint wie eine Binsenweisheit, die von konservativen Kirchenleuten mit erhobenem Zeigefinger oft genug strapaziert wird. Ich meine es aber in einem revolutionären Sinn: Vergessen wir einmal alles, was Kirche uns jemals über diesen Jesus erzählt hat. Entkoppeln wir Kirche und Christus und schauen, was sich an heilsamer Essenz aus dieser uralten Botschaft herauskristallisiert. Besinnen wir uns auf das, was Jesus wirklich wollte. Doch woher sollen wir das wissen?

Wir leben in einem unerhört klugen Zeitalter. In rasender Geschwindigkeit werden Neuheiten erfunden und in unserem Alltag implementiert, oft so schnell, dass uns schwindelig wird und uns das Gefühl beschleicht, mit diesem Tempo nicht mithalten zu können. Ich will diese beschleunigten Innovationszyklen an dieser Stelle ausnahmsweise nicht bewerten; das Für und Wider wird von klugen Köpfen immer wieder analysiert und diskutiert. Ich möchte den Fokus auf einen anderen Aspekt lenken: Genauso rasant wie der technische Fortschritt, entwickelt sich auch anderweitig geistige Erkenntnis. Vom einzelnen Gehirn weiß man, dass das Netz der zerebralen Synapsen mit zunehmender Menge an neuronalen Verschaltungen immer schneller wächst. Anders gesagt: Je mehr wir zu einem Thema oder in einem Fachbereich wissen, desto schneller gewinnen wir weitere Erkenntnis. Als 1968 Geborene genieße ich das Privileg, zur ersten Generation zu gehören, die sich auf Knopfdruck das gesamte Weltwissen ins Wohnzimmer oder an die Bushaltestelle holen kann. Wir können uns so schnell informieren und bilden wie keine Generation vor uns.

Diese Möglichkeit des Erkenntnisgewinns hat verschiedene Folgen: Zum einen brauchen wir uns kein X mehr für ein U vormachen zu lassen. Es kann uns nicht mehr irgendein Un-sinn erzählt werden, den wir einfach annehmen und wortwörtlich „nachbeten“ müssen. Wenn wir das doch tun, handeln wir aus reiner Bequemlichkeit, entweder, weil wir zu träge sind, um uns selbst schlauzumachen, oder weil uns das Althergebrachte so viel scheinbare Sicherheit gibt, dass wir nicht bereit sind, diese Komfortzone zu verlassen. Zum anderen suchen sich immer mehr Menschen Spezialgebiete, in denen sie den Fakten und Zusammenhängen auf den Grund gehen. Wir zitieren daheim oft scherzhaft den begnadeten Kabarettisten Hagen Rether, der während seines Bühnenprogramms gern mehrfach betont: „Die finden jetzt alles heraus. Jetzt haben die sogar herausgefunden, dass …“ Genau: „Die“ finden jetzt alles heraus.

