Das nächste Mal bleib ich daheim

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UNSER NEUES ZUHAUSE

Als wir uns nach zwei Wochen Andentour von Toms Vater am Flughafen verabschieden und ohne ihn mit dem öffentlichen Bus nach Lima zurückkehren, bin ich nach zweiundzwanzig Stunden Fahrt und nach eineinhalb Monaten des Reisewahnsinns mehr als erleichtert, endlich, endlich in meinem neuen Zuhause anzukommen. Für peruanische Verhältnisse ist die Wohnung ein wahrer Palast, frisch renoviert, mit Balkon und gut abgesichertem Eingangstor. Tom hat sie spärlich, aber sehr liebevoll und völlig ausreichend möbliert, mit einer Mischung aus Ausgeliehenem, Gebrauchtem und Selbstgebasteltem aus Altholz und Gemüsekisten vom Markt. Was bei uns als hip gelten würde, ist hier einfach nur gesunder Menschenverstand. Stolz präsentiert Tom mir den kleinen rosa Handspiegel, den er im ansonsten spiegellosen Badezimmer für mich installiert hat. Wir finden unsere Upcycling-Regale und die schon etwas von Termiten befallenen Schränke großartig und freuen uns allgemein, dass wir in den nächsten Monaten extrem energiesparend leben werden: So wie alle in Peru haben wir einen Gasherd, Heizungen gibt es hier nicht, Warmwasser ebenso nicht. Das kalte Duschen ist etwas gewöhnungsbedürftig, vor allem bei sechzehn Grad Tagestemperatur. Wir entscheiden uns außerdem gegen die Anschaffung eines Kühlschranks – vier Monate werden wir es wohl ohne aushalten. Dafür müssen wir akzeptieren, dass es in Peru praktisch keine Mülltrennung gibt. Mit etwas Mühe und viel Nachfragen erfahren wir nach einigen Wochen, dass es eine Sammlung für Recyclingmüll gibt. Die Abholzeiten der Müllsäcke sowie das vorherrschende Trennungssystem durchschauen wir bis zum Schluss nur schwer. Lima versinkt im Plastik. Jedes Gewürzsäckchen wird nochmals in ein Plastiksäckchen verpackt, sich gegen das Einpacken oder sogar doppelte Einpacken zu wehren, ist oft mühsam oder unmöglich. Die Bea Johnsons der heilen Zero-Waste-Welt behaupten immer, verpackungsfrei einzukaufen sei total einfach. In Ländern, wo alles auf Märkten verkauft wird, noch viel leichter. Ich schäme mich also für meine Inkonsequenz, dass ich zwar versuche, früh genug »Sin bolsa, por favor« zum Verkäufer zu sagen, aber dann nicht protestiere, wenn er aus jahrelanger Gewohnheit zum Plastiksack greift. Tom tröstet mich zwinkernd: »Wir brauchen die sowieso als Müllsäcke.« Ich schaue ihn daraufhin nur strafend an. Manchmal marschiere ich ganz stolz mit einer Tupperdose zum Laden an der Ecke und lasse mir Frischkäse vom großen Laib herunterschneiden, reiche die Dose über den Tresen und bitte die Verkäuferin, den Käse dort hineinzugeben. Als ich die Dose zurückbekomme, liegt der Käse darin – in einer Plastikfolie. Mit der Zeit wird es besser, denn ich kenne die Leute, bei denen ich einkaufe, ihre Gewohnheiten und weiß, wie ich es anstellen muss, damit ich zu meiner verpackungsfreien Ware komme. Und so kapiere ich auch: Am ökologischsten und ressourcenschonendsten ist Routine. Überall, wo ich neu und fremd bin und die Alternativen noch nicht kenne, muss ich das Angebot zuerst so nutzen, wie ich es vorfinde. Nach über einem Monat in Lima erfahren Tom und ich von einem wöchentlichen Biomarkt in unserer Nähe, bei dem wir von da an regelmäßig einkaufen gehen.

