Fahlmann

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Heinz kurvte in den Hof. «Heinz ist da», sagte ich.

«Nackt?», fragte Jens hoffnungsvoll.

«Nein. Viel zu früh. Ich hab erst zwei Tassen Kaffee intus.»

Heinz nahm den Helm ab, brüllte etwas zu mir hoch.

Ich öffnete das Fenster. «Was ist denn los?»

«Früher Termin im Evangelischen. In einer halben Stunde will ich dich im verfickten Büro sehen. Und zieh dir was an, du fauler Sack! Im Schlafanzug nehm ich dich nicht mit.»

«Das Schildchen schaut aus deinem T-Shirt», sagte Susanne.

«Macht nix», sagte Jens. «Hast du gehört? Heinz hat ein schlimmes Wort …»

«Das macht wohl was», sagte Susanne.

«Was heißt ‹intus›?», fragte Jens.

Ich sah wieder aus dem Fenster. Mein Roman machte mich wahnsinnig. Es war eine solche Tortur, berühmt werden zu wollen. Allein deshalb verkniff ich mir heldenhaft dümmliche Ideen und alberne Scherze und verzichtete sogar auf lustige Lieder und Gedichte: Das harte Los desjenigen, der endlich ernst genommen werden will, aber nicht weiß, ob es sich überhaupt lohnt, ernst genommen zu werden. Jens zupfte an meinem Ärmel. «Hast du ihn nochmal gesehen?»

«Nein. Onkel Jörg ist jetzt bestimmt schon angezogen.»

«Bad ist frei!», rief Susanne.

Ich checkte mit Jens noch flott den Inhalt des Ranzens, dann betrat ich das Badezimmer, ein Schemen im beschlagenen Spiegel, feuchte warme Luft, das Pappröhrchen einer Klopapierrolle am Halter, Haare, überall Haare, ich zog die Spülung, man konnte Susannes Haare wie Tang aus der Badewanne fischen, ein nasses Handtuch in der Ecke, ich hob es auf und hängte es an den Haken. Es ist noch ein Tasten, aber ich verfolge ein Ziel, ja, zum ersten Mal seit langer Zeit verfolge ich ein Ziel. Kleine Pause. So, hier bin ich wieder. Machen wir weiter! Seit diesem Mittwochmorgen nahm mein Leben zunehmend groteskere und beunruhigendere Formen an. Der zaghafte Auftakt meiner Schwierigkeiten, den ich vor der gläsernen Theke einer Bäckerei zu lokalisieren glaube, ist dem Lösen der Leinen eines Hochseeschiffs vergleichbar, und mit gedrosselter Geschwindigkeit verlässt es den Hafen, um in tieferen, fast schwarzen Gewässern allmählich Fahrt aufzunehmen.

Natürlich weiß ich, dass es unmöglich ist, einen dermaßen vagen Zeitpunkt wie den «Auftakt meiner Schwierigkeiten» zu bestimmen (sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht), aber jedes Mal, wenn ich über den steil absteigenden Zickzackpfad nachdenke, den mein Leben seither eingeschlagen hat, fällt mir dieser Mittwochvormittag ein, an dem wir so ungewohnt früh mit der Arbeit begannen. Denken heißt vereinfachen, behauptet Strigaljow, und ich glaube in seinem Sinne zu sprechen, wenn ich daraus folgere: Erinnern heißt noch mehr vereinfachen. Im wirklichen Leben gibt es keine Schlüsselerlebnisse. Ein Kind kauft seinem Vater ein rotes Plastikfeuerzeug zum Geburtstag, findet aber erst als Erwachsener heraus, dass sich dieses Geschenk unmerklich in die Drehscheibe eines Sackbahnhofs verwandelt hat, eine dieser Plattformen, auf der die Lokomotive mal in diese, mal in jene Richtung geschwenkt wird. Oder beginnt die Drehscheibe erst im Moment des Erinnerns zu rotieren? Ich weiß es nicht. Feste Meinungen lösen in mir ein gewisses Unbehagen aus, vor allem, wenn sie mit meiner Person verknüpft sind. Letzten Endes weiß ich nur, dass dieser Mittwoch ein gewöhnlicher Arbeitstag war. Vielleicht fing alles früher an?

