Buch lesen: «Die Fallen des Multikulturalismus»
Cinzia Sciuto
Die Fallen des Multikulturalismus
Laizität und Menschenrechte
in einer vielfältigen Gesellschaft
Aus dem Italienischen von Johannes von Vacano
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel Non c’è fede che tenga. Manifesto laico contro il multiculturalismo bei Feltrinelli in Mailand erschienen.
© 2018 Feltrinelli, Mailand
© 2020 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
eISBN 978-3-85869-891-9
1. Auflage 2020
Meiner Schwester Serena,
die mir beigebracht hat,
hartnäckig zu sein
Inhalt
Einleitung
Die Prämissen dieses Buchs
Der Aufbau des Buchs
1.Laizität als Voraussetzung der Demokratie
Laizisten und Gläubige, ein falscher Gegensatz
Laizität und Säkularisierung, nicht nur im Westen
Konfessionalismus oder Laizität – tertium non datur
Laizität als Selbstbestimmung
2.Religion als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen
Gegen den Essenzialismus
Religionen im Diesseits
Privilegien der Religionen
Fundamentalisten aller Länder vereinigt
Fundamentalismen und Frauenrechte. Warum Feminismus ausschließlich laizistisch sein kann
3.Der Islam – eine neue europäische Religion
Die vielen Gesichter des Islams in Europa
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Islamophobie
Die »Kopftuchfrage« – worum es nicht geht
Kopftuch und Entscheidungsfreiheit
Die Bedeutung des Kopftuchs und seine politische Verwendung
Verbieten oder nicht verbieten – das ist hier nicht die Frage
4.Die Aporie der Identität
Das Bedürfnis nach Identität
Vom Individuum zur Gruppe und andersherum. Die Wege der Identität
Auf der Seite des Individuums, gegen den Individualismus
Universale Emanzipation versus identitäre Anerkennung
5.Individuum versus Gemeinschaft. Multikulturalismuskritik aus kosmopolitischer Perspektive
Die Täuschung des Multikulturalismus
Das Missverständnis des »Respekts« und die unbewussten Rassisten
Gruppenrechte – eine Contradictio in Terminis
Finger weg von den Kindern
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich
Die Light-Variante des Rechtspluralismus. Akkomodationismus und Pontiuspilatismus
Ein Beispiel von Rechtspluralismus: die Scharia-Tribunale
Der kosmopolitische Standpunkt
Als Schluss. Für ein Projekt universaler Emanzipation
Anmerkungen
Bibliografie
Dank
»Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig.«
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Einleitung
Die Prämissen dieses Buchs
Diese Untersuchung geht von der ganz allgemeinen Prämisse aus, dass wir in Europa heutzutage in Gesellschaften leben, die in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht immer komplexer werden. Diese Situation rührt zum Teil von den Migrationserscheinungen her, die unsere Epoche prägen, zum Teil aber auch vom generellen Verlust eines einheitlichen kulturellen Horizonts innerhalb der jeweiligen politischen Gemeinschaft. Mit anderen Worten, unsere Gesellschaften werden immer inhomogener, was sicher auf neue kulturelle Elemente zurückgeht, die von außen eingegeben werden, was aber auch an zentrifugalen Schüben im Inneren liegt, die flüchtige Gesellschaften ausmachen.1
Gegenüber dieser Tatsache lassen sich drei verschiedene Standpunkte einnehmen: Erstens kann man sie per se als einen Unwert betrachten und folglich eine Rückkehr zu möglichst homogenen Gemeinschaften herbeiwünschen (sofern es überhaupt jemals Gemeinschaften einer gewissen Größe gegeben hat, die man wirklich homogen nennen könnte). Das führt unmittelbar – und notwendigerweise – zu einer antidemokratischen, identitären und extrem rechten Politik. Zweitens kann man sie per se als Wert betrachten und sich einer »unsichtbaren Hand« anvertrauen, die dieses Gemenge mit der Zeit schon in Einklang bringen wird (eine fideistische Haltung, die an Aberglauben grenzt). Drittens kann man sie als hochgradig ambivalentes Phänomen betrachten, das keine intrinsische Rationalität aufweist und weder einen eigenen Zweck verfolgt noch per se einen Wert oder Unwert darstellt, als ein soziales und menschliches Phänomen, das daher mit einer kritischen Haltung und mithilfe einer entschlossenen politischen Vision untersucht, verstanden und behandelt werden muss. Eine solche kritische Haltung ist meiner Meinung nach als einzige einer demokratischen und progressiven Betrachtungsweise angemessen.
