Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Aus einer bestimmten Perspektive ist dies eine überaus vernünftige Haltung, welche diejenigen von uns, die Habermas’ intellektuelle Entwicklung seit Jahren und mit Bewunderung verfolgen, einnehmen können und sollten. Aus einer anderen Perspektive aber scheint etwas zu fehlen: Nicht nur offeriert uns Habermas kaum konstruktive Ideen, wie ein besserer Sozialstaat konkret aussehen könnte, geschweige denn, wie er auf die Beine gestellt werden könnte. Darüber hinaus können uns auch viele Schlüsselkonzepte seiner eigenen Theorie leicht dazu bewegen, konventionelle Inhalte der politischen Ökonomie zu ignorieren, die wesentlich sind für jeden ernsthaften Versuch, den Kapitalismus zu zähmen und den Sozialstaat zu bewahren. Nachdem er Kapitalismuskritik in neuartigem Ausmaß als Kritik der Verrechtlichung neu formuliert, und in der Folge die erstere zu Gunsten der letzteren regelmäßig vernachlässigt hat, gibt Habermas letztendlich implizit zu, dass kritische Theorie beide benötigt: Ohne eine aktualisierte kritische Theorie der politischen Ökonomie des Kapitalismus, mit der wir den zahlreichen Wegen, auf denen er Sozialpathologien generiert, gerecht werden, werden wir weder den Sozialstaat voranbringen, noch eine neue und potenziell überlegene Gesetzgebungs- und Rechtsreform institutionalisieren können.

Natürlich muss dies ohne einen Rückfall in grobschlächtigen Marxismus geschehen. Auch müssen wir vermeiden, die vielen fruchtbaren Einblicke in modernes Recht zu vernachlässigen, um die Habermas die kritische Theorie bereichert hat. Und dennoch: Eine substanzielle und facettenreiche Kapitalismuskritik – in Teilen inspiriert von traditionell-linker Theorie – darf uns bei unseren Bemühungen nicht abhandenkommen.35

Wolfram Ette

Adorno und Platon*

»›Die Sache‹ ist ein Verhältnis zwischen Menschen.«

Hella Tiedemann

Die folgenden Überlegungen bewegen sich um drei Annahmen: 1. Adorno steht Platon so nahe wie kaum einem anderen Philosophen der metaphysischen Tradition. 2. Von dieser Nähe nimmt Adorno nur wenig wahr; sie macht sich hinter seinem Rücken geltend. 3. Sie ist bedingt vor allen Dingen durch die Rolle, die Darstellung und Erfahrung in Adornos und Platons Verständnis von Philosophie spielen.

Wenn ich zunächst von der Bedeutung der Darstellung als eines gemeinsamen Prinzips ausgehe, dem sich Platons und Adornos Philosophie unterwirft, dann geht es mir erst einmal nicht darum, was diese Philosophien sagen; es geht mir nicht um ihren Inhalt, ihre Thesen, nicht um den systematischen Zusammenhang, in dem sie sich bewegen, sondern darum, wie sie das tun, mit welchen Mitteln der Darstellung sie arbeiten, welchen Denkstil sie pflegen, was ihre formalen Verfahrensweisen sind und dergleichen mehr.

Dies scheint etwas der Philosophie Äußerliches zu sein. Die klassische Philosophie wirkt weitgehend indifferent gegenüber Fragen der Darstellung. Die parmenideische Annahme, dass Denken und Sein dasselbe sei, gründen im gemeinsamen Ursprung der Sprache: ›Sein‹ ist das vergegenständlichte Geschehen der Kopula, des ›ist‹-Sagens. Daher ist alles Wirkliche vorab in der Sprache aufgehoben und Darstellung prinzipiell unproblematisch. Wenn Adorno und Platon überhaupt auf Darstellung Wert legen,1 so liegt dem der Zweifel an diesem Gleichungssystem zugrunde. Weder lassen sich Denken und Sprache lückenlos aufeinander abbilden noch kann im entferntesten davon die Rede sein, dass sich die Wirklichkeit ohne Rest in die Sprache aufnehmen lassen. Dem verdankt sich ihre eigentümliche Konzeption von Philosophie, die gemeinsame Sache, um die es ihnen zu tun ist.