Avenida Jirón Libertad Número 683, das ist unsere erste gemeinsame Wohnung. Wir genießen die Zweisamkeit, die wir lange vermisst haben. Trotzdem ist das halbe Jahr, das Tom und ich getrennt voneinander verbracht haben, wie im Flug vergangen. Mir kommt es vor, als hätte ich gerade erst gestern am Flughafen in Ottawa unter tausend Tränen von Tom Abschied genommen, und doch haben wir beide in der Zwischenzeit so vieles erlebt. Es ist meine Idee gewesen, zeitgleich einen Studienaustausch an verschiedenen Orten zu beginnen. Ich fühlte mich durch meine vielen Reisen und einen Vorsprung von zwei Lebensjahren bemüßigt, eine Grundregel aufzustellen: Die Erfahrung, allein in einem fremden Land nur unter fremden Leuten zu sein, die darf auch Tom nicht auslassen. Zu prägend, zu lebensverändernd war das für mich selbst. Der ideale Plan kristallisierte sich nach und nach heraus: Tom würde mit mir nach Kanada fliegen und den ersten Monat mit mir verbringen, um dann nach Peru weiterzureisen. Nach einem Semester würde ich nach Peru kommen und die restliche Zeit dort mit ihm verbringen. Wir dachten an all die Vorteile unseres Reisemanövers: Wir würden das neue Umfeld des jeweils anderen kennenlernen, einander gut verstehen, wenn wir emotional Ähnliches durchleben, und niemand würde sich zu Hause sitzend im Stich gelassen fühlen. Das alles trug wirklich zum Erfolg unserer Fernbeziehung bei, doch der wesentlichste Punkt wurde mir erst bewusst, als ich die wenigen Wochen zwischen Kanada und Peru in Europa verbrachte: Zwischen Ottawa und Lima lag nur eine Stunde Zeitunterschied. Ein halbes Jahr lang erreichten Tom und ich uns praktisch problemlos abends vor dem Schlafengehen auf Skype. Während ich drei Wochen in Österreich war und die Zeitverschiebung plötzlich sechs Stunden betrug, sprachen wir viel seltener miteinander. Oft blieb dann eine Person enttäuscht zurück, wenn das Gespräch abrupt endete, weil der oder die andere noch etwas vorhatte. Da wurde mir klar, was uns außer unserer Liebe durch diese Zeit getragen hat – eine simple Uhrzeit, die es uns ermöglichte, trotzdem gemeinsam durch den Alltag zu gehen.

Tom zeigt mir sein Lima, all das, wovon er mir auf Skype erzählt hat, und ich fühle mich in den ersten Wochen als Besucherin, die diese fremde Stadt besichtigt. Es ist eine Stadt voller Ruß und Dreck, voller Lärm und Lichter, voller Flugzeuge, die man zwar ständig hört, aber vor lauter Smog nicht sieht. Eine Stadt voller Möglichkeiten, die man sich entweder nicht leisten kann oder zu denen man zu spät kommt. Eine Stadt voller Armut und extremem Reichtum, voller Alarmanlagen und Mauern um die Häuser. Ein etwas verrückter Mann lebt in unserem Viertel, er spielt den Straßenartisten, ohne wirklich etwas zu können, hält die Autos auf, tänzelt und lächelt dämlich dabei. Dann winkt er allen lustig zu, und nächstes Mal sehe ich ihn an einer anderen Kreuzung mit einem riesigen Plastikflieger Kunststücke vorführen. Manchmal ist er auch mit einem riesigen Holzkreuz auf der Schulter unterwegs. Mit seinem langen, grauen Bart, den zerrissenen Kleidern und den Sandalen aus alten Autoreifen sieht er tatsächlich aus wie ein kurz vor der Pensionierung stehender Jesus. Die Leute halten ihn für verrückt. In dieser Stadt erscheint er mir ganz normal.


Nach und nach beginne ich, mich hier einzuleben. Die Frau vom Laden unten, der Bäcker gegenüber, der Bettler an der Straßenecke, die Leute kennen mich inzwischen und grüßen. Die Gringa fällt natürlich auf, nicht nur weil sie selten Plastiktaschen annimmt, sondern auch optisch. Alle sind freundlich zu mir. Wenige hier im Viertel dürften so zuverlässige Kunden sein wie ich, die junge weiße Frau, die noch dazu selten einen Preis nachverhandelt. Doch mit der Zeit lerne ich, mich auf dem Markt beim Kauf von Früchten und Gemüse nicht linken zu lassen und, wenn schon nicht den Preis der Einheimischen, dann doch zumindest einen besseren Preis als den üblichen Touristentarif zu bekommen. Als Tom wieder zur Uni muss, habe ich plötzlich wahnsinnig viel freie Zeit, allein. Mir beginnt aufzufallen, dass ich nun seit fast vier Wochen in Lima bin und immer noch kein einziges Mal die Sonne gesehen habe, weil der versmogte Winterhimmel hier konstant grau ist. Es wird Zeit, dass ich mir eine Beschäftigung suche, oder zumindest ein Hobby, einen Sport, Leute, denen ich mich anschließen kann. Auf Studentenpartys von Toms Uni lerne ich nach und nach Leute kennen, mein Spanisch ist dafür gut genug und Schüchternheit schon lange kein Thema mehr. Meine erste Frage, so wie überall, wo ich hinkomme, lautet bald: »Wo kann man hier tanzen gehen?«. Tanzen ist für mich wie atmen, es ist mein Ventil und meine Meditation. In Südamerika sollte es doch hoffentlich leicht möglich sein, andere Tanzbegeisterte zu finden. Doch auch das braucht Zeit, denn die Leute, die mir versprechen, mich in ein paar gute Clubs mitzunehmen, leben nicht nach mitteleuropäischem Terminkalender. Es dauert also ein paar Wochen, bis ich einige Tanzlokale kennenlerne und sie auch gut genug kenne, um notfalls alleine hingehen zu können. Meine neu gewonnenen Freunde nehmen mich außerdem mit zu Akrobatik-Trainings, womit ich bisher kaum etwas zu tun hatte. Auch das macht mir viel Spaß. Was mich aber von Anfang an deprimiert, ist zu wissen, dass das alles nicht lange anhalten wird.