Neben diese faktische Prämisse wird eine Wertprämisse gestellt, eine eindeutige ethisch-politische Ausrichtung. Im Folgenden wird dargelegt, weshalb unter Voraussetzung der genannten Fakten und aus der genannten ethisch-politischen Perspektive die vorteilhafteste Haltung eines freiheitlich-demokratischen Staates angesichts dieser Komplexität eine strikte Laizität ist.
Im Gegensatz zur Aussage Jürgen Habermas’, dem zufolge »in komplexen Gesellschaften die Gesamtheit der Bürger nicht mehr durch einen substanziellen Wertekonsens zusammengehalten werden kann, sondern nur noch durch einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung und Machtausübung«,2 muss man meiner Meinung nach gerade in komplexen Gesellschaften unbedingt einen Kern gemeinsamer substanzieller Werte identifizieren. Dieser Kern darf ruhig klein sein, wenn er nur stabil ist, und er muss, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Menschenrechte und Laizität enthalten.
An dieser Stelle muss die ethisch-politische, also normative Betrachtungsweise unterstrichen werden, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Allzu häufig wird nämlich im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs der normative Ansatz zugunsten einer Sichtweise vernachlässigt, die als deskriptiv und soziologisch gilt und vorgibt, neutral zu sein. Der Verzicht auf eine normative Herangehensweise bedeutet jedoch auch, dass man auf die Politik verzichtet und sich schlichtweg von den Ereignissen mitreißen lässt, als ob die Geschichte bereits in Stein gemeißelt wäre.
Um diese Gefahr zu verdeutlichen, sei zitiert, was der französische Politikwissenschaftler und renommierte Islamexperte Olivier Roy im Hinblick auf Zwangsehen schreibt – eine Entwicklung, die sich leider auch in Europa wieder zunehmend ausbreitet: »Die Presse spricht ständig von ›Zwangsehen‹, dabei sind die meisten dieser Ehen keinesfalls ›erzwungen‹, sondern ›arrangiert‹, was bedeutet, dass das Mädchen sich dafür entscheidet, mitzuspielen.«3 Das klingt, als würde das Fehlen physischer Zwänge genügen, um den Zwangscharakter zu eliminieren. Eine Beobachtung der tatsächlichen Dynamiken solcher Eheschließungen – was selbstverständlich unverzichtbar ist, um das Phänomen zu analysieren – ersetzt jedoch keinesfalls die ethisch-politische Einschätzung: Eine Ehe ist »erzwungen« nicht bloß in den seltenen Fällen, in denen physischer Zwang ausgeübt wird, sondern immer dann, wenn der Wille derjenigen, die eine Ehe einzugehen im Begriff sind, nicht beachtet, erstickt, untergeordnet, unterdrückt oder auch nur verfälscht wird. Und im Fall der sogenannten »Kindsbräute« handelt es sich ausnahmslos um Zwangsehen, per definitionem, selbst wenn eine ausdrückliche Zustimmung seitens der Braut vorliegen sollte: Angesichts ihres Alters – fünfzehn, dreizehn, manchmal sogar bloß elf Jahre – kann nicht von einer wirklich freien Entscheidung ausgegangen werden. Es sind zahllose Ursachen denkbar, weshalb ein Mädchen, um es mit Roy zu sagen, »sich dafür entscheidet, mitzuspielen«, was aber das »Spiel« keinesfalls weniger erzwungen macht.
