Jesu Traum

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Heiligung des Schreckens 8

So die theologische Sprechweise am Nervenpunkt der Entstehung des Christentums. Hier muß die Eingeweideschau ansetzen. Die »unfaßbare Kehrtwende«: ist sie wirklich so unfaßbar und beispiellos? Schauen wir einmal über den Tellerrand des Christentums hinaus und werfen einen Seitenblick auf ein uraltes, in allen Kulturen geläufiges Phänomen: das Heilige. Dessen Allerweltsdefinition könnte etwa so lauten: »Heilig« ist jene höhere Macht, der zu Ehren alle Völker – auf ihre je eigene Weise – Opfer darbringen, Säulen, Häuser und Standbilder errichten, Tänze und Gesänge aufführen, Festkleider anlegen oder Selbstkasteiungen veranstalten. Das hebräische qados, das wir mit »heilig« zu übersetzen pflegen, heißt wörtlich allerdings »abgetrennt«, »dem gewöhnlichen Gebrauch entnommen«. Das griechische hagios läuft fast aufs Gleiche hinaus. Es heißt »geweiht«. Orte, Personen, Dinge »weihen« bedeutet so viel wie sie aus dem Alltagsverkehr herausnehmen, herausheben, herauslösen – sie im originären Wortsinn absolut, unbedingt, unvergleichlich machen. Einen ganz ähnlichen Bedeutungsradius hat das polynesische tabu, wörtlich »ausgezeichnet«, erst in zweiter Linie »unantastbar«, »unberührbar«– was wiederum die primäre Bedeutungsschicht des lateinischen sanctus ist. Etwas antasten, berühren heißt so viel wie es in die Zusammenhänge des Alltags hineinziehen, es vergewöhnlichen, entweihen, profanieren. Etwas Heiliges profanieren ist so viel wie die Weltordnung antasten – das Schlimmste, was man tun kann, weswegen das Heilige denn auch furchtbar auf den Frevler zurückschlägt.

Wo das Heilige als das Ehrfurchtgebietende, Gute, Fromme, Tugendhafte vorgestellt wird, ist es bereits in dicke kulturelle Watte eingehüllt, wie Rudolf Otto gezeigt hat. Der Ehrfurcht, so seine nahezu tiefenpsychologische Einsicht, geht in der Geschichte der menschlichen Gefühle etwas weit Elementareres voraus: Furcht und Schrecken. Das Abgetrennte, Absolute, Unbedingte, Unvergleichliche manifestiert sich überall dort auf authentische Weise, wo es mit unvergleichlicher Gewalt erschütternd durch Mark und Bein geht. Das echte Heilige wühlt auf. Seine Erfahrung ist die Erfahrung schlechthin. Ottos Kronzeuge ist das Alte Testament, etwa »der ›Gottesschrecken‹, den Jahveh ausströmen ja senden kann, wie einen Dämon der den Menschen lähmend in die Glieder fährt und der ganz verwandt ist dem deîma panikón (dem panischen Schrecken) der Griechen«. Die Grundschicht des Heiligen wäre somit die »des mysterium tremendum, des schauerlichen Geheimnisses«, »das durch Art und Wesen meinem Wesen inkommensurabel ist und vor dem ich deshalb in erstarrendem Staunen zurückpralle«.9

Die Menschheit hat den Schrecken freilich nicht für sich allein gepachtet. Die ganze Tierwelt laboriert daran. Wo immer sie konnte, hat sie ihn zu fliehen versucht. Und doch ist er ihr nie zum Mysterium geworden. Dazu hat er auf bestimmte Weise bearbeitet werden müssen, und die Bearbeitung zeigt überall dort ihre ersten Ansätze, wo Organismen gelernt haben, Einfluß auf ihren natürlichen Fluchtimpuls zu nehmen. Nichts erträgt ein Nervensystem so schlecht wie den Schock: den unvorbereiteten Einbruch eines Reizschwalls, den es nicht zu kanalisieren und abzuführen vermag. Und je größer und verzweigter ein Nervensystem, desto empfindlicher ist es für Schocks. Sie bekommen die Intensität traumatischen Schreckens. Der wirkt auf Nervenzellen wie ein kategorischer Imperativ: als etwas strikt zu Meidendes oder zu Fliehendes. Nur gelingt die Flucht nicht immer. Manchmal ist es zu spät. In solchen Situationen höchster Not sind einige Tierarten darauf verfallen, durch Stillstand statt durch Bewegung zu fliehen. Sie stellen sich tot und versuchen, sich ihrer Umgebung bis zur Unkenntlichkeit anzugleichen. Der Hase macht sich dem Erdboden gleich, in den er sich duckt, die Spannerraupe dem Ast, auf dem sie hockt, die Scholle nimmt gar die Farbe des Meeresgrunds an. Mimikry nennt man das. In ihr hemmt sich der Fluchtimpuls selbst – um des Überlebens willen.