Noch vor einem halben Jahr habe ich mir auf die gleiche Art in Kanada einen Alltag aufgebaut: Sport, Freunde, Partys. Ich war am Ende traurig, das alles zurücklassen zu müssen, ich vermisse manchmal die Orte und Menschen, die ich regelmäßig besucht habe. Zu manchen halte ich Kontakt über Facebook, WhatsApp oder Skype, viele verliere ich schnell wieder aus den Augen. Es sind Vorgänge, die in unserer globalisierten Welt schon normal sind. Wer hält denn heute noch jahrelang Brieffreundschaften à la Jane Austen mit einer Person, der er ein, zwei Mal begegnet ist? Bei manchen Bekanntschaften erwische ich mich aber auch bei dem Gedanken: »Zum Glück haben wir den maximal ein paar Monate am Hals«, und ich erschrecke über meine eigene Abgebrühtheit. Sind Menschen für uns schon so austauschbar geworden wie H&M-Klamotten? Oder will ich mich selbst nur vor dem nächsten Abschiedsschmerz schützen, wenn ich mich auf neue Menschen schon gar nicht mehr richtig einlasse? In Kanada habe ich eine Bekannte aus Wien getroffen, die für ihr Doktorat einige Monate dorthin gezogen ist. Ich fragte sie, wie sie sich eingelebt hat, und sie meinte nur: »Ich hab mir wieder einen Judo-Verein gesucht, die Kollegen in der Arbeit kennengelernt, und dann war’s eh ›Geht schon weiter, normales Leben halt!‹«. Ich war fasziniert. So einfach und unkompliziert sah sie das?! War sie blind oder ich so kompliziert? Ich habe mir auch wieder Möglichkeiten gesucht, um Sport zu treiben und Studienkollegen kennengelernt, aber deshalb führe ich doch nicht gleich wieder das gleiche Leben wie zu Hause – oder? Menschen zu finden, die tatsächlich mit mir auf derselben Wellenlänge sind, denen ich Vertrauen schenke, braucht Zeit. Ich finde den halbjährlichen Wechsel meines Freundeskreises bereits anstrengend. Ich muss an meinen Vater denken, der von jeder seiner Reisen neue Kontakte mitbringt und der an seinem Geburtstag immer ganz stolz aufzählt, aus wie vielen Ländern er bereits Grüße auf Facebook erhalten hat. Dabei weiß ich nur von einer Person, mit der er seither tatsächlich eine feste Freundschaft aufgebaut hat. Und wenn man ihn nach der Zeit des Reisens fragt, dann gibt auch er zu: Viele Abende verbringst du unterwegs trotzdem mit dir selbst. Wie muss es denn jenen gehen, die monate- oder jahrelang permanent ihren Aufenthaltsort wechseln? Reisende sind ständig unter Menschen und doch oft furchtbar allein.

 

NACH HAUSE TELEFONIEREN

Die ersten Reisen, an die ich mich erinnern kann, habe ich mit meinen Eltern und der Familie meines Onkels nach Italien unternommen. Strandurlaub in Jesolo, das Bilderbuchklischee der Neunzigerjahre. Das Viersternehotel hieß »Cambridge«, wie passend für Italien, das Frühstücksbuffet war riesig, zumindest für mich als Siebenjährige, die zuvor noch nie in einem Hotel gewesen ist. Ich ernährte mich trotzdem vorwiegend von der bereits in Würfel geschnittenen Wassermelone, die ich am ersten Tag am Buffet entdeckte. Jeden Tag wachte ich vor allen anderen auf und lief hinunter zum Pool, um eifrig Liegen für alle zu reservieren. Bis meine Eltern zum Frühstück erschienen, hatte ich bereits drei Schüsseln voller Wassermelone verdrückt. Dann blies ich mein Gummikrokodil auf und planschte damit im Pool herum. Nachmittags gingen wir an den Strand, wo meine älteren Cousinen mich bis zur Hüfte im Sand eingruben, während die Erwachsenen im Schatten lasen, schliefen und Zigaretten rauchten – schließlich waren sie im Urlaub. Ich erinnere mich, dass der Sand so heiß war, dass ich zur Strand-Eisdiele rennen musste, um mir nicht die Füße zu verbrennen. Abends vollzog sich immer dasselbe Ritual, das ich liebte: Alle zogen sich schick an, dann gingen wir ins Hotelrestaurant, wo uns ein dreigängiges Menü erwartete. Jeden Tag derselbe Tisch, derselbe Kellner, der mich »Signorina« nannte, wechselnde Pasta-Gerichte mit viel Parmesan und jeden Tag das gleiche Dessert-Buffet, auf das ich mich mit gleichbleibender Begeisterung stürzte. Danach bummelten wir durch die Stadt, mit großen Augen vorbei an den Touristen-Strandshops, vorbei an bunten Luftmatratzen, Flip-Flops und Bolero-Tüchern. In der Ferne sah ich den Luna-Park leuchten, den ich nie erreichen sollte. Ich konnte nur fasziniert die Glücksspielmaschinen und die unglücklichen Menschen, die den Hütchenspielern auf den Leim gingen, beobachten. Mein Vater klärte mich über ihre Tricks auf, während meine Mutter Souvenirs beäugte. Die Abende endeten stets im selben Lokal, wo die Erwachsenen Bier und Wein tranken, während meine Cousinen und ich in der Hollywoodschaukel sitzend selig riesige Schoko-Frappés schlürften. Es war wunderbar. Im folgenden Jahr wiederholte sich der Urlaub fast identisch, bis auf ein paar denkwürdige Ereignisse: Ich lernte im Hotelpool schwimmen, worauf ich mächtig stolz war, ich erlebte unwissentlich mein erstes Déjà-vu, was mich über zwei Jahre lang glauben ließ, dass ich übernatürliche Fähigkeiten hätte, und ich wurde bei einem Tretboot-Ausflug sehr schmerzhaft von einer Qualle erwischt.

