Liebe würde helfen

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Eva Baronsky | Claudia Brendler

Liebe würde helfen

Ein Staffelroman

Kampa

Katrin

Sie parkt den Wagen, nimmt die Post aus dem Briefkasten, sieht nach oben. Tobias’ Rollläden sind geschlossen. Behutsam lässt sie die Haustür ins Schloss fallen, obwohl sie genau weiß, dass er keineswegs schläft, sondern nur das Tageslicht aussperrt. So wie er neuerdings auch alle Geräusche aussperrt mit seinen Noise-Reduction-Kopfhörern, vermutlich hätte sie die Tür genauso gut fest zuschlagen können. Sie bleibt einen Moment reglos in der Diele stehen, lauscht. Stille. Als wäre sie allein im Haus. Dann trägt sie die Einkäufe in die Küche. Auf dem Küchentisch liegt ein Blumenstrauß, riesengroß, in Papier verpackt, die Stängel ragen in die Luft, sind bereits angetrocknet. Daneben ein aufgerissener Umschlag und eine Karte mit Rosenmotiv und dem Logo eines Blumenservice. Sie liest die Karte, lässt Wasser ins Spülbecken laufen, entfernt das Einwickelpapier und stellt den Strauß ins Wasser. Er kippt zur Seite, ist viel zu groß und zu schwer. Dann geht sie die Treppe nach oben und reißt Tobias’ Zimmertür auf. Wie erwartet sitzt er vor dem Bildschirm, das Zimmer abgedunkelt, nur die Nachttischlampe brennt. Er nimmt sie erst zur Kenntnis, als sie mit dem Deckenlicht Blinkzeichen gibt, zieht eine Seite des Kopfhörers vom Ohr.

»Wie kommst du dazu, meine Post zu öffnen?«, fährt sie ihn grußlos an.

Tobias gibt keine Antwort, wirft ihr nur diesen Blick zu, den er neuerdings draufhat, zwischen Arroganz und demonstrativer Geringschätzung.

»Ich habe dich was gefragt!«

Er hebt die Schultern, sieht wieder auf seinen Monitor. »Wollte wissen, ob er von Marco ist.«

»Nein, er ist nicht von Marco«, erwidert sie aufgebracht. »Wieso hast du ihn nicht ins Wasser gestellt?«

»Weil er nicht von Marco ist.«

Sie starrt ihn an, weiß für einen Moment nicht weiter. »Ich will, dass du die verdammte Kiste ausmachst, du hast lange genug gespielt.«

»Woher willst du das wissen, du warst doch gar nicht hier.« Die Gelassenheit in seiner Stimme treibt sie fast in den Wahnsinn.

»Tobias, ich schalte in zwei Minuten das WLAN ab!«

Wieder Schulterzucken. »Dann kann ich eben keine Hausaufgaben machen.«

Einfach die Tür knallen. Aber das kann sie nicht tun, wird es nicht tun, sie schließt sie nur mit Nachdruck und geht wieder nach unten. Für eine Weile steht sie in der Küche, sinkt schließlich auf einen Stuhl, irgendwas muss sie tun, etwas Schönes, Entspannung, das Leben genießen, das kann doch so schwer nicht sein. Entschlossen öffnet sie eine Flasche Rotwein, schenkt sich ein Glas ein, stellt sich ans Fenster, sieht in die aufziehende Dämmerung. Beim ersten Schluck kommen ihr die Tränen. Sie flucht, stellt das Glas ab, räumt die Einkäufe in den Kühlschrank. Dann holt sie eine Vase aus dem Sideboard im Wohnzimmer und stellt die Blumen hinein. Mindestens fünfzig Euro, vermutlich deutlich mehr. Nutzt aber auch nichts. Sie wirft einen letzten Blick auf die Karte, ehe sie sie mitsamt dem Einwickelpapier in den Müll gibt. Ein Gentleman, alte Schule, einen Versuch war es zumindest wert. Er hat ihr die Tür aufgehalten, ihr aus dem Mantel geholfen, hat ihr den Stuhl zurechtgerückt, ungefragt einen Aperitif bestellt. Als er dann noch aufgestanden ist, weil sie aufs Klo musste, hat sie ihn abgehakt. Irgendwie war ihr das zu viel. Über sechzig, sowieso eine Schnapsidee. Und viel zu klein, sie käme sich lächerlich vor neben einem Mann, der nicht wenigstens einen halben Kopf größer ist als sie, außerdem haben so kleine Männer meistens Komplexe. Sie hat dann angefangen, ihn zu provozieren, hat demonstrativ eine Gegenhaltung zu jedwedem Thema eingenommen, über das sie gesprochen haben, auch wenn sie eigentlich seiner Meinung war, und als er ihr schließlich von der grandiosen Entwicklung des Aktienmarkts berichtet hat – offensichtlich, um durchblicken zu lassen, wie wohlhabend er ist –, hat sie ihm einen so knallharten Vortrag in Kapitalismuskritik hingelegt, dass er sie mindestens für eine Linksradikale halten musste. Offenbar hat nicht einmal das ihn erschüttern können, wie verzweifelt muss man sein? Sie trinkt einen weiteren Schluck Rotwein, öffnet eine Packung Cracker. Natürlich war es ein Fehler, sich von ihm nach Hause bringen zu lassen, sie ist extra zwei Häuser weiter ausgestiegen, doch anscheinend hat er gewartet, bis sie drinnen war, verfluchte alte Schule.