Diese gemeinsame Sache würde ich so beschreiben, dass das Geschäft der Philosophie nicht darin besteht, fertige Thesen zu präsentieren, sondern dem, der sich auf sie einlässt, es zu ermöglichen, eine geistige Erfahrung zu machen. Mit anderen Worten: Der Kern des Philosophieverständnisses von Platon und weithin auch von Adorno liegt gar nicht in lehr- oder referierbaren Thesen, die der philosophische Text dem Leser vorschreibt, sondern in der philosophischen Erfahrung, die er nur umschreiben kann, die der Rezipient letztlich aber selbst machen muss.

Genau aus diesem Grund spielt bei ihnen Darstellung eine so wesentliche Rolle. Überall dort, wo Darstellung von Bedeutung ist, gibt es ein Bewusstsein davon, dass die Sache, um die es eigentlich geht, direkt und unverstellt nicht zu fassen ist, dass man sich also indirekt nähern muss, indem man sie gewissermaßen mimetisch in die Form hineinreflektiert; dass man also etwas, was man nicht oder nicht zur Gänze sagen kann, zeigen muss; dass man sich dem, was man nicht direkt benennen kann, ähnlich machen muss. In dieser Intention treffen sich Platon und Adorno. Weil philosophische Inhalte und Thesen nicht ihr letztes Ziel sind, sondern der Prozess einer philosophischen Erfahrung, auf den sie Fingerzeige geben, die sie aber nicht dingfest machen können, ist ihre Philosophie wesentlich auf Darstellung verwiesen. Überall dort also, wo einem philosophischen Text Darstellung wesentlich ist, sind die Leserinnen und Rezipienten nicht als Empfänger, sondern als aktiv partizipierendes Subjekt einbezogen und im Text virtuell mitentworfen.

I.

Es ist für Adornos Philosophie charakteristisch, dass sie zu großen Teilen aus Reflexionen über das richtige Erkennen besteht, dass sie also im Kern methodologische Selbstreflexion der Philosophie ist. Deswegen können sich in seinem Fall Sache und Methode überschneiden.

Ein Begriff, in dem das mit besonderer Ausdrücklichkeit geschieht, ist der der Konstellation.2 Um ihn zu verstehen, muss man zunächst einmal verstehen, wogegen er sich richtet. Adornos ›Hauptgegner‹ innerhalb der traditionellen Philosophie sind Urteil, Definition und Klassifikation.3 Es ist aber im Grunde eine in verschiedenen Variationen durchgespielte Kritik, die er gegen sie führt, so dass es für das, was ich hier vorhabe, genügt, wenn ich mich auf die basale Schicht dieser Kritik beschränke, nämlich auf die am Urteil.

Das Urteil, so wie Adorno es versteht, ist jeder Satz der Form »Das ist ein xy«. »Dieses ist …« heißt auf Latein »id est«: Es handelt sich also um identifizierende Sätze. Nun ist Adorno gar nicht der Ansicht, dass solche Sätze in einem pragmatischen Sinne falsch sind. Er bezweifelt gar nicht, dass die Sätze »Das ist eine Buche«, »Das ist ein Tisch« oder »Dieser Mensch ist ein Bildungsbürger« unter Umständen richtig sein können. Seine Kritik geht vielmehr davon aus, dass solche Sätze etwas suggerieren, was sie nicht einlösen; dass sie also in einem prinzipiell schiefen Verhältnis zur Wirklichkeit stehen, über die sie Aussagen fällen. Er hat das so formuliert, dass das Urteil nicht sagt, was etwas ist, sondern worunter es fällt: »das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes um so weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt.«4 Die Sache wird also nicht erkannt, sondern subsumiert. Wissenschaftliche Erkenntnis, die ja wesentlich aus solchen Sätzen besteht, erkennt, mit anderen Worten, niemals das Einzelne, niemals das tode ti, diesen individuellen Gegenstand, sondern immer bloß das, was Platon die »letzte Art« genannt hat, also den nächstgelegenen, nicht weiter zu differenzierenden Oberbegriff.5 In ihm, so hat es die traditionelle Philosophie formuliert, drückt sich eben das Wesen der Sache aus. Adorno hält dem entgegen, dass damit aber eigentlich das Wesentliche, nämlich die Erkenntnis des unverwechselbar Einzelnen verfehlt sei und dass in seiner Erkenntnis eigentlich die Hauptaufgabe der Philosophie bestehe.6 Gerade das Einzelne verlangt aber mehr, als dass man bloß urteilend darauf deutet.