Um die Dinge nicht beim Namen nennen zu müssen, geht Roy dazu über, sie als »komplexe Beziehungen« zu bezeichnen, von denen »manche mit einer gewissen Regelmäßigkeit in Dramen« mündeten.4 Da Worte die Voraussetzung für das Handeln sind – nur wenn eine Sache benannt ist, kann man sie erkennen und entsprechend agieren –, erfährt unsere Herangehensweise an das Phänomen eine radikale Veränderung, wenn anstelle von »Zwangsehen« nun von »komplexen Beziehungen« die Rede ist. Im einen Fall sehen wir davon ab, Urteile zu fällen und einzuschreiten, schließlich handelt es sich um »komplexe Beziehungen«, bei denen zahlreiche Variablen bedacht werden müssen und aus denen man sich vielleicht besser heraushält. Im anderen Fall wird jedoch sofort unsere Entrüstung mobilisiert, und wir setzen uns dafür ein, einen Vorgang zu beenden, der einige der grundlegendsten Menschenrechte verletzt, und zwar in der Mehrzahl der so geschlossenen Ehen die von Frauen und Mädchen.
Vielleicht sollte bereits im Voraus auch klargestellt werden, dass im Folgenden die Äußerungen sich auf Europa beziehen. Wenngleich die Prinzipien, auf denen dieses Buch fußt, wie alle Prinzipien einen universellen Anspruch erheben, wurde es vor dem aktuellen europäischen Hintergrund verfasst. Somit ist der Bezugsrahmen zwar eingeschränkt, gleichzeitig aber präzise.
Nicht zuletzt geht diese Arbeit von der Überzeugung aus, dass im politischen Denken der Linken (dem dieses Buch zuzuordnen ist) ein großer Fehler begangen wird, wenn man die außergewöhnliche strukturelle Macht gerade jener Elemente unterschätzt, die allzu häufig als untergeordnet, oberflächlich, »überstrukturell« abgetan werden; gemeint ist die Macht, soziale Dynamiken und Beziehungen zu formen. Sämtliche Punkte, die in diesem Buch behandelt werden – Religionen, Kulturen, Laizität, Identität, Menschenrechte –, sind oft von der Linken vernachlässigt worden, wo stattdessen die vorherrschende Tendenz, die Lösungen an immer anderer Stelle suchen zu wollen, zu der Überzeugung geführt hat, dass ausschließlich oder zumindest hauptsächlich wirtschaftliche Mechanismen die sozialen Kräfteverhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen bestimmten.
Die Tatsache, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie wir sie inzwischen schon seit einigen Jahren durchleben und die heute durch die Pandemie weiter verschärft wird, kulturelle und religiöse Elemente wieder großen sinn- und identitätsstiftenden Wert einnehmen, beweist im Gegenteil, dass sie einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Gefüge haben, der auch wirtschaftliche Verhältnisse und Generationen überwindet. Man ist sogar fast geneigt zu sagen, dass sie viel eher struktureller Natur sind als die Dynamiken, die traditionell in diese Kategorie eingeordnet werden, und es ist zu bezweifeln, dass die aus den kulturellen und religiösen Aspekten erwachsenden Probleme sich in einer harmonischen Welt vollkommener Gleichheit wie von Zauberhand in Wohlgefallen auflösten. Genau das, dachte Engels, werde im Hinblick auf den untergeordneten Status der Frau geschehen: »Die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe ist einfache Folge seiner ökonomischen Vorherrschaft und fällt mit dieser von selbst.«5
Kurz, immer gibt es Wichtigeres, an anderen Stellen, um das man sich zuerst kümmern muss.