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr verstricke ich mich, Schiffe, Drehscheiben, Lokomotiven, wahrscheinlich ist es sinn- und ergebnislos, überhaupt einen Anfang finden zu wollen (einen Anfang für was auch immer), werfen doch alle Geschehnisse ihre Angelleinen weit in die Vergangenheit zurück: Es handelt sich um dicke, straff gespannte Schnüre, die sich in der Zeit verlieren. Ihre Haken sind fest verankert, und auch dieser eine Mittwochmorgen baumelt an einem Haken, den ich mir gerne rostig und vom Salzwasser zerfressen vorstelle. Ich tauche am Seil entlang die Zeit hinab, Heinz hupte, ich band die Schnürsenkel, mit jedem Schwimmstoß erinnere ich mich genauer, rieche die Abgase des Transits, dessen Motor schon seit einigen Minuten läuft, tauche tiefer, das Wasser wird kühler, noch tiefer, und schon höre ich das Knirschen des Schotters unter den Sohlen, hörte es laut und ganz nah.

Heinz hupte erneut, ich stieg zu ihm in den Transit und schnallte mich an. «Wegen mir», sagte ich, «kanns losgehen, Keule.» Er mochte, wenn ich ihn «Keule» nannte (das erinnerte ihn an seine Zeiten als Kraftdreikämpfer). Er hieb mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, trat das Gaspedal durch, ließ gleichzeitig den ersten Gang kommen. Reifen schleuderten Schotter auf, der Transit rumpelte über den Bürgersteig, legte sich quietschend in eine Rechtskurve: Wir waren unterwegs. Heinz hielt mir seine Zigaretten hin. Bei dieser Geste handelte es sich um einen in Ehren ergrauten Scherz. Ich hatte nur ein einziges Mal von seinen Filterlosen geraucht, und Heinz freute sich noch heute über meinen Hustenanfall. Ich tat so, als dächte ich über das Angebot nach (auch das gehörte zum Ritual) und lehnte dankend ab. «Na, nimm dir schon eine», drängte er.

«Für mich ist es noch zu früh zum Rauchen.»

«Ach, Quatsch!» Heinz hielt die rotglühenden Drahtkreise des Zigarettenanzünders an die Spitze der Gauloises. «Zum Rauchen isses nie zu früh!» Aschezähne fraßen sich ins weiße Papier, Heinz inhalierte, behielt den Rauch lange in der Lunge und ließ ihn mit einem wohligen Seufzen aus den haarigen Nasenlöchern strömen. «Du weißt gar nicht, was dir entgeht, Kleiner!» Maulfaul zuckte der Kleine mit den Achseln, Heinz schaltete das Radio an, fluchte unflätig, schaltete es wieder aus, langweilte sich demonstrativ und bedachte mich mit vorwurfsvollen Seitenblicken.

Aber ich war weder wach noch gesprächsbereit.

«Halt mal kurz an der Bäckerei.»

«Yup!» Heinz warf einen Blick in den Rückspiegel, trat auf die Bremse. «Na, da glotzt ihr blöd, ihr Mistböcke!» Der Transit kam mit tickender Warnblinkanlage mitten auf der Straße zum Stehen. «Is nich mein Bier, wenn irgendwelche Scheißkerle das Trottoir zuparken!» Heinz zog die Handbremse; den Motor ließ er weiterlaufen. Zwei ältere Damen unterbrachen ihr Schwätzchen und spähten zu dem lauernden Leichenwagen hinüber.

«Willst du auch was?», fragte ich.

«Nö», sagte Heinz. «Bin fett genug.»

«Wie du meinst.» Ich schlug die Wagentür zu, schlüpfte zwischen Stoßstangen durch, und endlich setzte der Kopf der Autoschlange, die sich hinter dem Transit gebildet hatte, zu einem halbherzigen Überholmanöver an. Niemand bedachte uns mit obszönen Gesten, niemand hupte, keiner lamentierte – am Steuer eines Leichenwagens darf man sich alles erlauben. Bürgersteig, Stufe eins, bereits auf der Treppe der Bäckerei Gallinger, Stufe zwei, begannen rosinengespickte, mandelbestäubte Monde mein Denken zu umkreisen. Ich nehme, Stufe drei, eine Schnecke, Ting, ein Schweinsohr, ein … ich starrte die neue Verkäuferin an.

«Eine Schnecke», stammelte ich, «ein Schweinsohr, ein …»

«Ja?»

«Zwei Schnecken, ein Puddingstückchen …»

Sie half mir: «Und ein Schweinsohr?»