Dabei ergibt sich ein Problem. Sprache funktioniert identifizierend. Das subsumierende Urteil »Das ist ein xy« ist die Urzelle allen sprachlichen Verhaltens und die Philosophie als Form sprachlichen Verhaltens zur Wirklichkeit kann sich darüber nicht einfach hinwegsetzen. Sie muss also identifizierend verfahren in dem Bewusstsein, dass in jedem Urteil, das sie trifft, ein Unerkanntes bleibt, ein unaufgelöster Rest, ein »Widerstand des Anderen gegen die Identität«7. Diesen unaufgelösten Rest nennt Adorno »das Nichtidentische« und die Frage nach der richtigen Erkenntnis in der Philosophie spitzt sich also so zu, dass Philosophie auf der einen Seite sich über das identifizierende Urteil und seine Logizität nicht hinwegsetzen kann, auf der anderen Seite aber so selbstkritisch, so selbstreflexiv mit der Form des Urteils umgehen muss, dass sie das Nichtidentische zwar nicht erkennt, aber in irgendeiner Form erkennbar macht und in die Darstellung einbezieht. Genau an dieser Stelle tritt nun die Forderung nach Darstellung in der Philosophie in ihr Recht; und genau an dieser Stelle sitzt die Konstellation als ein Verfahren der Darstellung, auf das hin sich wenn nicht alle, so doch sehr viele Eigentümlichkeiten von Texten Adornos hin ordnen lassen.

Durch die Konstellation oder in einem konstellativ arbeitenden Text wird die zu erkennende Sache zum Verhältnisganzen einer Pluralität von Urteilen, die sie umgeben. Adorno hält also daran fest, dass auf das identifizierende Urteil nicht verzichtet werden kann. Aber er versucht seine Macht zu schwächen, indem er das eine Urteil, das das Wesen der Sache auszusprechen beansprucht, in ein relativ unverbundenes Nebeneinander verschiedener Urteile verwandelt. Es ist eine stilistische Eigenart von Adornos Texten, die sich aus seiner konstellativen Methode ergibt, dass ihr Stil parataktisch ist; dass Adorno häufig relativ kurze Hauptsätze aneinander reiht, dass er wenig logische Partikel und Konjunktionen verwendet, die diese Hauptsätze miteinander verbinden.8 Die Sache wird also in ein Nebeneinander wechselnder Kontexte versetzt, die voneinander verschieden sind, ja sich unter Umständen sogar widersprechen können, deren Verhältnis jedoch in den meisten Fällen nicht eindeutig ist.

 

Was man sich darunter vorzustellen hat, kann man sich am besten an einem Gleichnis klar machen, das auf den ersten Blick weit hergeholt erscheint, auf den zweiten aber – und zumal dann, wenn wir uns Platons Philosophie zuwenden – ins Zentrum der Sache führt. Das, was Adorno mit Konstellation meint, lässt sich einem Gespräch vergleichen: einem Gespräch über eine gemeinsame Sache, wie zum Beispiel in einem Seminar. Teilweise wird dort einfach nebeneinander her geredet, teilweise zugestimmt, teilweise widersprochen, teilweise wird der Gedanke weitergeführt, teilweise endet er in einer Sackgasse. Alle Beteiligten reden zur Sache, und dennoch ergibt das, was gesagt wird, kein organisches oder durchgeplantes Ganzes. Trotzdem gibt es diese magischen Momente, in denen sich die gemeinsame Sache vollständig (oder weitgehend) in das Verhältnis der redenden Menschen zueinander auflöst. Man hat in diesen Momenten das Gefühl, etwas sehr Wichtiges verstanden zu haben – auch wenn man vielleicht eine Woche später gar nicht mehr so genau sagen kann, was dieses Wichtige eigentlich war. Das heißt, man macht eine kollektive geistige Erfahrung. Wenn wir hier einmal das Bild der Konstellation ganz wörtlich nehmen und das Gespräch als eine solche Konstellation begreifen, dann ist es der Moment, in dem hinter der Anordnung der Sterne am Himmel das Sternbild erscheint, in dem also die verschiedenen, schwer miteinander vereinbaren Urteile doch irgendwie zu einer gemeinsamen Sache zusammenschießen und einen Sinn, eine Bedeutung erhalten.