Der Aufbau des Buchs
Das Buch entwickelt fünf Argumentationsstränge, denen jeweils ein Kapitel entspricht. Im ersten Kapitel wird ausgeführt, dass mit dem Begriff Laizität nicht eine ontologische Lesart gemeint ist, sondern eine transzendentale. Laizität wird hier als Zusammenspiel der Voraussetzungen gedacht, die es den unterschiedlichen Varianten von Religion (und, ganz allgemein, unterschiedlicher Weltsichten) ermöglichen, Ausdruck in einer pluralistischen Gesellschaft zu finden, und die zudem die Menschenrechte gewährleisten. Sie sind keinesfalls bloß prozeduraler oder formaler Art, wie man vielleicht zu glauben könnte, sondern von ganz substanzieller Natur (angefangen, beispielsweise, bei der Bildungspolitik). Sie legen die Prinzipien fest, von denen für keinen Gott abgewichen werden darf. Laizität wird hier also nicht als der eine Pol einer Symmetrie verstanden, sondern als vorpolitische Voraussetzung für das zivile Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft.
Im zweiten Kapitel wird erläutert, dass es in dieser Schrift nicht um den »Wahrheitsgehalt« der verschiedenen Religionen geht, sondern dass ihr »Handeln in der Welt« reflektiert wird. Religionen werden als soziale und kulturelle Phänomene betrachtet, um zu untersuchen, wie sie den Rest der Gesellschaft beeinflussen und wie sie umgekehrt von ihr beeinflusst werden. Ganz und gar abseits der Stoßrichtung dieser Arbeit liegt die Ermittlung der Botschaft und ihres Wahrheitsgehalts dieser oder jener Religion. Es soll ausschließlich um ihr Handeln im Hier und Jetzt gehen, insbesondere im europäischen Kontext, der, wie erwähnt, den Bezugsrahmen des Buches bildet. In diesem Kapitel wird auch zu erklären versucht, weshalb von den zahlreichen kulturellen Elementen, die zur Komplexität unserer Gesellschaft beitragen (Sprache, Gewohnheiten, Bräuche), Religionen, aufgrund des privilegierten Status, den sie heute genießen, das größte Konfliktpotenzial verheißen. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass das Abdriften in den Fundamentalismus (der sich am liebsten auf die Rechte und Freiheiten der Frauen stürzt) nicht irgendeiner bestimmten Religion eigen ist, sondern Teil einer jeden Glaubensrichtung.
Im dritten Kapitel wird es um das gehen, was man de facto als eine neue europäische Religion betrachten muss, den Islam. Es wird argumentiert, dass es »den Islam« gar nicht gibt, sondern viele Islame, und dass – genauso wie bei jeder anderen Religion auch – man sich aktiv einbringen und anstrengen muss, um die kulturelle Vorherrschaft nicht den Fundamentalisten zu überlassen. Denn zusammen mit den christlichen Fundamentalisten, die wir allzu gut kennen, stellen sie heute in Europa die größte Herausforderung für die Laizität dar. Um dieses Vorhaben auszuführen, muss man die neue europäische Religion in all ihren Ausprägungen untersuchen, frei heraus alles damit Zusammenhängende ansprechen, ohne irgendein Tabu hinzunehmen, und sich kategorisch dem instrumentalisierten Vorwurf der Islamophobie entziehen, der häufig als Totschlagargument verwendet wird, um jede Diskussion im Keim zu ersticken. In der öffentlichen Debatte ist nichts heilig.
Das vierte Kapitel ist ganz der Zergliederung des Konzepts »Identität« gewidmet, das heutzutage in vielen politischen Positionen eine zentrale Rolle spielt. Dabei soll die Existenz einer multiplen Identität angenommen und verteidigt werden, die sich in ihrer Summe dennoch auf jedes einzelne Individuum bezieht. Dieses ist Träger einer einzigen unverwechselbaren Identität, die sich ihrerseits aus zahlreichen Zugehörigkeiten oder, besser, Herkünften zusammensetzt, welche wiederum miteinander verwoben sind, und zwar auf eine je unterschiedliche Weise nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch in jedem einzelnen Individuum, abhängig davon, in welcher Phase und welchem Bereich seines Lebens es sich gerade befindet. Es handelt sich also um einen Identitätsbegriff, der weder statisch noch monolithisch ist, sondern auf intrinsische Weise widersprüchlich und in beständigem Wandel begriffen und in dessen Kern das einzigartige, unnachahmliche Leben eines jeden Menschen steckt.