Dankbares Nicken, schöne Brüste, die Kuchenzange griff viermal zu, das Mädchen hatte einen schlanken, sportlichen Körper, nascht bestimmt nie vom Teig, dachte ich verzaubert von der Anmut, mit der sie die Kaffeestückchen in die Papiertüte packte, höchstens achtzehn, schätzte ich, sie hatte die kräftigen, sonnengebräunten Unterarme einer Tennisspielerin. Wie zufällig berührten meine Fingerspitzen beim Zahlen ihre Handfläche, ein verwegenes Geldstück sprang auf die Glastheke, schwebte über den Kuchen, den Zöpfen und rollte davon, als ich danach griff. Verwirrt steckte ich mein ganzes Wechselgeld in eine verplombte Sammelbüchse. «Die armen Kinder», bemerkte ich. «Wenn man dieses Elend sieht», ich tippte an die Büchse, «weiß man erst, wie gut es einem selbst geht.» Die Verkäuferin sah mich befremdet an, und da ich keinen blassen Schimmer hatte, über was ich mit ihr reden sollte, verbreitete ich einige Dummheiten über das Wetter, und als meine Fähigkeiten, charmant über die Wetterlage zu dozieren, erschöpft waren, bezog ich die Kleine kurzerhand ein. «Sie freuen sich wahrscheinlich nicht annähernd so über gutes Wetter wie ich.»

Hinter ihr konnte ich in die Backstube sehen: Der Propeller eines Knetarms über der Metallwanne der Knetmaschine; Siebe und Brotschieber an der gekachelten Wand; ein weiß gekleideter Jemand, der nicht gerade aussah, als hätte er das Rad erfunden, machte die Tür von innen zu. Die Verkäuferin schluckte schwer. «Wieso kann ich mich nicht über gutes Wetter freuen?»

«Mmh», sagte ich im verzweifelten Bemühen, Zeit zu gewinnen. «Sie sind doch den ganzen Tag hier drinnen.» Damit wollte ich es bewenden lassen, aber weil sie mich immer noch verständnislos ansah, musste ich weiter ausholen. «Ich bin den ganzen Tag unterwegs. Verstehen Sie? Zwar mit dem Auto, aber man ist unterwegs. Man, das heißt in diesem Fall: ich. Ich bin also unterwegs, den», bloß nicht «lieben, langen» sagen, «ganzen Tag bin ich unterwegs. Im Freien.» Ich lachte herzlich, bis mir klar wurde, dass ich viel zu lange und viel zu laut lachte. Und worüber lachte ich überhaupt? Damit mir das ohnehin dünne rote Fädchen meiner Rede nicht endgültig zwischen den Fingern davonglitt, begann ich den nächsten Satz mit einem altklugen «Unterwegs zu sein …», doch diese drei Worte hatten es in sich: Sie mündeten geradewegs ins Leere. Unterwegs zu sein, ja was denn, was denn, hilfsbedürftig starrte ich ins Brotregal, unterwegs zu sein ist supergut? toll? fabelhaft? unterwegs auf jeden Fall? ist prima? allererste Sahne? in Biskin gebadet? glänzend? angenehm? gute Titten? unterwegs zu sein, bringt Segen? Ting!, rief die Ladenglocke, ich fuhr herum, kleiner Junge, Sommersprossen, für fünfzig Pfennig Colafläschchen. «Die hab ich früher auch gern gegessen», fand ich meine Sprache wieder, lächelte der Schönen zu, griff die Tüte, ging zur Tür, immer unterwegs, wünschte allen einen schönen Tag, Titten, blieb stehen, voll ins Maul, drehte mich um, denn das Wort «Wegschnecke» hatte sich in meinem Denken quergestellt, wieso Wegschnecke, wunderbare grüne Augen, wunderbare skeptisch dreinblickende grüne Augen, scheiße, warum bleibe ich gerade stehen, ungewöhnlich skeptisch dreinblickende grüne Augen, Wegschnecke, ich wünschte dem Jungen mit verschmitzter Stimme einen guten Appetit. Ting! Treppe runter. Autotür auf. Rein. Autotür zu. Wieso, zum Teufel, Wegschnecke?

 

«Mann, das hat ja ne halbe Ewigkeit gedauert!»

Ich legte die Tüte auf die Ablage vor mir und schnallte mich an.

«Sie haben ne neue Verkäuferin», sagte ich.

«Und?» Heinz scherte so abrupt aus, dass die Tüte auf den Wagenboden fiel. «Was ist mit der?»

Ich bückte mich nach den Kaffeestückchen, damit Heinz meinen Gesichtsausdruck nicht bemerkte, denn eine gewaltige Detonation hatte soeben mein Hirn in einen Bombentrichter enormen Umfangs verwandelt, aus dessen qualmendem Krater die Erkenntnis kletterte (wir müssen sie uns als abgerissene, ein weißes Fähnchen schwenkende Gestalt vorstellen), dass ich mich nicht gerade wie Don Juan benommen hatte. Wegschnecke, dachte ich. Schnecken aus der Bäckerei, dachte ich. Schnecken unterwegs, dachte ich. Wenn es darauf ankam, konnte auch ich witzig und charmant sein, aber nicht heute, nicht heute Morgen. Nur gut, dass ich in der schwarzen Jeans und dem Rollkragenpullover nicht wie der typische Angestellte eines Beerdigungsinstituts aussah.