Es ist hilfreich, wenn man sich Adornos Texte einmal als ein solch latentes Gespräch vorstellt. Die Sache, um die es geht, wird in eine Vielzahl von Perspektiven aufgelöst, die sich überschneiden und überlagern und sich nicht in eine definitorische Erkenntnis zusammenfassen lassen. Dadurch erscheint dieser Gegenstand manchmal wackelig und irgendwie verrutscht, wie ein 3D-Bild, das man ohne 3D-Brille sieht. Der dreidimensionale, vielfältige, in sich widersprüchliche Gegenstand erscheint in die zwei Dimensionen des philosophischen Textes projiziert. Dieser markiert den kategorialen Abstand zwischen ihm und der Sache selbst eben durch die spezifische Unschärfe, in der er erscheint.

Man hat das Adornos Texten oft vorgeworfen und sie deswegen als unseriös, unlogisch, ästhetisch abgetan. Mir scheint demgegenüber, dass diese spezifische Unschärfe, die sie mit sich führen und die sie in einem traditionellen Sinne so schwer interpretierbar (aber realistischer) macht, ein direktes Ergebnis des konstellativen Verfahrens ist und dass es ins Zentrum von Adornos philosophischen Intentionen hineinführt. Adornos Texte halten vor dem Letzten inne, sie sprechen die vollendete, vollständige Erkenntnis der Sache nicht aus, weil sie nicht daran glauben, dass sie sich im Medium der im Modus des Urteils funktionierenden Sprache aussprechen lässt.9 So ist also das Verfahren der Konstellation eine Annäherung, ein indirektes Verfahren, das an der letzten, entscheidenden Stelle auf die Leser setzt. Sie sind es, die das von Adorno vorgelegte, propositionale Material ordnen und zu einer für sie, für ihre Situation bedeutungshaften Konstellation zusammenstellen. Sie müssen das Sternbild in der Konstellation zum Erscheinen bringen, sie müssen den Text in eine geistige Erfahrung verwandeln, sie müssen diese Erfahrung machen. Der Text selbst kann nur darauf vorbereiten, er kann es aber nicht einlösen.

II.

Über dieses Verhältnis des philosophischen Textes zur geistigen Erfahrung gibt auch eine auf den ersten Blick abseitige Eigentümlichkeit von Adornos Denkstil Auskunft: die Tatsache nämlich, dass er fast alle seine Texte zunächst diktierte, dass sie also ein mündliches Element enthalten. Meine Arbeitshypothese lautet nun, dass dieses mündliche Element, obwohl von ihm in den veröffentlichten Texten so gut wie gar nichts zu spüren ist, ein Moment geistiger Erfahrung bewahrt, das Adorno doch irgendwie in die Schriftform hinüberretten wollte.

Der Weg von solchen Diktaten zum veröffentlichten Text war meist lang und aufwendig. Das heißt, die abgetippten Diktate wurden einem mehrphasigen Umarbeitungsprozess unterworfen, bei dem kein Satz so blieb, wie er ursprünglich gelautet hatte. Das wirkt erst einmal ziemlich ineffizient. Das Diktieren ist unter Philosophen und Wissenschaftlern nicht unüblich – relativ bekannte Beispiele sind Hans Blumenberg und Georg Picht –, in der Regel verhält es sich aber nicht so, dass an den Diktaten derart viel gefeilt wurde wie im Falle Adornos. Der Grund kann ja nicht sein, dass Adorno sich irgendwie unbeholfen ausgedrückt hätte. Dass Adorno im Grunde druckreif sprach, ist bekannt. Aber warum hat er dann trotzdem diktiert? Worin bestand für ihn der Überschuss des gesprochenen, mündlichen Wortes über das schriftliche Wort – ein Überschuss, den er, so lautet meine Vermutung, in die Schriftform hinübertransportieren wollte?