Irgendwann, von meinem inzwischen in die Pubertät geratenen Selbst kaum registriert, endeten diese Familienurlaube einfach unkommentiert. Ab diesem Zeitpunkt entwickelten sich die Reisegewohnheiten meiner Eltern in zwei völlig konträre Richtungen. Während meine Mutter endgültig entschied, dass sie nicht gerne wegfuhr, hing mein Vater immer öfter großen Reiseträumen nach. Bereits in seinen Zwanzigern hatten er und seine Kumpels mit ihren Motorrädern die ganze Südhälfte Europas befahren, Griechenland, Türkei, Spanien, alles mit Zelt und wahrscheinlich viel zu viel Alkohol. Später, nach zahlreichen Jahren des Buckelns und Schuftens für die Familie, in denen er sich aus seiner Sicht sonst nichts gegönnt hatte, plante er seine ersten so lange ersehnten Rucksackreisen auf fremde Kontinente: Sein erstes Abenteuer führte ihn für drei Wochen nach Brasilien, zu indigenen Völkern an den Amazonas, die ganz anders waren als alles, was er davor gekannt hat, und die ihn unglaublich faszinierten. Er brachte viele Geschenke mit nach Hause, viel Schmuck, manches sogar mit Anhängern aus Affenzähnen, Taschen und Tücher. Das alles trug ich, inzwischen sechzehn Jahre alt, wie Trophäen in der Schule zur Schau. Alle Nachbarn und Verwandten waren beeindruckt von der Abenteuerlust meines Papas, ich am allermeisten. In unserer öden Kleinstadtwelt war dies eine interessante Neuigkeit für viele, darum zeigte er wochenlang jeden Abend seine Fotos dem ständig wechselnden Besuch. Ich wohnte seinen sich immer ähnlicher werdenden Vorträgen stets bei und wusste schon bald, welche Fotos und Geschichten aufeinanderfolgten. Ab diesem Zeitpunkt war ich angefixt von der Idee der großen, weiten Welt. Als ich siebzehn war und mein Vater mit dreiundvierzig eindeutig in der Midlife-Crisis angekommen schien, machte er entgegen allen Erwartungen in der Familie ernst, meldete bei seinem Arbeitgeber ein Sabbatical an und packte seinen Rucksack für ganze sechs Monate: von Alaska nach Feuerland lautete sein Plan. Was ich heute für ein fürchterliches Klischee halte, war damals revolutionär, zumindest in meiner kleinen Welt. Das Smartphone war erst kürzlich erfunden worden, Papa reiste noch mit Digitalkamera und benutzte unterwegs Internetcafés. Fotos per E-Mail zu versenden war aufwendig und dementsprechend selten. Auf Google Maps und mit Routenplaner verfolgte ich seine Reise, nachdem er wieder eine E-Mail aus einer neuen Stadt geschrieben hatte. Sein Vorbild war das Buch eines typischen Business-Aussteigers gewesen, auch das las ich. Als er zurückkam, ging der Rummel um seine vielen Geschichten und Fotos von vorne los. Sogar mir, seinem treuen Fan, wurden die sorgfältig inszenierten Erzählabende irgendwann langweilig. In den folgenden Jahren, ich war bereits nach Wien gezogen, um zu studieren, zog es meinen Vater immer wieder für längere Zeit in die Ferne – Südostasien, Marokko, Nicaragua, Costa Rica, Kuba … Immer bereitete er sich akribisch mit einem Lonely Planet auf die Reisen vor. Immer zog er dann mit dem Rucksack los. Und immer kehrte er zurück und verkündete lautstark: »Das war das letzte Mal! Ich bin zu alt für das Backpacking!« Doch im nächsten Jahr zog er wieder los. Meine Mutter ließ ihn gelassen ziehen und wiederkehren, ohne dies allzu viel zu kommentieren. Wann immer Freunde oder Bekannte sie fragten, warum sie denn nicht einmal mitfahre, winkte sie nur schulterzuckend ab. Die extreme Reise-Unlust meiner Mutter wurde in unserer Familie über die Jahre zu einem Garanten für Witzeleien. Flugzeugen misstraut sie, Bus- oder Autofahrten sind ihr zu anstrengend. Zugfahren ist zwar in Ordnung, aber dann ist da noch das In-fremden-Betten-Schlafen, das Kofferpacken, das Sachen-Daheim-Lassen, und und und … Kurz: Sie ist gern daheim und hat kein Bedürfnis, die Welt zu erkunden. Trotzdem hat sie auch mich nie zurückgehalten, wenn mich das Fernweh packte, sondern immer nur lächelnd festgestellt: »Das hat sie eindeutig von ihrem Vater.«