«Würdst sie wohl gern mal flachlegen», sagte Heinz.

Ich reichte ihm kommentarlos das Puddingstückchen. Obwohl er nie etwas mitgebracht haben wollte, kaufte ich ihm immer ein Puddingstückchen, und er freute sich jedes Mal drüber wie ein Schneekönig. «Blinker setzen, du Arschloch!» Heinz überholte rechts, die Ampel sprang auf rot, «War orange!», Gas, Hupe, «Mösenalarm!» Er wich der strampelnden Radfahrerin aus und jagte Rivers of Babylon summend den Transit hoch in den vierten Gang, ohne dass das Getriebe ein einziges Mal mit den Zähnen knirschte. Dass Heinz so souverän Auto fuhr, lag eindeutig an seinem engen Verhältnis zu dem Wagen. Dieser Satz gefällt mir nicht. Klingt irgendwie bemüht. Stimmt. Ich bemühe mich. Das darf man ruhig merken. Ich habe keine Geheimnisse mehr. Wer Geheimnisse hat, muss auf seinen Stil achten. Doch mir geht es um mehr. Sprang der Transit nicht an (was im Winter häufig vorkam), redete Heinz ihm gut zu, und jeden Abend, nachdem er ihn in oder vor der Garage geparkt hatte, tätschelte er ihm zum Abschied die schwarz lackierte Flanke, um kurz darauf die Vespa mit einem Klaps auf den Hintern zu begrüßen. «Die fahrn heute wie die allerletzten Schweine!» Heinz leckte ein Puddingklümpchen vom Handrücken und steckte sich eine Zigarette an. Mittlerweile hatten wir die Vorstadt verlassen. Die Gebäude wurden ansehnlicher, Busse und Taxis tauchten auf, die riesigen Schilder von Einkaufsmärkten, Jugendliche mit verkehrtherum aufgesetzten Baseballkappen, Skateboards, Walkmans, Zeugen Jehovas, gut gekleidete Frauen, ich schmunzelte.

«Was gibts denn da so blöd zu grinsen?»

«Mir ist vorhin was Ulkiges passiert!» Ich berichtete vom nackten Onkel Jörg, woraufhin Heinz einen Witz über einen blutigen Tampon erzählte. Ich verzehrte derweil die zweite Schnecke; das Schweinsohr würde ich mir für später aufheben. Heinz trug Kniestrümpfe mit einem unerhörten Muster: Grüne Rauten erschreckten orangefarbene Rauten. Ihm war es egal, wie er rumlief, solange man keine dummen Witze darüber machte. Mein Freund Achim hatte einmal einen Scherz über Heinz’ «modische Kleidung» gerissen, und Heinz langte über den Tisch, packte Achim am Kragen und schüttelte ihn durch, bis ihm (Hörensagen) das Bier hochkam.

«Hast du noch was in deiner Tüte?»

«Ein Schweinsohr.»

Heinz dachte nach. «Halbes Schweinsohr?»

Ich brach das Kaffeestückchen in der Mitte durch.

«Bistn netter Kerl!» Drei heißhungrige Bisse und er wischte die Krümel vom Anzug, den Onkel Jörg, wenn Heinz es nicht hörte, den «Kommunionsanzug» nannte. Der Stoff spannte über der Brust und an den Oberarmen, ein Lederflicken schützte den rechten Ellenbogen, die Taschen waren ausgebeult. Normalerweise ragten überdimensionale, spitze Kragenzipfel über das Revers, aber heute trug Heinz ein Hemd mit diskretem Kragen, wahrscheinlich sogar das Hemd, das ihm Onkel Jörg zu Weihnachten geschenkt hatte. Mich rührte die Art, wie Heinz sich kleidete. So liefen Junggesellen rum, die sich morgens das Erstbeste aus dem Schrank nehmen, was ihnen in die Finger kommt. Die Sache hatte nur einen Haken: Heinz war kein Junggeselle. Als Kind entnahm ich einer Äußerung meiner Mutter, dass er verheiratet sei, ein Umstand, der mich in Erstaunen versetzte. Mir kam es merkwürdig vor, dass der Heinz, der abends auf der Vespa den Hof verließ, zu einem Zuhause fuhr, wo er ein eigenes Leben führte, das mit unserem keinerlei Berührungspunkte hatte. Heinz sprach nie von seiner Familie; ich fragte ihn nie danach. Einmal hatte ich ihn mit Frau und Kind in der Stadt gesehen, einen unbehaglich dreinblickenden Heinz und nicht den unkomplizierten Kraftmenschen, den ich kannte und mochte. Ich hatte mich im Eingangsbereich eines Spielwarengeschäfts verborgen, einem gläsernen Gang zwischen Schaufenstern voller Marionetten und Stoffgiraffen. Heinz ging dicht an mir vorüber, ich hätte ihn am Ellenbogen berühren können. Er sah erschöpft aus, ausgelaugt, in der linken Hand eine Einkaufstüte, an der rechten ein Kind, und dieses Kind, es war nicht zu erkennen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte, hatte einen so einfältigen Gesichtsausdruck, dass ich vor Bestürzung einige Schritte rückwärts machte. Und da sah mich das Kind! Es drehte den Kopf in meine Richtung und schaute mich an. Mit leerem, schläfrigem Blick sah es mich solange an, bis ich mich umdrehte und ins Spielzeuggeschäft flüchtete. «Ich höre.»