Adorno hat sich nur ein einziges Mal zu diesem Sachverhalt geäußert, in dem Aphorismus Lämmergeier der Minima Moralia:

»Zu diktieren ist nicht bloß bequemer, spornt nicht bloß zur Konzentration an, sondern hat überdies einen sachlichen Vorzug. Das Diktat ermöglicht es dem Schriftsteller, sich in den frühesten Phasen des Produktionsprozesses in die Position des Kritikers hineinzumanövrieren. Was er da hinstellt, ist unverbindlich, vorläufig, bloßer Stoff zur Bearbeitung, tritt ihm jedoch zugleich, einmal transkribiert, als Entfremdetes und in gewissem Maße Objektives gegenüber. Er braucht sich gar nicht erst zu fürchten etwas festzulegen, was doch nicht stehenbliebe, denn er muß es ja nicht schreiben: aus Verantwortung spielt er dieser einen Schabernack. Das Risiko der Formulierung nimmt die harmlose Gestalt erst des ihm leichthin präsentierten Memorials, dann der Arbeit an einem schon Daseienden an, so daß er die eigene Verwegenheit gar nicht recht mehr wahrnimmt. Angesichts der ins Desperate angewachsenen Schwierigkeit einer jeglichen theoretischen Äußerung werden solche Tricks segensreich. Sie sind technische Hilfsmittel des dialektischen Verfahrens, das Aussagen macht, um sie zurückzunehmen und dennoch festzuhalten.«10

Was Adorno hier hervorhebt, ist ein komplexes Wechselspiel von Improvisation und Kontrolle. Das Diktat ist ja ein sonderbarer Zwitter: auf der einen Seite spontan entwickelte Rede, auf der anderen Seite die schriftliche Fixierung dieser Rede, also ein Objektives, das einem, wie Adorno sagt, in einer frühen Phase des Produktionsprozesses als etwas Fremdes gegenübertritt, so dass man darauf schaut und zum Kritiker seiner selbst werden kann.

Recht besehen findet dieses Wechselspiel aber nicht bloß zwischen der ersten und der zweiten Produktionsphase statt, sondern schon während des Diktierens selbst. Einen Text zu diktieren oder eine Vorlesung öffentlich zu halten, die technisch aufgezeichnet und weiter verwendet wird, ist nicht dasselbe, wie frei zu sprechen. Man ist kontrollierter, man bemüht sich, die Sätze, die man angefangen hat, korrekt zu Ende zu bringen. Gleichzeitig hat die Spontaneität mehr Raum als im geschriebenen Wort. Man verspricht sich und versucht dann, sich zu diesem Versprecher, der manchmal auch ein Versprechen ist, in dem das Unbewusste des Redners sich als eigene Erkenntnisinstanz Bahn bricht, irgendwie zu verhalten, irgendwie darauf zu reagieren. Es kann passieren, dass einem Dinge einfallen, die man sich vorher nicht überlegt hat; die muss man dann in den Plan, den man sich gemacht hat, einbauen – oder den Plan über den Haufen werfen. Manchmal lösen sich Probleme, über die man vergeblich gegrübelt hat, erst in dem Moment, in dem man sie öffentlich ausspricht, und das kann dann dem Vortrag eine ganz andere Wendung geben. All das entspricht dem, was Kleist »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«11 genannt hat: kein Defizit, sondern ein Mehr an lebendiger geistiger Aktivität. Es ist Geist in actu, und wenn man jemanden frei reden hört, schaut man ihm gewissermaßen beim Denken zu. Das heißt, man wird Zeuge einer geistigen Erfahrung. Hier wird fassbar, dass Geist Gegenwart, Präsenz, Leben, ein autopoietisches System von nicht fix und fertigen, sondern beim Reden sich bildenden Sätzen ist.