Sie öffnet den Computer, loggt sich in der Singlebörse ein. Kontakt verabschieden. Persönliche Nachricht: Vielen Dank für die Blumen, aber ich möchte keinen weiteren Kontakt. Weg damit. Erleichtert lehnt sie sich zurück, schenkt Wein nach. Dann ändert sie die Sucheinstellungen. Maximal sechs Jahre älter als sie, mit einem Schlag werden nur noch halb so viele Profile angezeigt, 137 statt 298, viel zu wenige, sie erweitert den Entfernungsradius so lange, bis die Zahl der Profile auf über 500 gestiegen ist. Oben klappt Tobias’ Zimmertür, sie hört ihn die Treppe herunterkommen und legt rasch die Website der Stiftung, an deren Forschungsauftrag sie derzeit arbeitet, über die Seite der Partnerbörse. Tobias betritt die Küche mit Kopfhörern, nimmt, ohne sie anzusehen, eine Schüssel aus dem Schrank und schüttet Müsli hinein. Sie beobachtet ihn, er steht abgewandt, ist groß, groß wie ein Mann, wie sein Vater, dabei ist er doch ihr Baby, der Winzling an ihrer Hand. Sie betrachtet seinen fast schon breiten Rücken und sieht ihn gleichzeitig auf seinem Bobbycar, in Matschhose, Mütze und Gummistiefeln, will schreien über das Unwiederbringliche, das Verlorene, und ist im selben Moment unsicher, ob es je da war. Er holt die Milch aus dem Kühlschrank, und spätestens jetzt müsste sie sagen, hey, willst du nicht lieber etwas Richtiges essen, wollen wir nicht lieber etwas Richtiges essen, gemeinsam essen, aber sie tut es nicht, schaut nur, wie er das Müsli in Milch ertränkt, greift nach dem Wein und sagt kein Wort, er würde sie ohnehin nur wieder so anschauen, nach dem Motto: Du hast doch sowieso keinen Bock auf Kochen. Schweigend wartet sie, bis er mit seiner Schüssel nach oben verschwunden ist, schließt das Fenster der Stiftung, unter dem wieder das Partnerportal auftaucht. Mit Marco hat er gekocht, Burger vom Grill mit Pommes-Frites; Männeressen, hat Marco erklärt, als sie angewidert die Nase gerümpft hat über die Grillsaucen, die er angeschleppt hatte, voller synthetischer Zusatzstoffe, das Primitive an ihm war einfach nicht zu übersehen. Sie hält inne, lässt die Erkenntnis in sich hineinsickern: Ganz offensichtlich hatte sie es doch übersehen, am Anfang, als sie ihn kennengelernt und sich mit ihm eingelassen hatte, da war er ihr irgendwie richtig, verheißungsvoll erschienen. Das Fröhliche, Unbeschwerte an ihm, in der Anzeige hatte er sich als verträglich bezeichnet. Sie schaut auf, schaut aus dem Fenster, hinter dem der Himmel jetzt blaulila geworden ist, die noch kahle Birke auf dem Nachbargrundstück hebt sich als schwarzer Schatten davor ab. Wieso hat sie es damals nicht besser gewusst, hat es nicht gleich gesehen, schon sein Name war Hinweis genug: Marco. Das ist aber nicht dein richtiger Name, oder? Eine Kurzform von … ja, von was? Markus? Natürlich sei das sein Name, hat er erwidert, was denn sonst. Ob er noch mehr Namen habe, hat sie ihn gefragt, in der Hoffnung auf einen Johannes oder wenigstens einen Christian, irgendetwas, was nicht so nach Prekariat klingt. Nein, ich heiße einfach Marco, das ist mein einzigster Name. Er hat tatsächlich einzigster gesagt, wieso hat sie damals geglaubt, darüber hinwegsehen zu können? Im Laufe ihrer Beziehung ist es immer wieder vorgekommen, einzigster, und jedes Mal hat sie ihn so angesehen, dass er es hätte merken müssen, aber er hat es nicht gemerkt, es gibt eben auch bei Akademikern Unterschiede. Sie atmet tief durch, trinkt, spürt die entspannende Wirkung des Weins, wahrscheinlich war es einfach wichtig, diese Erfahrung zu machen, damit sie beim nächsten Mal genauer hinschaut. Sie wendet sich wieder dem Computer zu: Singles mit Niveau, unwillkürlich schüttelt sie den Kopf.