Ausgehend von diesem kritischen Identitätsbegriff werden anschließend, im fünften Kapitel, die Konzepte Kommunitarismus und Multikulturalismus kritisch hinterfragt. Es wird die Ansicht vertreten, dass ausschließlich einzelne Individuen rechtswürdige Subjekte sein können (als Träger seiner diversen Zugehörigkeiten) und keine Gruppen oder Gruppierungen.
Dabei negiert diese Betrachtungsweise keinesfalls, wie stark die Herkünfte bei der Definition der eigenen Identität ins Gewicht fallen, sondern stellt die Prioritäten auf den Kopf: Das Individuum ist der Träger von Identität und Zugehörigkeiten, es sind nicht die Herkünfte, die das Individuum in einem geschlossenem System definieren. In diesem Kapitel wird eine Kritik des Multikulturalismus vorgelegt, die von einem universalistischen und kosmopolitischen Standpunkt ausgeht, und es werden einige Positionen diskutiert, die zwar von einem kosmopolitischen Ansatz ausgehen, dann jedoch in Richtung multikulturalistischer Thesen abbiegen und so ihre eigenen Prämissen negieren.
»In der politischen Entwicklung menschlicher Gemeinwesen sind wir an einem Punkt«, schreibt Seyla Benhabib, »an dem das unitarische Modell der (Staats-)Bürgerschaft, das den Aufenthalt in einem spezifischen Territorium mit der Unterwerfung unter eine gemeinsame, bürokratische Regierung bündelt, die ein Volk repräsentiert, wahrgenommen als ein mehr oder weniger zusammenhängendes Ganzes, an ein Ende kommt.«6 Eine solche Aussage verleitet viele dazu, den Rechtsstaat infrage zu stellen und damit auch sein Grundprinzip eines einzigen, für alle gleichen Gesetzes zugunsten von Systemen, die stärker vermischt sind, »akkomodationistisch« oder offen pluralistisch, und die mit den Scharia-Tribunalen in Großbritannien bereits in Europa Fuß gefasst haben. Eine solche Betrachtungsweise führt de facto dazu, dass man potenzielle Verletzungen der Menschenrechte innerhalb der unterschiedlichen Gemeinschaften hinnimmt. Genau das wird hier entschieden abgelehnt.
1.Laizität als Voraussetzung der Demokratie
»Die moderne Kultur beruht auf dem Prinzip der Freiheit, wonach der Mensch nicht zum Werkzeug seiner Artgenossen herabgewürdigt werden darf, sondern als selbständiges Lebenszentrum aufgefasst wird.«
Ernesto Rossi, Altiero Spinelli und Eugenio Colorni, Manifest von Ventotene
Laizisten und Gläubige, ein falscher Gegensatz
Rund um den Begriff der Laizität und seine Derivate tobt ein terminologischer Kampf, hinter dem sich ein ideologischer verbirgt. Das Verwenden eines Wortes, den man eine andere, leicht verschobene Bedeutung verleiht, als das Gegenüber ihm zuschreibt, ist ein rhetorischer Zug, der genauso verbreitet wie intellektuell unaufrichtig ist. Daher ist es so wichtig klarzustellen, in welcher Bedeutung das Wort Laizität hier verwendet wird.
Einer der geläufigsten Kniffe, um den Diskurs rund um diesen Begriff zu diskreditieren, besteht darin, die Laizität der Religion beziehungsweise der Religiosität gegenüberzustellen und »laizistisch« als Gegenteil von »gläubig« zu verwenden. So werden künstlich zwei Fronten geschaffen, die der Glaube voneinander trennt, und die Grundlagen für eine endlose Folge von Missverständnissen gelegt.