Hinzu tritt ein Zweites. Die lebendige Gegenwart des Geistes ist mit der Stimme verbunden. Sie hängt offenbar daran, dass er einen Körper hat, von dem er sich nicht ablösen lässt. Das Ereignis geistiger Erfahrung ist dank der Stimme auch ein körperliches. Nun ist die Stimme ein Phänomen, über das in den letzten Jahren auch von philosophischer Seite viel nachgedacht worden ist. Über ihr Verhältnis zum Denken und zum geschriebenen Wort sind sehr unterschiedliche Thesen aufgebracht worden.12 Ich möchte das hier nicht referieren, sondern mich auf die Minimalbestimmung beschränken, dass in der Stimme Denken und Körper eine besonders dichte, besonders intensive Beziehung zueinander eingehen – eine Beziehung, die offenbar von der Schrift allein nicht dargestellt werden kann. Wie immer man das Verhältnis der Verwirklichung und der Verkörperung strukturanalytisch exakt auffasst:13 Die Stimme ist verwirklichter Geist, verkörperter Geist; in ihr stellt sich Denken in einem menschlichen, das heißt in einem begehrenden und bedürftigen Körper dar und trifft, wenn man diese Stimme hört, auf andere begehrende und bedürftige Körper. Dass das gesprochene Wort ein Charisma (im Guten wie im Schlechten) entfalten kann, das dem geschriebenen fehlt, hängt vor allem an dieser Verbindung von Geist und Körper in der Stimme.

Es sind also zwei Momente, durch die das gesprochene Wort sich von der geschriebenen Sprache unterscheidet: autopoietische Improvisation und stimmliche Verkörperung. Sie machen den geäußerten Gedanken zu einem nicht reproduzierbaren, unwiederholbaren Ereignis, zu etwas, was in diesem Moment erscheint und im nächsten Augenblick wieder vergangen ist. Diese Augenblickshaftigkeit ist ein Aspekt jener geistigen Erfahrung, die man in einem geschriebenen Text nicht machen kann, die aber solche Texte, die sich dergleichen Erfahrungen zum Ziel gesetzt haben, irgendwie virtuell in sich entwerfen. Adorno wollte genau dieses ereignishafte, körperhafte, unwiederholbare, lebendige Moment des Geistes in den geschriebenen Texten bewahren, indem er ihnen das mündliche Diktat zugrundelegte.

Nun verhält es sich aber so, dass man von der mündlichen Rede Adornos in den geschriebenen Texten praktisch nichts wiedererkennt. Adorno sprach ja auf eine fast unheimliche Weise flüssig. Er baut ganz komplizierte syntaktische Gebilde auf, bei denen man sich manchmal fragt, ob er es schafft, den Bogen vom Anfang bis zum Ende des Satzes zu schlagen. Und das Merkwürdige ist nun, dass von diesem narrativen Fluss in der Schriftform des Textes nichts übrigbleibt. Die Umarbeitung des Diktats läuft wesentlich darauf hinaus, zu kürzen, extrem zu verdichten, Lücken zu schaffen und die komplizierten hypotaktischen Konstruktionen in einfache Hauptsätze umzuwandeln, die im Großen und Ganzen parataktisch aneinandergehängt werden. Das heißt, dass Adorno die narrative Form der mündlichen Rede in die konstellative Form der Schrift verwandelt.

In welcher Form aber vermag eine derart rigide Umarbeitungsprozedur das mündliche Element im geschriebenen Wort aufzubewahren? Es sieht doch so aus, als würde es durch eine ganz und gar andere Methode der Darstellung überformt. Eine Antwort auf diese Frage muss notwendig spekulativ ausfallen. Mir will aber scheinen, dass Adorno eine Art Subjekttausch im Sinn hat. Das heißt: Durch die Lücken, die die Konstellation lässt, durch die Unschärfe im Verhältnis der Urteile zueinander, durch die Arbeit an der Sache, die sie den Lesern aufbürdet, sollen ihre Stimmen, ihre lebendigen Erfahrungen an die Stelle des redenden Autors Adorno treten. Adorno, der sich in lebendiger Rede in die Genese des Textes eingebracht hatte, tritt gleichsam von diesem zurück und hinterlässt, wie eine Hohlform, eine Anweisung an den Leser, an das Seminar, an alle Rezipienten, den Text in die lebendige Erfahrung ihrer Körper zurückzuübersetzen.