Einer dieser geistigen Tiefseetaucher, der nicht müde wurde, jahrzehntelang in uralte Schriften abzutauchen, um daraus Erkenntnis zu gewinnen, war der 2009 verstorbene evangelische Theologe und Aramäischforscher Günther Schwarz.4 Diesem brillanten Kopf haben wir eine für viele Menschen vielleicht bittere Erkenntnis zu verdanken: Vieles von dem, was uns Kirche via Bibel über das vermittelt, was Jesus angeblich gesagt hat, ist schlichtweg falsch. Die Vokabel „falsch“ meint nicht ein paar lässliche Übersetzungsschwächen, die man so oder so betrachten könnte, sondern knallharte Fehler und Unwahrheiten bis hin zu völligen Verdrehungen der Botschaften Jesu in das krasse Gegenteil. Anfangs konnte ich es fast selbst nicht glauben, weil mir die Vorstellung schwerfiel, dass uns diese bekannten Wahrheiten offenbar vorenthalten bzw. von Kirche schlicht negiert oder zumindest ignoriert werden. Dabei liegen die ganzen Forschungsergebnisse vor und kein Geringerer als der über jeden Verdacht, einer abstrusen Strömung anzugehören, erhabene Franz Alt schrieb mehrere Bücher über das, was Jesus wirklich gesagt hat.5 Dennoch schien mir das, was ich da las, so unerhört, dass ich zunächst skeptisch war. Kann es sein, dass das, was uns zeitlebens vorgebetet wird, einfach falsch ist und nicht das, was dieser historische Jesus uns sagen wollte? Doch als ich die Arbeitsweise des Aramäisch-Spezialisten Günther Schwarz, von Franz Alt in seinen Büchern einleuchtend erklärt, begriffen hatte, konnte ich die Wahrheit nicht länger ausblenden: Vieles von dem, was mir mein Leben lang in Religionsunterricht, Gottesdienst und Weiterbildung als unumstößliches Faktum verkauft wurde, stimmt schlicht und ergreifend nicht; Jesus hat es so nicht gesagt. Schon immer gab es im Neuen Testament viele seltsame Formulierungen, die man sich nicht recht erklären konnte, und Anläufe einzelner um Aufklärung bemühter Theolog*innen verliefen im Sande. Selbst Papst Franziskus stößt weltweit auf Widerstand, wenn er endlich den zweifelsfreien Übersetzungsfehler im „Vaterunser“ ausmerzen will, der jeden ins Stocken kommen lässt, der nicht einfach etwas daherplappert, sondern mitdenkt, was er sagt: Es heißt nun einmal nicht „Und führe uns nicht in Versuchung“, sondern „Lass retten uns aus unserer Versuchung“6 oder „Lass uns nicht in Versuchung geraten“. Dank des Engagements von Papst Franziskus brachte es dieser völlig widersinnige Übersetzungsfehler, der einen verführerischen Gott vorgaukelt, zumindest zu einiger Berühmtheit. Doch dass es darüber hinaus in der Bibel vor solcherlei sinnentstellenden Fehlern nur so wimmelt, überraschte mich nicht nur, sondern traf mich tief. Wie kann dieser zentrale Text, der – neben dem ohnehin schwer in unsere Lebenswirklichkeit zu übertragenden Alten Testament – die Grundlage unserer Buchreligion bildet, über viele Jahrhunderte hinweg konsequent mit solch eklatant falschen Übersetzungen und Formulierungen sowie hinzuerfundenen Passagen überliefert werden? Die Lehre Jesu wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tod aufgeschrieben und das nicht in seiner Muttersprache Aramäisch, sondern in griechischer Sprache, also auch noch in einer westlich geprägten Sprache statt in einer orientalischen, in der Jesus sprach. Dieser altgriechische Text bildet bis heute die zentrale Grundlage für die Übersetzung des Neuen Testaments in sämtliche anderen Sprachen. Dabei ist die Bibel das am häufigsten übersetzte Buch der Welt. Immerhin sprechen wir da allein beim Neuen Testament von 1.515 Sprachen, in die es komplett übersetzt wurde, und von Teilübersetzungen in weitere 1.135 Sprachen.7 Und das immer von einer falschen Grundlage aus?

Dank der Arbeit von Günther Schwarz könnten wir längst neu durchstarten und uns rückbesinnen auf das, was dieser Jeschu, so die aramäische Kurzform des hebräischen Namens Jehoschua, wirklich sagte. Das große Verdienst des „Jeschu“-Forschers liegt in der Rückübersetzung der auf Griechisch überlieferten angeblichen Jesus-Worte in die aramäische Ursprache, also in die Sprache, in der er tatsächlich sprach und lehrte. In mühsamer jahrzehntelanger Kleinstarbeit, zu Zeiten, in denen Digitalisierung ein Fremdwort war und Sprachstudierende noch mit Zettelkästen statt am Computer arbeiteten, erforschte Schwarz eine Vielzahl altsyrischer Quellen und legte auf diese Weise eine stattliche Vokabelsammlung an, in der er die Wörter um neue Bedeutungsvarianten ergänzte. Als Aramäisch-Kenner wusste er zudem, dass Jesus nicht in Prosa gesprochen haben konnte, sondern in Versform. Diese orientalische Poesie muss nicht nur phonetisch wunderschön gewesen sein, sondern aufgrund der Sprachmelodie und des genau festgelegten Versmaßes auch eingängig genug, um sie sich zu merken. Genau das wollte der jüdische Wanderprediger erreichen: Seine Zuhörerinnen und Zuhörer sollten seine Worte im Gedächtnis behalten. Wie sonst hätten sie sie jemals be-herzigen sollen? Die aramäisch sprechenden Schüler des Rabbi Jeschu, die er bekanntermaßen als Prediger und Botschafter aussandte, brauchten zum Teil Dolmetscher, damit ihre griechischsprachigen Hörer sie überhaupt verstanden. Was beim Simultandolmetschen bis zum heutigen Tag gepatzt wird, kann man als Zuhörer*in mit ausreichend Sprachkompetenz in Ziel- und Ursprungssprache in den Medien oft genug mitverfolgen. Günther Schwarz nutzte also seine Aramäisch-Sprachkompetenz und übersetzte die Lehre Jesu von der fehlerhaften griechischen Einheitsübersetzung unter Berücksichtigung des poetischen Versmaßes, in dem Jeschu gesprochen haben muss, ins Aramäische zurück und von da aus neu ins Deutsche. Und siehe da: Plötzlich ergeben so viele Worte Jesu, die in der landläufigen und gewohnten Übersetzung bei jedem mitdenkenden Menschen bisher nur große Fragezeichen hinterlassen hatten, einen tiefen Sinn.