In der Zwischenzeit sind zwei Nachrichten gekommen, einer gibt ihr kommentarlos seine Bilder frei, er posiert im Schlabber-T-Shirt vor einem Holzregal, von dem sich eine Efeutute rankt. Sie entsorgt ihn ebenso kommentarlos. Die nächste Nachricht ist hell unterlegt, Vertriebsingenieur (53) verabschiedet sich von Ihnen, immerhin hängt er noch eine Nachricht an, er suche nach einer Partnerin zur Familiengründung. Aha. Sie scrollt durch den Nachrichtenverlauf, ein paar Abende haben sie sich durchaus humorvoll ausgetauscht, kein Wort über Kinder. In ihrem Kopf formt sich eine ziemlich scharfzüngige Antwort, die sie aber nicht loswerden wird, sie kann ihm keine Nachrichten mehr senden, auch sein Profil kann sie nicht mehr aufrufen, dabei hätte sie gern nachgeschaut, ob er bereits Kinder hat. Sie öffnet erneut die Sucheinstellungen und entfernt die Kinderlosen.

Der Himmel ist jetzt nachtblau, in den Fenstern der Häuser gegenüber brennt Licht. Sie schenkt Wein nach. Manchmal denkt sie daran, dass alles auch anders hätte kommen können, stellt sich vor, wie es gewesen wäre, kinderlos, und sie muss an ihre Doktormutter denken, die das Kinderkriegen irgendwie versäumt und sich ersatzweise auf Hauskatzen gestürzt hatte. So, hatte sie sich geschworen, würde sie niemals enden. Aber dann war sie doch plötzlich über dreißig gewesen und hatte nach und nach den Kontakt zu den Freundinnen verloren, die längst geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt hatten. Und die Männer damals waren wie verflucht gewesen, bloß keine Kinder, einer hat vor lauter Angst, sie könnte ihm eins andrehen, keinen hochgekriegt. Mit solchen Typen ist ihr viel Zeit verloren gegangen, wahrscheinlich sind es genau die, die jetzt, mit über fünfzig, auf die Idee kommen, eine Familie zu gründen.

 

Als sie dann schwanger war, hat sie sich manchmal gefragt, ob sie doch hätte warten sollen, auf eine bessere Gelegenheit, ohne Kompromisse, aber sobald ein Kind da ist, sind solche Gedanken nicht mehr denkbar, weil dieses einzigartige Wesen nur auf diesem einen Weg gefunden werden kann. Bilder von Tobias, wie er auf der Decke im Garten liegt, Babylachen im Gesicht, als Fünfjähriger beim Skifahren, und wieder überfällt sie Sentimentalität, dieses Mal so sehr, dass ihr die Augen tränen. Sie steht auf, ohnehin müsste sie etwas essen, sie schnäuzt sich in ein Küchentuch, holt ein Stück Parmesan und Oliven aus dem Kühlschrank, Cracker, Parmesan, Oliven, Rotwein – die Zutaten für einen Abend, wie er sein könnte, wenn nichts fehlte.

Eine neue Mitteilung: Geschäftsführer (51) ist gerade online und schickt eine persönliche, annähernd fehlerfreie Nachricht. Die Berufsbezeichnung macht sie skeptisch, im Zweifel betreibt er ein Fitnessstudio oder eine Imbissbude. Sie antwortet mit ein paar Fragen zu seinem Wohnort und seinen Arbeitszeiten, Kompatibilität sei schließlich wichtig, fügt sie an und bittet ihn, seine Bilder freizugeben. Er bevorzuge ein Treffen statt vieler Nachrichten, der persönliche Eindruck sei entscheidend. Sie denkt an die vielen Male, die sie erwartungsfroh zu einem Treffen gefahren ist, um dann festzustellen, dass das Gegenüber eine Katastrophe war. Er schlägt einen Ort auf halber Strecke vor, etwa fünfzig Kilometer entfernt. Fünfzig Kilometer. Ein ganzer Abend, der dafür draufgehen würde, und die Wahrscheinlichkeit, dass es komplett vertane Zeit ist, liegt ziemlich hoch. Sie überlegt, ob sie ihn gleich wegklicken oder die Entscheidung auf morgen vertagen soll, dabei weiß sie längst, dass auch er eine Enttäuschung ist, und sie hat sich geschworen, sich gar nicht erst wieder in eine Situation zu bringen, in der sie allzu große Kompromisse eingehen würde. Sie klickt ihn weg, ich konzentriere mich gerade auf einen anderen Kontakt. Fertig.