 

Es versteht sich, dass diese Erfahrungen – die Ausgangserfahrung Adornos und die Erfahrung der Rezipienten – nicht dieselben sind. Es geht in gar keiner Form darum, irgendwie ›nachzufühlen‹, was Adorno einmal empfunden haben mag, sondern darum, dass die Rezipienten in ihrer Situation, mit ihren privaten und gesellschaftlichen Lebenshintergründen die Konstellation des Textes in eine neue Bedeutung, eine neue Verkörperung übersetzen.14 Diese Texte sind im Kern so gebaut, dass sie nicht Rekonstruktion, sondern Konstruktion verlangen. Ihr Ausgangspunkt und ihr Endpunkt sind in ihnen verschwunden, bzw. virtuell entworfen: die geistige Erfahrung, die ihnen zugrunde liegt, bzw. die sich mit ihnen machen lässt. In diesem Sinne sind Adornos Texte aktuell: weil sie sich zurücknehmen, weil sie das Entscheidende nicht aussprechen; weil sie mit dem Wandel der Sache und deswegen in gewisser Weise auch mit dem eigenen Veralten rechnen.

III.

Indessen erschöpft sich Adornos mündliche Rede nicht in der Konstruktion großer syntaktischer und narrativer Ganzheiten. Sie ist vielmehr selbst, also in sich, von der Spannung zwischen organischen und dekonstruktiven Momenten bestimmt. Darauf stößt man allerdings erst, wenn man Adorno einmal reden gehört hat. Er artikuliert nämlich die einzelnen Worte so selbstvergessen und von anderen abgetrennt, dass sie sich, wenn man genau zuhört, aus dem syntaktischen Kontext lösen und wie Eigennamen für sich zu stehen scheinen. Adorno hat den Namen fast als ein Erkenntnisideal verstanden, weil er die einzige linguistische Gegebenheit ist, die sich nicht auf das Besondere, sondern auf das Einzelne richtet.

Das heißt, dass durch die Art, in der Adorno seine mündlichen Perioden artikuliert, syntaktische Gestalten entstehen, die das Eigenrecht, den Eigensinn der einzelnen Elemente, aus denen sie zusammengesetzt sind, nicht unterdrücken, sondern freigeben. Der Satz ist in Adornos Rede keine organische Einheit, sondern selbst eine Konstellation. Das Ganze ist nicht mehr als die Summe seiner Teile, im Gegenteil: die Summe der Teile ist mehr als das Ganze.

Mir ist das besonders an Stellen aufgefallen, an denen Adorno von persönlichen Erfahrungen berichtet. So erzählt er in einem Radiogespräch mit Erika Mann und Adolf Frisé15 über die Erfahrungen der Remigranten bei ihrer Ankunft in Europa von einem Abend, den er in einem Landhaus in der Nähe von Frankfurt verbracht hat, in dem es kein elektrisches Licht gab. Die ganze Gesellschaft wurde also durch Kerzenschein erhellt. Adorno spricht darüber, dass er in all den Jahren in Amerika keine Kerze zu Gesicht bekommen habe – und wenn überhaupt, dann nur als luxuriöse Dekoration einer Wohnung, die mit elektrischem Licht versorgt gewesen sei und es sich auf diese Weise ein wenig heimelig und vorindustriell machen wollte. Adorno spricht das Wort »Kerzenlicht« so aus, dass die Endkonsonanten gar nicht aufzuhören scheinen – als läge in der fast rituellen Aussprache dieses Wortes eine magische oder namenhafte Kraft, die ganze Welt, alle Erinnerungen, Farben und Gerüche, ja im Grunde den gesamten alteuropäischen Lebenszusammenhang auszudrücken.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Wort »Paris« in demselben Radiogespräch. Adorno spricht das Schluss-»S« des Namens so lang, pointiert, gleichsam verhauchend aus, dass man tatsächlich zur nächsten Assoziation, nämlich der sich durch die Stadt ziehenden Seine, dem Fluss, der sie teilt und zusammenhält, geführt wird. Die Aussprache des Buchstabens setzt sein grafisches Bild frei und in diesem entwirft sich das Bild der Stadt.