Ertappt fuhr ich zusammen. «Was?»

«Du hast mir noch was zu erzählen!»

«Was soll ich dir denn zu erzählen haben?», fragte ich heiser.

«Alles. Über die Bäckerei – und die Frauen …»

«Ich glaub, ich rauch erst mal ne Zigarette.»

«Aha!», lachte Heinz und hielt mir den Anzünder unter die Nase. «Endlich wirst du wach!»

Nach einigen Zügen begann ich mich erheblich wohler zu fühlen. Ich würde zwar fast den ganzen Tag im Leichenwagen sitzen, aber der Gedanke, dabei nicht nachdenken zu müssen, war befreiend. Körperliche Arbeit erledigt sich von selbst. Tote wegpacken, Särge zum Auto bringen, Särge aufladen, Särge abladen – kein Problem! Und abends mit Achim auf zwei oder drei Bier in Mollingers Eck. Es gab noch einen Unterschied zu den Schreibtagen: In dieser Nacht würde mir ausnahmsweise mal nicht die Einsicht den Schlaf rauben, wieder einmal mit voller Wucht an meine schriftstellerischen Grenzen geprallt zu sein und nicht länger so weiterleben und -schreiben zu können. Heute ist mein Ehrgeiz geringer. Vieles ist mir gleichgültig geworden. Dennoch genieße ich es, Sie ahnen ja nicht, wie sehr ich es genieße, jetzt einen Absatz zu machen und den nächsten mit einer nüchternen Beschreibung zu beginnen.

Die Leichenhalle des Evangelischen Krankenhauses lag im Keller eines Seitentrakts. Ein zur Tür hin offenes U kleiner, rechteckiger Milchglasfenster befand sich unter der Decke des fast quadratischen Raums. Eines der Fenster stand offen. Draußen sah man gestutzten Rasen und, vorausgesetzt man presste sich dicht an die Wand, den blauen, fast wolkenlosen Sommerhimmel. Für Winkler war meine Arbeit ein Quell steter Faszination, aber in den Leichenhallen, die ich besuchte, ging es nicht zu wie in den Horrorfilmen, von denen er schwärmte: «Nackte Frauen sind gut», behauptete er oft, «aber nackte, tote Frauen, die bärenstarken Leichenwäschern den Kopf samt Wirbelsäule abreißen, sind besser.» Ich mochte andere Filme. Nein, das ist gelogen. Ich mag keine Filme. Ich sah selten fern; ins Kino ging ich nie. Heute immer noch nicht. Wieso auch?

Winkler brachte das Gespräch regelmäßig auf meine Arbeit, obwohl ihm meine Informationen eine Illusion nach der anderen raubten. Die Leichen lagerten zum Beispiel nicht, wie er glaubte, in Kühlvitrinen. «Natürlich gibt es Kühlvitrinen in der Prosektion, aber darin bewahrt man nur die strittigen Fälle auf, bei denen es eventuell zu einer Obduktion kommen kann. In manchen Krankenhäusern gibt es nicht einmal eine Leichenhalle, und wir müssen die Toten in den Sterbezimmern der jeweiligen Stationen abholen, aber mir sind Krankenhäuser mit Leichenhalle lieber. Das ist diskreter.» – «So», nickte Winkler, «ich verstehe.» – «Was willst du noch wissen?» – «In welchem Zustand sind die Leichen?» – «Nun, das Pflegepersonal hat sie vor dem Aufbahren gewaschen. Man hat ihnen frische Binden angelegt und jedem eine Windel angezogen, damit niemand beim Transport ausläuft. Am besten sehen die Leichen aus, die wir in Altenheimen abholen. Frisch rasiert und gekämmt. Sogar die Nägel hat man ihnen geschnitten. Alles nur …» Winkler unterbrach mich und ergänzte: «Damit keine Gerüchte entstehen wie: Im Altenheim X werden die Leute schlechter behandelt als im Altenheim Y.» – «Genau», sagte ich.