Und nun? Sie hat nie geraucht, wird nie rauchen, doch in letzter Zeit wünscht sie sich manchmal, eine Zigarette zwischen den Fingern zu halten, so wie ihre Mutter das immer getan hat, und jetzt, da sie sich daran erinnert, fällt ihr auf, dass das Ausblasen des Rauchs ihr damals ungeheuer entspannend vorgekommen ist. Zumindest solange sie ein Kind gewesen ist und die Gesundheit der Mutter ihr als etwas Konstantes erschien. Heute sieht sie eine Zigarette natürlich als das, was sie ist: pures Gift, und umso absurder fühlt sich die Sehnsucht an, die sie plötzlich überfällt, als sie sich an den Aschenbecher aus hellgrünem Porzellan erinnert, mit der qualmenden Zigarette darin, der auf dem elterlichen Couchtisch stand. Sie springt auf, durchquert das Wohnzimmer und öffnet die Terrassentür. Atmet die kühle Abendluft ein, es riecht nach feuchter Erde und aufbrechender Natur. In ein paar Wochen wird es um diese Tageszeit hell sein, vor den Lokalen werden die Menschen im Freien sitzen, Paare, niemand wird allein sein, und irgendwo da draußen muss doch, verdammt noch mal, jemand existieren, mit dem sie dort sitzen kann. Sie schließt die Tür, kehrt in die Küche zurück, klickt systematisch ein Profil nach dem anderen an, die meisten hat sie schon gelesen, sie entfernt alle No-Gos, viele bleiben nicht übrig.

Den Radius erweitern. Nichts dem Zufall überlassen. Für ein paar hundert Euro könnte sie bei einem weiteren großen Portal Mitglied werden. Warum eigentlich nicht? Sie öffnet die Seite, klickt sich durch die Anmeldung. Sie zögert, ehe sie auf den Bezahlbutton klickt, fast vierhundert Euro, und das ist schon ein Sonderangebot. Aber was sind vierhundert Euro, sie verdient gut genug, schließlich geht es um ihre Zukunft. Sie gibt ihre Kreditkartennummer ein, dann ist sie freigeschaltet. Sofort macht sie sich daran, ihr Profil zu gestalten, beschreibt sich als witzig und gut gelaunt und wählt ein besonders attraktives Foto aus, Marco hat es aufgenommen, man sieht dir an, dass du glücklich bist.

Noch ehe sie alle Profilfragen beantwortet hat, kommen die ersten Likes und Nachrichten. Energie durchströmt sie, eine gute Entscheidung, und was sind schon vierhundert Euro! Erleichtert lehnt sie sich zurück.