Eine Lieblingsphrase meines Vaters am Telefon lautet »Lass uns mal wieder skypen«. Ich glaube, die Beherrschung dieser digitalen Kulturtechnik gibt ihm ein starkes Gefühl von Jugendlichkeit und Weltgewandtheit. Also vereinbare ich bald einen Termin für ein Skype-Telefonat mit meinen Eltern und sehe dann die ersten drei Minuten zu, wie Papa mit konzentriertem Blick das iPad so installiert, dass ich ihn und Mama richtig sehen kann. Dann beginnt er mich auszufragen, was ich in Peru bisher erlebt habe, welche Sehenswürdigkeiten im Land ich schon besucht habe, welche Orte in Lima ich schon kenne, welche typischen Speisen ich schon probiert habe. Er wirft mit Begriffen und Namen nur so um sich. Manches bejahe und kommentiere ich – dort ist es schön, das fand ich langweilig, dieses Gericht schmeckt wirklich toll –, andere Begriffe sagen mir nichts. Papa wirkt zufrieden. Ich erzähle von anderen Erlebnissen, Begegnungen mit Einheimischen und schönen, weniger bekannten Flecken des Landes, die uns empfohlen wurden. »Davon habe ich noch nie gehört«, kommentiert er daraufhin, er wirkt irritiert. Schnell bemüht er sich, das Thema zu wechseln, wieder über etwas zu sprechen, bei dem er mitreden kann. Meine Mutter hört aufmerksam zu, ihre Augen scheinen ständig über den Bildschirm zu huschen. Dann fragt sie mich mit neugierigem Blick, ob sie da im Hintergrund tatsächlich ein Regal aus Gemüsekisten in unserer Wohnung sieht. »Kracht das gar nicht zusammen?« Meine Eltern, verschieden wie Himmel und Erde. Was würden sie wohl dazu sagen, wenn ich nach Hause komme und verkünde, dass ich in Zukunft nicht mehr so weit reisen will? Sie würden es mir wohl schlichtweg nicht glauben.