Stellen wir also klar: Der Widersacher des Laizisten ist nicht der Gläubige, sondern der Fundamentalist1, und die Trennlinie zwischen diesen beiden Fronten ist nicht der Glaube, sondern der Anspruch, dass das bürgerliche Zusammenleben gemäß den Prinzipien des (eigenen) Glaubens organisiert sein müsse und dass die Rechte des Einzelnen den Dogmen des (eigenen) Glaubens untergeordnet werden müssten. Anders gesagt, die Zäsur verläuft zwischen denen, die die (eigene) Religion über jedes andere normative System stellen und verlangen, dass sie erga omnes als absolutes Recht gelte (oder zumindest erga omnes innerhalb der eigenen »Gemeinschaft«2, was, wie noch zu zeigen sein wird, die Probleme nicht löst, sondern neue schafft), und denen, die hingegen innerhalb der Volksgemeinschaft religiöse Normen den Prinzipien der Verfassung und den Regeln unterordnen, die sich eine demokratische Gesellschaft gibt. Letzteres stellt keinen Widerspruch dazu dar, dass ein laizistischer Gläubiger sein Privatleben persönlich nach den Regeln seiner Religion ausgestaltet und dass diese Regeln in der Rangordnung seiner subjektiven Handlungsmaximen ganz oben stehen. Anders gefasst, für den Fundamentalisten ist, ob er gläubig ist oder nicht, die (eigene) Religion die Grundnorm3 der bürgerlichen Ordnung, während für den Laizisten, ob er gläubig ist oder nicht, die Grundnorm der bürgerlichen Ordnung einen konstitutionellen Pakt darstellt, der die Rechte und Freiheit aller sichert.
Der laizistische Entwurf, so Marcel Gauchet, »steht den weltlichen Ansprüchen der Kirche frontal feindlich gegenüber, nicht jedoch der Religion an sich. Das Einzige, was [er] von den Gläubigen verlangt, ist, dass sie sich ihre persönliche Hoffnung auf Erlösung für das Jenseits aufheben und sich darauf einlassen, im Diesseits das Gesellschaftsspiel der Autonomie mitzuspielen.«4 Gauchet bezieht sich hier auf die katholische Kirche, aber was er sagt, gilt natürlich für sämtliche Religionen.
Zu unserem Glück gibt es unter Gläubigen (aller Religionen) viele Laizisten, genauso wie es im Gegenzug zu unserem Leidwesen in der Welt der Nichtgläubigen von Fundamentalisten nur so wimmelt, also von Personen, die zwar nicht gläubig sind, aber nichtsdestoweniger die Meinung vertreten, dass das gesellschaftliche Miteinander und das öffentliche Leben in Übereinstimmung mit dem Moral- und Normensystem einer bestimmten kulturellen und religiösen Weltsicht organisiert sein müsse. Zu dieser letzten Kategorie gehören beispielsweise all jene, die während der Debatten über die europäische Verfassung, unabhängig vom eigenen Glauben, die Meinung vertraten, die »christlichen Wurzeln« müssten in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aufgenommen werden. Grundwerte, die in eine Verfassung aufgenommen werden, verfügen über eine gewaltige normative Reichweite. Die christliche Kultur ist mit Sicherheit eine der vielen Wurzeln Europas, aber aus der gesamten Fülle ausgerechnet diesen einen Beitrag auszuwählen, hätte normativen Wert, nicht bloß deskriptiven. Es käme einer Proklamation gleich, dass Europa sich auf christliche Grundwerte berufen müsse.