Hanne

Sie hat keine Erinnerung, wie sie hierhergekommen ist. Hierher, vor diese Haustür, die sie kennt, natürlich kennt sie diese Tür, seit mehr als vier Jahren steht sie jeden Mittwoch um sechzehn Uhr dreißig davor und drückt auf die Klingel. Gleich wird sie Tobis Schritte hören, er wird die Tür öffnen, sie werden einander begrüßen, er wird durch den Flur vorausgehen wie immer, und sie wird auch diese Klavierstunde durchstehen. So, wie sie alles durchsteht. Seit fünf Wochen und zwei Tagen geht es nur noch darum, Durchstehen, Durchhalten, Weitermachen, wie, ist erst mal egal, Hauptsache durch. Was hinter dem Durch kommt, kann sie sich nicht vorstellen. Sie muss mit dem Bus hergefahren sein, wie immer. Muss gestanden oder gesessen, aus dem Fenster geschaut oder den Boden betrachtet haben, all die kleinen Pfützen, die die Schuhe der Leute hinterlassen, muss ausgestiegen und den üblichen Weg zu Katrins Haus gegangen sein, vorbei an den Geschäften, Dönerbuden, Pizzerien, Cafés, dem Bioladen, bis zu der ruhigen Seitenstraße mit den Reihenhäusern. Sie kann sich an kein Detail des Wegs erinnern, wo war sie währenddessen, haben Außerirdische sie entführt und wieder abgesetzt? Solche Gedanken fliegen sie jetzt manchmal an, abwegige Gedanken, die sie zum Lachen reizen, eine Verrückte, der Teile ihres Alltags fehlen. Ganz sicher hat sie vor dem Weggehen ihre Zähne geputzt, so sorgfältig wie immer, danach die Zungenreinigung, Zahnseide, antibakterielle Spülung. Der Geschmack von Zahnpasta und Spülung ist verflogen, sie schiebt sich ein Pfefferminz in den Mund und drückt wieder auf den Klingelknopf. Ist heute überhaupt Mittwoch? Ihr Handy ist nicht in der Tasche, wahrscheinlich zu Hause gelassen. Nein, in der Wohnung. Zu Hause gibt es nicht mehr, sie sollte das Wort nicht mehr denken. Sie dreht sich um. Die Straße hinter dem winzigen Vorgarten ist leer. Am Eingang des kleinen Parks steht ein Mann mit Hund. Er trägt einen Hut, einen Cowboyhut aus schwarzem Leder. Kurz fragt sie sich, ob er real ist. Was denn sonst, sie ist nicht verrückt, sie weiß auch, welcher Wochentag ist. Vorgestern war Montag, sie war bei der Therapeutin. Gestern war Dienstag, ein Nachmittag an der Musikschule, die Schüler wie Gespenster, sie selbst ein Gespenst. Das Regentropfen-Lied aus der Klavierschule für die Kleinen; Yann Tiersen, die Filmmusik von Amélie; eine dieser Kitschmelodien aus den Biss-Filmen; Mozart; Bartok; ein Lied aus der Eiskönigin; Ravel; Gershwin. Sie hat funktioniert. Die kleinste Schülerin, kaum sieben Jahre alt, hat nach der Stunde mit dem winzigen Zeigefinger über ihren Handrücken gestrichen, ganz kurz, ganz zart: Bist du traurig, Frau Martini? Sie hat überstürzt aufs Klo gehen müssen.

Der Mann mit dem Hund kommt nun die Straße herunter. Der Hund wieselt voran, schnüffelnd, er ist groß, hell, freundlich. Ein Kinderhund, Familienhund. Sie geht vor zum niedrigen Zaun des Vorgartens, fragt den Mann, wie spät es ist. Als er sein Handy herauszieht, versucht sie, einen Blick aufs Display zu werfen, dort müsste auch das Datum stehen, der Wochentag, zu klein, sie kann es nicht entziffern. Fünf nach halb fünf, sagt er, seine Stimme ist ein bisschen rau. Einer, der sich oft räuspert. Vielleicht erträgt seine Frau das ständige Geräusper nicht und schickt ihn deswegen mit dem Hund raus.

Danke, sagt sie, hält dabei automatisch die Hand vor den Mund, wie immer, wenn jemand nahe bei ihr steht. Nur der Zaun ist zwischen ihnen, und der Mann mustert sie, wirkt, als wollte er noch etwas sagen oder fragen. In diesem Moment hört sie Tobis Schritte im Haus, hört, wie er die Tür aufreißt, und sie bedankt sich noch einmal und geht zurück.

»Ich hab … gerade geübt, hast du schon mal geklingelt?« Tobi steht ihr gegenüber und schaut zu ihr herab. Ist es möglich, dass ein Vierzehnjähriger innerhalb einer Woche um mehrere Zentimeter wächst? Katrin ist klein. In der Schule waren sie ein ungleiches Freundinnenpaar, Katrin und sie. Klein und schmal, groß und plump. Daran muss sie jetzt denken, während sie Tobi ins Haus folgt und sich dabei wieder plump vorkommt. Tobi schlängelt sich durch den Flur, vorbei an herumstehenden Getränkekästen, entschuldigt sich, dass er sie warten ließ, nicht gehört hat. Im Wohnzimmer ist es warm. Und es duftet. Blumen. Ein riesiger Strauß, er beherrscht den Tisch, orange und weiß, der Duft ist stark, ihr wird schwindlig davon. Was daran liegt, dass sie seit Jans Geständnis kaum noch essen kann. Wenn man nicht isst, hat man umso mehr Mundgeruch. Schnell steckt sie ein frisches Pfefferminz in den Mund und sagt: »Schöner Strauß, sind das Fresien?«