Bleiben wir beim Stichwort „Sinn“ und schauen ein Beispiel für einen dieser schwerwiegenden Übersetzungsfehler an. In seinem Buch „Die hundert wichtigsten Worte Jesu. Wie er sie wirklich gesagt hat“8 greift Franz Alt die bekannte Stelle aus dem Markus-Evangelium in der geläufigen Einheitsübersetzung heraus: „Habt Salz in euch und haltet Frieden untereinander“. Leicht provozierend fragt der Autor uns Leser*innen, ob wir den Satz „Habt Salz in euch“ verstünden.9 Nein, verstehen wir nicht. Können und müssen wir auch nicht, weil es sich dabei „um eine peinliche Fehlübersetzung“10 handelt. Tatsächlich wird der Begriff „Salz“ und „gesalzen“ im Talmud symbolisch gebraucht und bedeutet im übertragenen Sinn: „scharfsinnig“. So liest sich die Rückübersetzung von Günther Schwarz gleich ganz anders: „Wenn ihr scharfsinnig wäret unter euch – ihr würdet friedlich leben miteinander.“ Plötzlich wird der sprichwörtliche Schuh daraus bzw. ein eingängiges und für jedermann leicht verständliches Wort dieses großen Friedensstifters Jeschu. Nichts bräuchten wir mehr für unsere Welt als genau diesen Scharf-sinn, der endlich all die unheilvollen Kriege und un-sinnigen Konflikte beenden würde. Wenn wir uns auf dieses einfache Wort zurückbesinnen, können wir sofort anfangen mit einem friedlichen Miteinander, jede und jeder in der eigenen kleinen Welt.

Wir können uns hier nicht mit den vielen anderen falsch überlieferten Jesus-Worten beschäftigen, ebenso wenig wie mit den ganzen Übersetzungsfehlern, die beharrlich weitertradiert werden. Erwähnt sei noch einer der folgenschwersten Fehler, der das Christentum unglaubwürdig und lächerlich macht und an dem vor allem die unbelehrbare und veränderungsresistente katholische Kirche dogmatisch festhält: „Jungfrau“ statt „junge Frau“. Jeschu war der Sohn von Josef und Maria und er behauptete noch nicht einmal von sich selbst, Gott zu sein, geschweige denn, von einer Jungfrau geboren worden zu sein, sondern von der vermutlich 16-jährigen Maria, eben einer jungen Frau.11 Für alle weitere Erhellung und „Auferweckung“ empfehle ich wärmstens die Bücher von Franz Alt sowie die bereits zitierte Website von Günther Schwarz, auf der sein Sohn die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit der Öffentlichkeit zugänglich macht.12 Die Früchte dieser Arbeit sind also nicht irgendein schwer zugängliches Geheimwissen oder anderweitig schwere Kost. Im Gegenteil: Die Erläuterungen zur Entstehung der Übersetzungen sowie die Rückübersetzungen selbst lesen sich spannend wie ein Krimi und man fällt von einem „Aha!“-Erlebnis ins nächste. Warum also haben diese Erkenntnisse nie Einzug gehalten in die gängigen Bibelübersetzungen, Kommentare und liturgischen Bücher? Mit Franz Alt gefragt: „Wovor haben die christlichen Kirchen eigentlich Angst? Vor der Wahrheit, die in Jesu Muttersprache zu finden ist?“13

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