DAS VW-BUS-KLISCHEE UND WARUM ES VÖLLIG VERLOGEN IST

Wenn du Mitte zwanzig bist und irgendwo zwischen Bobo, Yuppie und Hippie mäanderst, dann gibt es nichts Normaleres und Abgedroscheneres, als einen VW-Bus kaufen zu wollen. Außer vielleicht noch den Plan, damit unterwegs zu sein und darin wohnen zu wollen. Zahlreiche Instagrammer promoten ihr supergechilltes, alternatives Van-Life. Obwohl ich nicht einmal einen Instagram-Account habe, war ich genauso klischeehaft wie alle diese Insta-Fans. Ich wollte den Van. Tom wollte den Van. Wir träumten schon lange davon, wollten ein Bett reinbauen, mit der Kiste quer durch Südamerika fahren und jede Nacht am Strand pennen. Quasi einen Testlauf hatten wir bereits vor einigen Jahren durchgeführt, und damals, ganz am Beginn unserer Beziehung, hatte Tom mich von diesem Vorhaben überzeugt. Ich selbst habe davor nie ein Auto besessen, doch mit der Beziehung zu Tom begann auch meine erste emotionale Bindung an ein Auto. Sein alter roter VW Kombi sollte zum selbstgebauten Wohnmobil werden, beschrieb er mir noch am Abend unseres ersten Kusses. Ich glaubte ihm kein Wort, doch ich verliebte mich trotzdem schon in die Idee, auf diese Weise zu zweit durch die Welt zu düsen. Als wir erst wenige Wochen ein Paar waren, startete ich mit meiner Freundin Monika eine seit Langem geplante Rucksackreise nach Korsika. Tom versprach mir: »Wenn du auf dem Rückweg bist, ist das Auto umgebaut und ich hole dich in Venedig damit ab!« Ich war immer noch nicht sicher, ob ich ihm das glauben sollte, doch vierzehn Tage später musste ich es glauben – und ich glaubte es gerne, als ich die geniale Konstruktion von Tischlermeister Tom in Venedig mit eigenen Augen sah: Auf der weggeklappten Rückbank lag eine Holzkonstruktion, obenauf eine komplette, echte Matratze, darunter eine ausziehbare Schublade mit Fächern, die auch als Tisch unter dem Kofferraumdach diente. Ich war hin und weg. Es schlief sich ganz wunderbar in der »Villa on the road«, wie Monika unser neues Wohnmobil vor ihrer Abreise noch liebevoll taufte, und wir beschlossen, uns Richtung Triest aufzumachen. Auf dem Weg blieben wir stehen, wo auch immer es uns gefiel, campten wild im Naturschutzgebiet, entdeckten einsame Strände in verschlafenen Dörfern, genossen Pizze, Gelati e Caffè und waren – wie Frischverliebte nun mal sind – glücklich und nicht aus der Fassung zu bringen. Auch als der Kofferraum sich nicht mehr öffnen ließ und wir das Auto zum Mechaniker bringen mussten, ärgerten wir uns nicht über die Komplikationen, sondern amüsierten uns mehr über den klischeehaften Italiener inmitten seiner Fiat-Oldtimer, der uns mit einem lässigen Spruch auf den Lippen weiterhalf. Selig kehrten wir von unserem ersten gemeinsamen Urlaub zurück und planten gleich die nächste, größere Fahrt mit der »Villa on the road«. In den kommenden Monaten lernte ich in diesem Auto bei jeder Witterung, egal ob Matsch oder Glatteis, und auf jeder Bergstraße zu fahren, überall einzuparken und schlussendlich ein Auto tatsächlich gern zu haben. Im nächsten Sommer machten wir uns auf, mit dem Kombi einen ganzen Monat durch Spanien zu fahren. Und es wurde eine wirklich denkwürdige Reise. Wir wussten bereits, bevor es losging, dass es für das Auto, das schon zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte und sicher keinen TÜV mehr überstand, die Abschiedsreise werden würde. Wir konnten keine groben Mängel feststellen, also planten wir, die ganze Mittelmeerküste Frankreichs und Spaniens hinunterzudüsen. Vier Wochen absolute Freiheit, Wildcamping und Urlaubslaune! Etwa eine Woche vor der Abfahrt zeigten sich ein paar Probleme mit der Gangschaltung, doch die konnte der Mechaniker vorab noch halbwegs lösen. Mit viel Humor nahmen wir auch die Tatsache hin, dass der Beifahrer in Zukunft den Ganghebel auf der Autobahn festhalten musste, damit der fünfte Gang nicht hin und wieder unangekündigt heraussprang. Wir schafften es am ersten Tag bis an die Côte d’Azur und vergaßen gleich in der ersten Nacht, die Autolichter abzuschalten, sodass am nächsten Tag die Batterie leer war. Ein netter alter Franzose gab uns Starthilfe, konnte sich das Lachen aber nicht verkneifen, als er unseren Motor keuchen hörte. Wir ließen uns nicht entmutigen und zuckelten weiter. Wir hatten dem Kombi Spanien versprochen, also sollte er auch nach Spanien kommen! Bald darauf fiel der fünfte Gang komplett aus. Wer im Urlaub ist, hat bekanntlich keine Eile, also fuhren wir entspannt im vierten Gang auf der Autobahn dahin. An der Grenze zu Spanien jubelten wir. Ganz sicher sind wir uns offen gestanden nicht mehr gewesen, ob wir das noch schaffen würden. An diesem Abend erreichten wir sogar noch unser nächstes Ziel, ein verstecktes Cap mit Leuchtturm, wo wir unter dem Sternenhimmel campten. Die holprige, unasphaltierte Straße dorthin gab unserer Kutsche wohl den Rest. Am nächsten Tag schnaufte der Wagen schwer, doch es war Sonntag und alle Werkstätten waren geschlossen. Mit gekreuzten Fingern fuhren wir weiter, inzwischen abseits der Autobahn, auf Landstraßen, immer weiter »al sur«. Bis plötzlich gar nichts mehr ging. Tom konnte noch auf einen Parkplatz einbiegen und testete die Gänge: Er legte den Rückwärtsgang ein – und fuhr langsam vorwärts. Auf die anderen Gänge reagierte das Auto gar nicht mehr. Schweren Herzens ließen wir uns abschleppen, und der Mechaniker attestierte kaltblütig: »Está basura. Bótalo!« Und so lernte auch ich zum ersten Mal das Gefühl kennen, mich schweren Herzens von einem Blechhaufen zu verabschieden. Doch der Traum vom eigenen VW-Bus wurde dadurch nicht zerstört, sondern eher noch mehr geschürt. Das war nur unsere Proberunde gewesen!