Tobi zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, hat Mama bekommen.« Er wendet sich ab, dreht sich zum Klavier, wirft sich fast herum. Sie zieht den Mantel aus und hängt ihn über die Stuhllehne. Ihre Hosen rutschen, passen nicht mehr, dabei hat sie sie erst vor kurzem gekauft. Genau vor fünf Wochen und einem Tag. Dem Tag nach Jans Geständnis, dass es die Neue gibt. Enge Hosen, figurbetonende Pullover, die jetzt an ihr herumschlottern. Tobi sitzt schon auf der Klavierbank, schlägt rasch die Noten auf. Natürlich hat er nicht geübt, wahrscheinlich ein Computerspiel gespielt. Sie zieht einen Stuhl heran. Nicht zu nahe, so wie sie es auch in der Musikschule hält, um niemanden mit ihrem eventuellen Geruch zu belästigen. Jan konnte nichts für seine Geruchsempfindlichkeit. Für ihn hat sie auf Parfüm und Cremes verzichtet, zugelassen, dass er ihr das Deo aussuchte, sogar die Pfefferminzbonbons. Das mit dem Mundgeruch kam erst später in ihrer Beziehung. Diese eine Autofahrt, als er es kaum neben ihr ausgehalten hat, so schlimm muss ihr Mundgeruch gewesen sein. Sie hatte kein Pfefferminz dabei, saß steif, aufgerichtet, sprach nicht mehr, traute sich kaum, auszuatmen. Ihre Zähne sind in Ordnung, der Zahnarzt hat nie eine Ursache gefunden, auch gerochen hat er nichts. Tobi hat schon angefangen zu spielen, die ersten Akkorde des C-Dur-Präludiums. Sie muss sich konzentrieren. Das hat sie auf einer Fortbildung gelernt: Die Augen schließen, nicht die Noten mitlesen – sie kennt das erste Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier sowieso auswendig –, hören, was der Schüler zu geben hat. Tobi hat nach der ersten Modulation von C nach G wie immer Holpriges zu geben, entschuldigt sich, fängt von vorne an. Er riecht nach Schweiß, eine Pubertätsausdünstung, sie kennt das auch von anderen Schülern und Schülerinnen, keine leichte Zeit, wenn man alles verströmt, Hormone, Schweiß, Hoffnung, Verzweiflung, wenn man sich auf den eigenen Körper nicht mehr verlassen kann, wenn er zum Rätsel wird. Sie erinnert sich gut an ihr eigenes Aufgewühltsein in Tobis Alter, während Katrin damals immer gelassen schien, zumindest äußerlich. Wie eng war ihre Freundschaft eigentlich? Hat Katrin gewusst, warum sie in dieser Zeit nur Jacken mit weiten Taschen trug? Wie sie sich für ihre Schaufelhände geschämt, sie immer in diesen Taschen versenkt hat? Außer in der Klavierstunde, da wurde sie dafür gelobt, dass sie mühelos eine Dezime greifen konnte. Aber das zählte nicht, Beliebtheit zählte, Begehrtsein. Katrin hat auf Klassenpartys viel herumgeknutscht, schon mit vierzehn, beinahe schamlos, sie erinnert sich an Katrin auf einer Matratze, während ihr der Klassenkamerad, wie hieß er, Steffen?, den Rock hochschob, im Halbdunkel. Wenn Tobi wüsste, was sie denkt, verdammt, sie muss zuhören, mit geschlossenen Augen, dann hört man nicht nur besser, man riecht auch mehr. Wenn man sich die Welt erschnüffeln will, muss man Augen und Ohren verschließen, Nase am Boden, wie ein Hund, alles erschnüffeln, Ausdünstungsspuren, Hormonspuren, Lebensspuren, Jan und sie haben mal einen Hund anschaffen wollen, es dann doch nicht getan.

Tobi ist wieder hängengeblieben. Ob er nicht lieber etwas Neues anfangen will, fragt sie, den Fluch der Karibik zum Beispiel, das ist ein bisschen leichter und macht sicher Spaß. Tobi schüttelt den Kopf. Er mag dieses Präludium, sie weiß es, er hat es schon öfter gesagt, Tobi ist einer der wenigen Schüler, die freiwillig Bach spielen. Sie gehen die Stelle, an der er scheitert, zusammen durch, es liegt am vierten Finger, er muss den fünften nehmen, sonst stolpert er beim Lagenwechsel. Tobi bemüht sich, streicht eine Locke zurück, seine Haare sind inzwischen richtig schwarz. Bartflaum in seinem Kindergesicht, über der Oberlippe und auf den Wangen. Vor ein paar Jahren sah er Katrin noch ein bisschen ähnlich, inzwischen haben sich wohl die Gene seines Vaters durchgesetzt. Sie weiß wenig über Katrins Exmann. Erst nach Katrins Scheidung sind sie sich wieder über den Weg gelaufen, beim zwanzigjährigen Abi-Treffen.