«Ihr wart heute ganz schön auf Zack», sagte Heinz.

Der Pfleger, ein bulliger Mensch mit schweren Augenlidern und Pferdeschwanz, nickte.

«Herzschlag», vermutete ich.

Der Pfleger, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, nickte erneut.

Das Gesicht des Aufgebahrten war zu einer Maske erstaunten Leids erstarrt; Heinz hob ein Augenlid: Eine geweitete Pupille stierte ins Leere. Die Haut des Toten hatte sich noch nicht verfärbt und wies lediglich an den Fingernägeln die aschgraue Tönung auf, die nach einem Herzschlag den ganzen Körper überzieht. Sie hatten uns wirklich schnell gerufen. Ich stellte mich an die Wand, blickte aus dem Fenster, sah in die Sonne hinein und kniff die Augen zusammen. In den Wimpern schillerte das Spektrum der Fraunhoferschen Linien. Oder hieß der gute Mann Frauenhofer? Ich blinzelte, Frauenhofer klingt blöd, ohne e, genau, schreibt sich wahrscheinlich ohne e, Grundkurs Physik, ich hatte nichts verstanden, alle Physiklehrer auf die Schwarze Liste, mit Befremden stellte ich fest, dass ich mir das Gesicht der Bäckereiverkäuferin nicht ins Gedächtnis rufen konnte, Abbild der Sonne auf der Netzhaut. So sehr ich mich auch konzentrierte, ich sah nur ihre schönen Unterarme vor mir, die Kuchenzange, die zugriff, vielleicht findet sie mich ja trotzdem sympathisch, ihre Möpse, vielleicht denkt sie, ich wäre schüchtern, gut, schüchtern ist gut, vielleicht hab ich mich gar nicht so schlimm blamiert … «Weißt du, was das ist?», fragte Heinz.

«Eine Trage?», mutmaßte ich.

Heinz nickte dem Pfleger aufmunternd zu, und dieser verkündete: «Das ist ein Ferno-Verstorbenen-Transporter.» Dann machte er die Spannungspause seines Lebens.

«Ein was?», fragte ich.

«Na, erklärs ihm schon!», sagte Heinz, und ich bekam erläutert, es sei ein Problem, die Verstorbenen aus den Krankenzimmern zu schaffen, ohne dass die Besucher und Patienten dadurch gestört würden. «Stell dir vor, du gehst deine Omma im Krankenhaus besuchen, tideldum, und da schieben sie gerade nen Toten ausm Nachbarzimmer. Da kannst du ja gleich wieder nach Hause gehn!» Der Ferno-Verstorbenen-Transporter sei die Lösung dieses Problems, denn diese scheinbar leere Krankentrage habe einen doppelten Boden, eine so genannte Leichenmulde. Das Wort «Leichenmulde» kam ihm verdächtig glatt von den Lippen. Was ging hier vor? Wieso wusste er so gut Bescheid? Hatte er einen Kurs an der Volkshochschule besucht? Leichenmuldenkunde für jedermann? Und wie ließ sich sein enormes Bedürfnis erklären, den Ferno-Verstorbenen-Transporter in den höchsten Tönen zu loben? Und (diese Frage machte mir am meisten zu schaffen) wieso hatte Heinz den Kerl dazu gebracht, mir alles zu erzählen? «Das ist doch ganz einfach», beantwortete der Pfleger eine rhetorische Frage, die ich nicht mitbekommen hatte. «Toter drauf, abgesenkt, Scheinabdeckung drauf und tideldum, fahr ich eine leere Trage zum Lift.» Als er seine Ansprache beendet hatte, freuten wir uns alle, Heinz wurde seinen Tampon-Witz los, im Gegensatz zu mir musste der Pfleger herzlich darüber lachen, und als er sich endlich getrollt hatte, sargten wir den Alten ein.

«Das Tideldum ist doch ein Hit!», sagte Heinz.

«Porno-Verstorbenen-Transporter», sagte ich.

«Das letzte Mal hat er noch viel mehr getideldumt.»

 

«Der hat doch ein Rad ab.»

«Tideldum!», sagte Heinz.

«Hast du ihn deshalb gebeten …?»

Ein ernstes Tideldum bestätigte meinen unausgesprochenen Verdacht.