 

Noch während ich in Kanada war, wurde uns klar: Ein VW-Bus ist in Peru viel leistbarer als in Europa! Also haben wir es getan, gegen jede Vernunft, ganz bewusst, den Traum vor Augen, mit dem Van eines Tages in den Sonnenuntergang zu fahren. Tom hat für uns beide noch vor meiner Ankunft einen VW-Bus gekauft. Drei Monate später hat er hauptsächlich viel zu viel Zeit und Geld in bürokratische Prozeduren und Reparaturen unserer »(Im-)Mobilie« investiert. Jetzt, da auch ich mich in Peru eingelebt habe, sehen wir ein, dass es in diesem Land viel zu gefährlich ist, im Auto zu übernachten, und bei Hostel-Preisen von maximal fünf Euro pro Nacht auch wirklich nicht lohnenswert. Doch wir freuen uns immer noch an unserer alten Hippie-Karre, fahren damit an den Strand zum Surfen – oder Zusehen – und fühlen uns mit dem Van den Beachboys und coolen Surflehrern total zugehörig. Wir laden am Wochenende alle unsere Freunde ins Auto und machen Ausflüge in Grünzonen an den Stadtrand, um uns dann auf dem Rückweg stundenlang in den Sonntagabendstau einzureihen. Jeder sagte uns, dass es viel zu riskant sei, das Auto nachts auf der Straße zu parken, also muss ein überwachter Parkplatz her, was absurd teuer ist, wie wir feststellen.