 

Ob Tobi seinen Vater liebt, mit ihm reden kann, sie würde ihn gern danach fragen. Soweit sie weiß, gibt es eine neue Frau, neue Kinder, auch die Frau verlassen von einem Mann, wegen einer anderen, alle verlassen alle, Patchworkfamilien sind heute die Normalität. Was sich alles geändert hat in kaum drei Jahrzehnten, sie selbst hat sich als Kind noch dafür geschämt, dass sie eine vom Vater verlassene Tochter war. Haltlos, so hat sie sich immer gefühlt, schon als Schülerin, die Musik war ihr Halt, später war Jan ihr Halt, eigentlich will sie in der Therapie über all das gar nicht reden, will einfach nur ihr altes Leben zurück. Die Therapie ist eine Nottherapie. Ein paar Stunden zur Überbrückung, während sie auf einen richtigen Platz wartet. Sie hat sofort nach Jans Geständnis angerufen. Alle Notfallnummern, die sie finden konnte. Dann ist sie einkaufen gegangen. Vollkommen betäubt.

Tobi hat den Lagenwechsel geschafft, scheitert aber an dem nächsten arpeggierten Akkord und beißt auf seiner Unterlippe herum.

»Scheiße. So eine blöde Scheiße«, sagt er, dann entschuldigt er sich. Etwas Tieftrauriges geht von ihm aus, es hat nichts mit verpatzten Lagenwechseln oder verstolperten Arpeggien zu tun. Direkt danach fragen kann sie nicht, sie fragt nur: »Und sonst? Alles okay? Wie geht’s in der Schule?«

»Hab noch so viele Hausaufgaben.« Tobi schaut auf die Tasten. Auch das ist nicht der Grund, sie spürt es. Manchmal erzählt er ein bisschen von der Schule, er hängt in verschiedenen Fächern, nur in Mathe ist er gut. Freunde kommen in seinen Erzählungen nicht vor, das ist ihr aufgefallen.

Ob sie ihm helfen könne, fragt sie, hält dabei die Hand vor den Mund. Ein Dreiwortsatz schießt ihr durch den Kopf: Mundgeruch macht einsam. Aus einem Werbespot für Gebissreiniger, jetzt fällt es ihr wieder ein, sie war noch ein Kind, und die Omis, von denen sich alle abwandten, haben ihr leidgetan.

»Helfen? Bei den Hausaufgaben?« Tobi lächelt sein Zahnspangenlächeln. »Geht das? Ich meine … ich hab Klavierstunde, dafür bezahlt Mama dich doch.«

Es klingt ein bisschen nach Dienstbotentum, genau das ist der Grund, warum sie sich normalerweise weigert, zu Privatschülern nach Hause zu gehen. Nur bei Katrin hat sie eine Ausnahme gemacht, Tobi war neun damals, Katrin im Dauerstress, keine Zeit, ihn zu bringen und abzuholen. Jetzt könnte er längst mit dem Bus fahren, aber es ist dabei geblieben. Im Moment kann sie sowieso nicht in der Wohnung unterrichten. Überall Umzugskisten, die meisten Möbel sind weg. Sie hat noch keine neue Wohnung gefunden, müsste Tag und Nacht suchen, bei diesem schwierigen Wohnungsmarkt und ihrem geringen Gehalt, aber sie sucht nicht, sie tut nichts, als irgendwie durch die Tage zu schwimmen.

»Das ist schon okay«, sagt sie, »zeig mir einfach, was du aufhast«, und Tobi springt auf, kommt einen Moment auf dem Parkett ins Rutschen. Seine riesigen Füße in gestreiften Wollsocken. Soweit sie weiß, strickt Katrin nicht. Vielleicht von der Oma? Der Frau von Tobis Vater?

Im Zimmer ist es dämmrig, sie steht auf und knipst die Lampe über dem Tisch an. Draußen auf der Straße geht der Mann mit dem Hund auf und ab. Was für ein langer Spaziergang. Er trägt nur eine Lederjacke zum Hut, Jeans, Stoffturnschuhe. Kurz hat sie den Impuls, ihn hereinzubitten. Hier ist es warm. Zu warm. Fast heiß. In der Wärme entfaltet sich der Blumenduft, wird immer aufdringlicher. Unangenehm.