Die Laizität ist also keinesfalls der Feind des Glaubens. Im Gegenteil, in einer komplexen Gesellschaft ist die Laizität der wertvollste Verbündete des Glaubens, besser der Glaubensrichtungen. Auch die Gläubigen, alle, nicht bloß die Anhänger der großen Konfessionen, profitieren von einem sozialen Kontext, in dem die Religion Privatsache ist und der Staat allen, nicht bloß den verbreitetsten, mächtigsten, am besten organisierten und reichsten Glaubensrichtungen, die Freiheit zusichert, den eigenen Glauben zu zelebrieren oder auch gar keinem Glauben anzuhängen, und zwar indem der Staat, allgemeiner gesprochen, jedem, ganz gleich ob gläubig, andersgläubig oder nicht gläubig, Grundrechte gewährleistet – eine Aufgabe, die, wie noch zu zeigen sein wird, den Einflussbereich des Staates nicht einschränkt, sondern eher erweitert.
Die Religion in die Privatsphäre eines und einer jeden zu verlagern bedeutet keinesfalls, dass die kollektive Dimension des Glaubens unmöglich gemacht wird. Vielmehr gehen damit zwei Dinge einher: Erstens dürfen weder eine bestimmte Religion noch Religionen im Allgemeinen den öffentlichen Raum strukturieren, also den Raum, in dem allgemeine und gemeinsame Regeln gelten, was andernfalls einer Diskriminierung von Andersgläubigen und Nichtgläubigen gleichkäme. Zweitens darf keiner Religion – wie auch keiner politischen, philosophischen und spirituellen Haltung – zugebilligt werden, die Grundrechte der einzelnen Mitglieder der politischen Gemeinschaft zu verletzen; gemeint sind damit die einzelnen Bürger, ungeachtet ihres Glaubens, einschließlich der Mitglieder der eigenen »Gemeinschaft«.
Die Aufgabe des laizistischen Staates besteht darin, einerseits den öffentlichen Raum und andererseits die Rechte der und des Einzelnen zu schützen. Diese Auslegung der Laizität erfordert es, dass eine Reihe politischer Maßnahmen ergriffen werden, angefangen bei der Schul- und Kulturpolitik, um diese beiden Ziele zu erreichen. Es geht also für den Staat nicht darum, eine bloß gleichgültige Haltung gegenüber den diversen Konfessionen einzunehmen, genauso wenig darum, eine vermittelnde Schiedsrichterrolle zwischen ihnen zu spielen, sondern vielmehr darum, all jene Voraussetzungen zu garantieren – und es sind nicht wenige –, die es jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger ermöglichen, das eigene Leben und den eigenen Wertehorizont autonom zu gestalten.
Laizität wird hier folglich als eine transzendentale Voraussetzung der Demokratie verstanden, nicht als der eine Pol einer Symmetrie, sondern als vorpolitische Notwendigkeit für das zivile Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft, in der ein Weber’scher »Polytheismus der Werte« herrscht, ein Hilfsmittel, das »einen konstitutionellen Raum [kennzeichnet], der allen Zusammenleben und Austausch ermöglicht«.5
Unbestreitbar muss der oder die Gläubige, wenn er oder sie das Prinzip der Laizität akzeptiert, in einem gewissen Maß die Relativität des eigenen Glaubens anerkennen und auf fast schon kantianische Weise zugestehen, dass der Glaube ein »nur subjektiv zureichend[es …] Fürwahrhalten«6 darstellt, aber, im Gegensatz zum Wissen, nicht für alle unwiderlegbar ist. Dieses Zugeständnis ist vollkommen kompatibel mit einem starken Glauben: »Der Ausdruck des Glaubens ist […] ein Ausdruck der Bescheidenheit in objectiver Absicht, aber doch zugleich der Festigkeit des Zutrauens in subjectiver.«7 Einen laizistischen Standpunkt einzunehmen bedeutet für eine Gläubige oder einen Gläubigen demnach nicht, den eigenen Glauben in Zweifel ziehen zu müssen, sondern vielmehr das Akzeptieren der Vorstellung, dass er, da er kein objektiv gültiges Fürwahrhalten ist, nicht der Maßstab für das öffentliche Leben sein kann.