Dieses dekonstruktive (also anti-organische, ›konstellative‹) Moment der Rede findet seine Entsprechung auch in einigen Stileigentümlichkeiten des geschriebenen Worts, die nicht das Verhältnis der Sätze zueinander, sondern die Binnenstruktur des Satzes selbst betreffen. Adornos Sätze sind um das Verb herum organisiert. Das Verb ist das Zentrum, die eigentliche Kraftquelle seines Denkens. Als ich Adorno kennenlernte, fiel mir vor allem auf, wie originell die Verben sind, mit denen er arbeitet. Worte wie ausbooten, verjüngen oder überflügeln erregten mein Interesse. Sätze, die von solchen Worten aus sich entfalten, unterscheiden sich wesentlich vom Nominalstil, der in der Wissenschaft immer schon eine gewisse Dominanz besaß, seit Adornos Tod aber eine wahrhaft totalitäre Herrschaft über die gesamten Geisteswissenschaften ausübt. Geist steckt bei Adorno in der Aktion, die das Verb ausdrückt, in dem Wissenschaftsstil dagegen, der sich weithin durchgesetzt hat, in dem selber sprachlich nicht artikulierten, weil meistens bloß durch Modalverben gefüllten Verhältnis der Substantive zueinander.16 Adorno vertauscht das Verhältnis von Statik und Dynamik gegenüber den wissenschaftlichen oder philosophischen Texten konventioneller Machart: Der Dynamik des Beweisgangs, der zwingend mit sich fortreißenden Logik des Schlussverfahrens setzt er die relative Statik der Konstellation entgegen, und der nominalen Statik der Innenbeziehungen im Satz die Dynamik eines geistigen Prozesses, der vom Verb austrahlt. Es sind Impulse, die der Text in alle Richtungen abgibt, ohne dass sie in ihm selbst fortgeführt und eingelöst werden würden.17

Die sogenannte Postposition des Reflexivpronomens ist eine der Eigentümlichkeiten, die wohl den größten Spott gezogen und den Ehrgeiz der Adorno-Imitatoren beflügelt haben. Ich will auch nicht abstreiten, dass dieses Charakteristikum bisweilen zur Marotte wird. Dennoch scheint es mir nicht fruchtlos zu sein, sich darüber zu verständigen, was Adorno denn damit beabsichtigt haben könnte. Mir scheint der Sinn darin zu liegen, den Moment, in dem der Satz sich schließt und eine sozusagen geschlossene Sinngestalt annimmt, so lange wie möglich hinauszuzögern. Adornos Sätze halten die Dinge so lange wie möglich in der Schwebe; es ist wiederum am Leser oder am Hörer, sie in ein Verhältnis zu bringen, bevor nachklappend, und gewissermaßen nolens volens, der Sack zugemacht wird und der Satz zu seiner endgültigen Figur findet.

Diese Verfahrensweisen zielen dahin, den einzelnen Satz zum Schauplatz einer leidenschaftlichen, ja im Grunde triebhaften geistigen Aktivität zu machen, und demgegenüber das Verhältnis der Sätze zueinander zu neutralisieren. Heiß sind Adornos Texte im einzelnen Satz; kalt sind sie in der Abfolge und im Verhältnis der Sätze zueinander. Durch dieses Wechselbad geht jeder, der sich mit ihnen beschäftigt. Sie setzen damit aber das Einzelne und das Ganze, Satz und Argument in ein prinzipiell anderes Verhältnis als der traditionelle philosophische Text.

Im traditionellen Text ist das Einzelne bedeutungslos gegenüber der Funktion, die es für das Ganze innehat. Es hat als Einzelnes kein Eigenrecht und konvergiert tendenziell gegen Null. Daher die Affinität der traditionellen Philosophie zur formalen Logik. In den Zeichensystemen der formalen Logik drückt sich das Ideal eines Erkenntnisprozesses aus, der in der »Bewegung von Nichts zu Nichts«18 fortschreitet und in dem jedes Einzelne nur das bedeutet, was es im Rahmen des Ganzen bedeuten soll und was sozusagen schon von Beginn an über es verhängt ist. Das philosophische Schrifttum heute ist in diesem Sinne weithin traditionelle Theorie.

Demgegenüber versucht Adorno nicht, organisch gebaute, sondern konstellativ organisierte Sinnbilder herzustellen, in denen das Ganze das Einzelne nicht beherrscht und von ihm eben diejenigen Momente wegschneidet, die nicht dem Diktat des Sinns sich unterwerfen; in ihnen bildet das Ganze eine Figur, die das Einzelne in gewisser Weise erst freigibt und ihm seinen Eigensinn lässt. An ihm und an den Lücken, die der konstellative Text organisiert, setzt sich das Erfahrungspotenzial der Leser fest.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?