Tobi hat seinen Schulrucksack angeschleppt und breitet Blätter auf dem Tisch aus, Texte und Fragebögen. Vor allem die Deutschhausaufgabe macht ihm zu schaffen, Gedichtinterpretation. Damit kann er nichts anfangen, rein gar nichts. Sie setzt sich neben ihn, versucht, die Vase mit den Blumen ein Stück wegzuschieben. Zu schwer, zu voll, der Strauß zu üppig. Tobi zeigt ihr die Gedichte, sie sollen erst nur kategorisiert werden: Romantik, Dadaismus, moderne Lyrik, Rap. Eigentlich nicht schwierig. Eichendorffs Mondnacht. Schwitters. Bachmann: Erklär mir, Liebe. Eine neuere Dichterin, die sie nicht kennt. Den Rapper kennt sie auch nicht. Die Vase ist zu nahe. Dieser Duft. Der süßliche Duft des Verblühens, fast könnte einem schlecht werden. Kommt davon, wenn man die Nasenflügel zu weit aufsperrt. »Nasenflügel«. Sie spricht das Wort aus, ohne es zu wollen, hört sich selbst zu wie einer Fremden. Und spürt sofort Tobis Irritation.

»Könnte auch in einem Gedicht stehen, so ein Wort«, sagt sie schnell und hält sich dabei die Hand vor den Mund. »Was meinst du, in welcher Epoche würden sie solch einen Begriff am ehesten verwenden? In welcher eher nicht?«

Tobi zögert, rutscht auf dem Stuhl hin und her, sie zeigt auf den Eichendorff: »Und meine Nase spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.«

Tobi kichert. »Nice«, sagt er und beugt sich über den Fragebogen. Anscheinend hat er jetzt irgendetwas verstanden, er füllt aus und kreuzt an. Sie hofft, dass er noch mehr aufhat, Mathe, Latein, Physik, egal was.

In der nackten Wohnung, die einmal ihr Zuhause war, hallt jeder Schritt. Diesen Monat zahlt Jan noch seinen Teil der Miete. Ab und zu kommt er vorbei, um etwas zu holen. Viel von ihm steht nicht mehr dort. Sie hatten getrennte Zimmer, jeder seinen Bereich, so wollten sie es: zusammenwohnen, aber nicht zu eng. Ihre Wohnung war auch sein Arbeitsplatz, ebenfalls ihr Arbeitsplatz, wenn sie übte oder zu Hause unterrichtete, die Musikerin und der Grafiker. Jetzt ist er mitsamt seinem Büro bei der Neuen eingezogen, die Neue ist schwanger.

Seine Beteuerungen: Nur Wochen habe die Beziehung gedauert, nur ein paar Wochen habe er sie angelogen, nicht länger, alles noch ganz frisch, und dann gleich schwanger, die Neue will ihn haben, macht Nägel mit Köpfen oder Kinder mit Köpfen, was denkt sie da, es sind die Blumen, die Blumen, dieser Duft hat beinahe etwas Toxisches.

Tobi schiebt den ausgefüllten Bogen zu ihr herüber und greift nach seinem Handy. Sie schaut auf die Kreuze, alles stimmt, soweit sie es beurteilen kann. Auf der Wanduhr ist es Viertel nach fünf, die Klavierstunde ist um.

»Wann kommt deine Mutter denn heute nach Hause?«, fragt sie.

»Ich glaub, sie hat nach der Arbeit noch eine Besprechung.« Tobi tippt auf dem Handy herum, sie spürt, wie er sich bemüht, den nächsten Satz beiläufig klingen zu lassen: »Hab irgendwie Lust auf Pizza.«

»Pizza?«, fragt sie, wozu das Echo, vielleicht, um ihnen beiden Zeit zu geben, denkt sie. Tobi tippt, und sie fragt sich, wo ihr Handy eigentlich ist. Vielleicht hat Jan sich gemeldet. Und wenn.

»Wir könnten uns vielleicht eine holen. Ich hab Geld«, schiebt Tobi schnell nach, und kurz spürt sie seine Einsamkeit, als wäre es ihre eigene. Eine kindliche, ausgelieferte Einsamkeit, zerzauster Jungvogel, weit weg vom Nest. Auch zu Hause kann man sich mutterseelenallein, von aller Welt verlassen fühlen. Sie würde ihm gern sagen, dass sie das versteht, natürlich lässt sie es, sagt nur: »Okay. Gute Idee.« Und versucht ihrerseits, sich ihre Erleichterung – oder Bedürftigkeit – nicht anmerken zu lassen.

Als sie das Haus verlassen, flackern die Laternen auf. Der Mann mit dem Hund ist weg. Wieder der Gedanke, dass er vielleicht nicht real war. Am Ende ist sie verrückter, als sie dachte. Blödsinn, sie hat mit ihm gesprochen.