Nachdem der Sarg im Transit verstaut war, leistete ich Heinz bei zwei Dosenbieren und einem eiskalten Apfelschnaps Gesellschaft. Krankenhäuser ziehen Kioske mit Stehausschank magisch an. Hier erscheinen ältere Herren in Bademantel und Hausschuhen, um ihr Päckchen HB zu kaufen, und kippen, da sie nun schon einmal die Strapaze der Hospitalflucht auf sich genommen haben, rasch noch einen Underberg oder ein Dosenbier. «Kommt ne Frau zum Arzt und sagt: ‹Mein OB steckt quer.›» Ich bewunderte die Zwanglosigkeit, in der Heinz mit der Verkäuferin scherzte; neben mir zitterte ein alter Mann im Trainingsanzug; unter seiner Augenklappe spähte gelblich verfärbter Mull hervor; ab und an packte er meinen Ärmel und erhob die Stimme, um sich über irgendwelche Missstände auf der Inneren auszulassen. Ich nickte unverbindlich und trank lauwarme Cola.

«Merkst dus?», fragte Heinz, als wir in den Transit stiegen.

«Was?» Ich manövrierte zwischen parkenden Autos durch (ab jetzt fuhr ich, denn die Abstecher zu Kiosken und Trinkhallen wären von nun an fester Bestandteil des Tages).

«Wie sie warten.»

«Wer wartet?»

Heinz deutete mit dem Daumen hinter sich. «Die Totenwürmer.»

«Tideldum», meinte ich vorsichtig, denn ich war mir nicht sicher, ob er Spaß machte.

Vor einigen Jahren hatte ich mit Achim einen seiner damaligen Freunde besucht, einen verpickelten Sonderling, der aus einem mir heute schleierhaften Grund einen platten Fisch, möglicherweise eine Scholle, auf dem Balkon seiner Einzimmerwohnung trocknete. Der Leib des toten Fischs hob und senkte sich in benommenen Atembewegungen. Das waren die Maden! Unter dem Fisch wanden sich so viele Maden, dass er zu atmen schien. Die Maden waren überall. Stolz lüpfte Achims Bekannter einen Blumentopf, und selbst dort, wo das kleine Abtropfloch im Topfboden das Wachstuch berührt hatte, ringelten sich zwei winzige, weiße, deutlich segmentierte Maden. Damals wurde mir schlecht, aber ich kotzte nicht. Mein Vater hätte wahrscheinlich in hohem Bogen über das rostige Balkongeländer gereihert, einem seekranken Entomologen nicht unähnlich, der sich grüngesichtig über die Reling des Schiffs beugt. Einmal kotzte Vater, als er eine Möhre für mein Meerschweinchen aus dem Kühlschrank holte. Sie hatte inmitten einer grauen, schleimigen Pfütze gelegen, klatschte schlaff und runzlig in Vaters Handfläche, von der Spitze tropfte verwester Schmand, Vaters Backen blähten sich gewaltig auf, ich sprang einen Schritt zurück, Vater sah sich ratlos um, eine Hand auf dem Mund, in der anderen die verfaulte Möhre, und dann explodierte das Mittagessen aus seinem jäh aufplatzenden Gesicht. Ich schaltete in den vierten Gang, und Heinz kommentierte das nnkrrkkks! des Getriebes mit diesem Spruch, den ich in meinem Leben schon so oft gehört hatte, dass ich ihn selbst dann vor mich hinmurmelte, wenn ich alleine im Transit saß und mir das übliche Malheur mit der Kupplung passierte.

«Schau mal, die Kleine mit dem Ranzen!» Heinz kurbelte das Fenster runter und brüllte: «Ich fühls! Ich kanns fühlen! Die Totenwürmer! Die sind überall, die Totenwürmer!»

«Mach das Fenster wieder zu», lachte ich.

Heinz rülpste. «Einen Scheiß werd ich tun! Uh, stinkt das!» Er fächelte mir den Rülpser zu, steckte sich eine Zigarette an, rauchte. «Hast du alles gesehen? Von Onkel Jörg, meine ich?»

«Es ging zu schnell.»

«Wirst dus ihm sagen?»