Dafür lernen wir Carlos und Julio kennen, zwei reizende Parkwächter und echte Unikate. Carlos bewacht den Autoparkplatz sieben Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag. Seine Schlafkammer liegt direkt über dem Büro der Parkplatzbetreiberin, nur hin und wieder hat er sonntags frei. Er ist praktisch immer da. Der Siebenundvierzigjährige freut sich, zwei Gringos kennenzulernen, und plaudert gerne mit uns. Ich komme manchmal tagsüber auf dem Weg zum Markt bei ihm vorbei und bleibe stehen, um mich mit ihm zu unterhalten. Mit der Zeit erfahre ich, dass Carlos hochgebildet und in Wirklichkeit für seinen Job völlig überqualifiziert ist. Er hat Kommunikationswissenschaften studiert und vier Jahre lang im französischen Kulturinstitut in Lima gearbeitet. Sein fast perfektes Französisch haut mich um. Ich schäme mich wahnsinnig dafür, dass ich ihm so etwas nie zugetraut hätte. Ich frage ihn also: »WAS machst du hier, Carlos?!« Und er erzählt mir von einer kaputten Ehe, von zwei Töchtern, die er selten sieht, von Reiseplänen und von Freiheit, die er früher vermisst hat. Doch wirklich frei ist Carlos jetzt auch nicht. Er verbringt seine Tage hauptsächlich mit Julio, einem kauzigen Rentner mit schlecht rasiertem Bart, Gehstock, runder Brille im Gesicht und schiefen Zähnen. Julio macht die Nachtschichten und bewacht die Autos auf der Straße, die in der Autogarage keinen Platz mehr bekommen haben. Wenn er fertig ist und Carlos mit seiner Schicht anfängt, frühstücken die beiden zusammen. Auch Julio hat eine Ex-Frau und wenig Kontakt zu seiner Familie. Er erzählt mir, dass er früher Pilot war und viel gereist ist, auch in Deutschland war er oft. Stolz präsentiert er ein paar Sätze auf Deutsch. Die beiden Herren fragen mich viel über Österreich, Carlos möchte unbedingt einmal nach Europa reisen. Er gibt mir auch viele Lesetipps, er kennt die großen lateinamerikanischen Autoren gut und schätzt die Poesie. Ich bin immer wieder beeindruckt von unseren Gesprächen, nachdem ich mich verabschiedet habe und nach Hause spaziere. Das ist es für mich wahrhaftig, was »ein Land und seine Leute kennenlernen« bedeutet. Über diese Begegnung vergesse ich fast den ärgerlichen Auslöser dafür – unsere hippe, alte Rostlaube. Täglich wächst unser Credo: »Nach all dem Aufwand müssen wir den Bus jetzt richtig ausnutzen und die Fahrten damit genießen!« Wenn jemand sagt, dass man etwas genießen MUSS, dann ist es eigentlich schon zum Scheitern verurteilt. Wir setzen uns schlauerweise in den Kopf, die mindestens achtstündige Fahrt in die zweitgrößte Gebirgskette der Welt – die Autostrecke von Lima führt auf über 4000 Höhenmeter hinauf – mit dem Bus anzutreten. Zwei Tage lang laufe ich zwischen der Autowerkstatt und Carlos’ Parkgarage hin und her und versuche den Mechanikern Druck zu machen, damit der VW-Bus rechtzeitig zum Tag der geplanten Abfahrt für steile Bergstraßen umgerüstet ist. Sie haben wie gewohnt keine Eile und lassen sich ihre Arbeitszeit trotzdem gut bezahlen. Endlich, mit einem vollen Tag Verspätung, legen wir eines Sonntagmorgens los. Carlos steht extra um vier Uhr früh auf, um uns das Tor zu öffnen, als wir wegfahren, winkt er uns hinterher und ruft »Suerte!«, was wir tatsächlich gebrauchen können. Tom fährt, und wir sind entspannt: Die ersten drei Fahrtstunden führen uns nur an der Küste entlang, erst danach wird es ernst, wenn es hinauf in die Anden geht. Da sitzen wir also zu zweit in einem rostigen Bus, in dem locker zehn Personen Platz hätten, was ja an sich schon eine Perversität für uns deklarierte Ökos ist, und freuen uns an unserer Freiheit. Bevor wir von der Küste in die Berge abbiegen, machen wir halt in einem kleinen Fischerdorf, um eine Kleinigkeit zu essen. Wir parken unser Ungetüm direkt vor einem Café in einer sehr belebten Straße und gehen hinein. Von unserem Tisch aus können wir die Schnauze des Busses sogar sehen, nach weniger als dreißig Minuten verlassen wir das Café wieder. Ihr ahnt wohl schon, was jetzt kommt. Als wir zurückkehren, bemerke ich, dass der Kofferraum offen ist – und unsere Rucksäcke fehlen. Die Polizei, die praktischerweise direkt neben unserem Auto steht, gibt an, nichts gesehen zu haben. Aha. Die beiden jungen Polizisten erklären uns, dass sie hier zum persönlichen Schutz eines Zeugen stationiert sind. Dieser Ort wird mir immer sympathischer. Dann fällt ihnen ein, dass ihr Zeuge eine Überwachungskamera installiert hat, und verschwinden in seiner Wohnung. Kurz darauf kommen sie zurück und erzählen uns, was die Kameraaufnahme zeigt: Drei junge Typen haben binnen Sekunden mit einem Schraubenzieher unseren Kofferraum aufgebrochen und die Rucksäcke mitsamt unserer ganzen Bergsteigerausrüstung mitgenommen. Das Klischee vom reichen, weißen Mann im VW-Bus mit gutem, teurem Bergequipment im Kofferraum dürfte sich auch bis hierher herumgesprochen haben. Nach stundenlanger sinnloser Anzeigenerstattung in einem tristen Polizeikommissariat ohne Fensterscheiben, während der uns der Polizeikommandant noch stolz seine Sammlung konfiszierter Drogen und Schusswaffen vorführt, geben wir auf: Ohne eine warme Jacke oder Handschuhe müssen wir gar nicht erst in die Anden fahren. Und so kehren wir um, zurück nach Lima. Noch bevor wir die Stadtgrenze erreichen, haben wir entschieden: Dieses Auto wird uns keine Freude mehr machen, sondern immer nur noch mehr Ärger. Vierundzwanzig Stunden später steht es bereits wieder online zum Verkauf. Drei Wochen später haben sich immer noch kaum Interessenten gemeldet. Wir müssen zugeben: Wenn sich nicht ein anderes, ebenso illusioniertes Möchtegern-Hippie-Pärchen findet, dem wir den Bus aufschwatzen können, dann werden wir mit dieser Investition ziemlich draufzahlen. Anscheinend wissen die meisten inzwischen, dass Bustickets in Südamerika viel billiger und praktischer sind als ein eigenes Gefährt. Manchmal entdecken wir in den Straßen Limas noch einen bunt bemalten VW-Bus, oft mit argentinischem, chilenischem oder uns fremdem Autokennzeichen. Wenn wir einen Blick hineinwerfen können, dann tun wir das immer noch, aus Neugierde, doch der Neid ist uns längst vergangen. Vielmehr spekulieren wir darauf, zu erkennen, dass die Van-Besitzer ebenfalls mit ihrer Reiseart zu kämpfen haben. Manchmal ist der Innenraum zur Schlafkoje umgebaut, hin und wieder sehen wir richtige Werkstätten durchs Fenster: Künstler, die Schmuck, Dekoratives aus Naturmaterialien oder Kleidung herstellen, scheinen so unterwegs zu sein. Einmal sehen wir sogar eine fahrende Bibliothek. Die Aufschriften auf den Bustüren laden ein, das geplante Abenteuer auf Instagram oder Facebook mitzuverfolgen oder sogar mit Spenden zu unterstützen. Reisen wird immer mehr zum Projekt. Unser Projekt erklären wir endgültig für beendet, als sich endlich ein Käufer findet: Eine Marketingfirma will den Van kaufen und wir übergeben ihn frei von schlechtem Gewissen – diese Karre ist wahrlich geeignet, um als reines Image-Objekt für Bierverkostungen in Einkaufszentren herumzustehen. Meine Erleichterung ist unendlich groß, als ich gemeinsam mit Carlos dem jungen Burschen von der Marketingfirma hinterherwinke, der mit einigen Startschwierigkeiten den Van zur Ausfahrt des Parkplatzes manövriert. Ich grinse über beide Ohren, doch Carlos schaut mich ein wenig bedrückt an. »No te preocupes, Carlos«, lache ich, »continuaré visitándote aqui!«