«Weiß noch nicht. Wenn ich es ihm sage, lässt ers vielleicht bleiben.» Und nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: «Jens hat ihn noch nicht gesehen.» Inzwischen hatte sich Onkel Jörg bestimmt angezogen und nahm die Aufträge entgegen. War er mit Heinz unterwegs, bat ein Anrufbeantworter, der sich meine Stimme ausgeborgt hatte, Namen und Adresse zu hinterlassen, versicherte, er werde halbstündlich abgehört, und log selbstbewusst: «Unser Wagen kommt binnen einer Stunde bei Ihnen vorbei.» Ich aß mein halbes Schweinsohr, die Totenwürmer seien überall, philosophierte Heinz. Wie konnte ich nur ihr Gesicht vergessen? Wäre sie mir auf der Straße begegnet, hätte ich sie sofort wiedererkannt. Aber wieso befand sich dort in meinem Gedächtnis, wo eigentlich ihr Gesicht sein sollte, ein großer, leerer Fleck? Nur ihre anmutigen Bewegungen waren geblieben, die Titten, die Kuchenzange, die skeptischen, grünen Augen, der Küster, ein Herr Friedler oder Fiedler, stakste wie ein Storch über den Rasen vor der Katholischen Kirche, den Kopf gesenkt, als suchte er etwas. Er sah uns vorbeifahren, verschränkte die Arme und fing im Rückspiegel zu grübeln an, bis ihn eine langgezogene Kurve aus dem Rahmen kippte. «Ich müsste nochmal in die Bäckerei.»

«Jetzt gleich?», fragte Heinz.

«Das wär mir eigentlich am liebsten.»

«Kein Problem.» Heinz grinste. «Willst du wissen, wie sie heißt?»

Ich war noch nie ein guter Schauspieler. «Also gut», sagte ich. «Wie heißt sie?»

Und Heinz zerlegte ihren Namen mit lüsterner Grimasse in stöhnende Silben. Er ließ jede Silbe so brünstig auf der Zunge zergehen, dass ich vor Ekel eine seelische Gänsehaut bekam.

Jasmin hieß sie, Jasmin Rimbach.

4Es kam einer Flucht gleich, dass der frisch graduierte Entomologe Carl Richard Bahlow im Jahr 1910 nach Deutsch-Ostafrika reiste, um dort im Auftrag der Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas nach seltenen Arten zu suchen. Unter normalen Umständen hätte Bahlow das anfangs hartnäckige, später erpresserische Angebot der Firma niemals angenommen, aber nachdem Staudingers Briefe aus Dresden-Blasewitz zunehmend deutlicher geworden waren und sogar von Polizeigewahrsam und Festungshaft sprachen, übergab Bahlow dem höhnisch abwartenden Beamten des Kieler Hauptpostamtes den Brief mit der Zusage. Es mochten Wochen sein, die er durch die gut bezahlte Flucht gewann, zu der ihn die Firma nötigte, vielleicht sogar Monate. Womöglich wuchs in dieser Zeit sogar Gras über die ganze Sache; doch dass dies eine kindische Hoffnung war, wusste er selbst.

Bahlow sollte sich, nur so viel war ihm bekannt, einer Expedition des Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums anschließen (unterstützt von Sr. Hoheit des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Regenten von Braunschweig), die seit 1909 im Süden Deutsch-Ostafrikas ihr Lager aufgeschlagen hatte, aber erst am Tag vor der Abreise würde er in Marseille weitere Instruktionen von einem Außenagenten der Firma erhalten, einem gewissen Herrn Kuider. Mit dem Herabsausen des Stempels wurde es unwiderruflich: Afrika! Der Postbeamte sah Bahlow, dessen Kenntnisse über Deutsch-Ostafrika sich auf das Wissen beschränkten, dass der Kilimandscharo drei Gipfel besaß, streitlustig an. Der murmelte ein leises «Dankeschön» und ließ sich von seinen Füßen durch die Kieler Chausseen nach Hause tragen, wo er sogleich sein möbliertes Zimmer kündigte. Kaum eine Woche später erhielt er per Eilboten den Fahrschein nach Marseille.

In den Tagen vor der Abreise dachte er oft an dieses Ölgemälde von Jan Baptist Weenix, das einen herausfordernd nachdenklichen René Descartes zeigt, der ein Buch in der Hand hält. Die Wahrhaftigkeit des Buchtitels hatte den jungen Bahlow im Utrechter Centraal Museum erschüttert: Mundus est fabula. Wahrscheinlich lebt es sich besser, wenn man alle Geschehnisse als Bestandteil einer Geschichte sieht, überlegte er beim Kofferpacken, als Kettenglieder einer deutbaren Geschichte, die man jedoch nicht liest, sondern erlebt. Einige Stunden später überlagerten ähnliche Gedanken das mesmerisierende, abteilfüllende Rattern der Dampflokomotive, doch erst in Marseille beschloss er, mitzuspielen und die Zeichen zu deuten. Erinnerte der helle Kalkstein der Stadt nicht an vom Sonnenlicht gebleichte Knochen? Aber was hatte das zu bedeuten? Stand das für Afrika?