Es gibt jedoch eine Spezies, die über solche Mimikry hinausgelangt ist. Sie hat ihren Fluchtimpuls nicht nur bis zum Stillstand gelähmt, sondern ihn aktiv in die Gegenrichtung umgebogen. Sie hat, mit andern Worten, die Flucht nach vorn angetreten und etwas vollkommen Widersinniges begonnen: beim Schrecklichen Zuflucht vor dem Schrecken zu suchen. Doch erst mit diesem Widersinn ist Sinn in die Welt gekommen. Erst dadurch ist der Schrecken doppelbödig geworden: nicht mehr bloß furchtbare Naturgewalt, sondern zugleich die Macht, die davon erretten soll. Nur was rettet, stiftet Sinn. Das gilt von den rohsten Anfängen menschlichen Kults bis hinauf in den feinsten Monotheismus. Schrecken als solcher aber rettet nicht. Er ist einfach nur furchtbar. Erst durch die Wendung der Flucht von ihm weg zu ihm hin wird er zum sinnstiftenden Mysterium. Das Heilige ist also nicht, wie Otto glauben machen wollte, die übernatürliche göttliche Macht, die aus unerforschlichem Ratschluß für gut befand, sich der Menschheit erst einmal im Schrecken zu bekunden, ehe sie zartere Töne anschlug. Umgekehrt: Das Heilige ist gewendeter, geheiligter Schrecken – eine elementare Interpretationsleistung gepeinigter Nerven, die ihm nicht anders zu entrinnen wußten, als daß sie ihn in bestimmter Weise guthießen.

Wenn es eine »unfaßbare Kehrtwende« in der Naturgeschichte gibt, dann ist es die Umwendung des natürlichen Fluchtimpulses. Gewiß, die Spezies, die dieses Kunststück vollbrachte, verfügt über das größte Gehirn – nicht absolut, wohl aber im Verhältnis zum Körpervolumen. Ihre Körper sind am meisten von Nervenzellen durchzogen, also buchstäblich die nervösesten, schreckempfindlichsten. Aber so wenig Durst schon für ein Getränk sorgt, so wenig bürgt Schreckanfälligkeit schon für ein Mittel zu ihrer Linderung. Woher der Homo sapiens die Kraft und Ausdauer nahm, um seinen natürlichen Fluchtimpuls gegen sich selbst zu wenden, ihn in originärem Wortsinn reflexiv zu machen; und wie er es vermochte, daraus eine Überlebensstrategie zu machen, die derart erfolgreich war, daß er schließlich als »Krone der Schöpfung« erscheinen konnte: das wird sich nie zureichend erhellen lassen. Insofern ist die Wendung des Schreckens ein Mysterium: unfaßbar.

Durchaus faßbar hingegen ist die Verlaufsform dieser Wendung, zumal sie nie bloß eine innere Umkrempelung des Gefühlshaushalts war, sondern stets handfeste äußere Erscheinungsformen hatte. Je älter sie sind, desto »physiologischer« die Umwendungspraxis, die sich in ihnen manifestiert. Begonnen haben dürfte sie nahezu reflexhaft: durch Wiederholung des traumatischen Schreckens, mit dem das Nervensystem nicht fertig wurde. Indem er aus eigenem Antrieb wieder und wieder veranstaltet, gewissermaßen in eigene Regie genommen wurde, konnten sich allmählich neuronale Bahnen bilden, um ihn abzuleiten. Oder erlebnistheoretisch gesagt: Durch absichtliche Wiederholung konnte der Schrecken in den Alltag integriert werden, nach und nach seine Unvergleichlichkeit und Unerträglichkeit verlieren, aus etwas schlechterdings Fremdem in etwas Vertrautes übergehen. Die Anfänge davon kennen wir nicht. Man kann sie sich kaum diffus und roh genug vorstellen. Dennoch haben sie eine rekonstruierbare Physio-Logik. Sie besteht darin, selbst noch einmal zu tun, was einem getan wurde. Das durch Überfälle wilder Tiere traumatisierte Kollektiv fällt seinerseits über einige der Seinen her, um das Trauma loszuwerden. Den erschütternden Lärm von Erdbeben und Unwettern sucht es durch wiederholtes eigenes Kreischen und Lärmen zu bewältigen. Historisch greifbar wird solche Umwendung durch Wiederholung freilich erst in einem Spätstadium – dort, wo sie über ihre reflexhaften Anfänge weit hinaus und längst zu festen Verlaufsformen geronnen ist: denen des Opfers.

Über Opfer wundert man sich viel zu wenig. Zunächst sind es ja blutige Opfer. Sie werden nicht freiwillig dargebracht, sondern, wie eine kulturübergreifende Sprachregelung besagt, um den »Zorn« höherer Mächte zu »besänftigen«. Aber was tut man da eigentlich? Man schlachtet imaginären Mächten etwas vom Kostbarsten hin, was man hat. Um Angst und Schrecken loszuwerden, begeht man selber etwas Schreckliches. Das wäre nur absurd und unbegreiflich, ließe sich darin nicht der Kunstgriff der Fluchtumwendung erkennen, der den Homo sapiens zum erfolgreichsten Tier auf Erden hat werden lassen. Hominidenkollektive, die immer wieder den Zwang verspüren, die kostbarsten Lebewesen – und das heißt im Klartext: ihresgleichen – gemeinschaftlich zu schlachten, beginnen die Fluchtumwendung zu ritualisieren und üben so die Heiligung des Schreckens ein. Otto bietet eine unübertreffliche Formel für diesen Vorgang: »Vor dem mir graut – zu dem michs drängt.«10 Aber er hat von seiner Funktionsweise so gut wie nichts begriffen.

Hier muß Sigmund Freud weiterhelfen. Ohne von Ottos religionspsychologischer Studie Notiz zu nehmen, hat er, nahezu zeitgleich, nämlich gegen Ende des ersten Weltkriegs, an Kriegstraumatisierten einen peinigenden Wiederholungszwang entdeckt, der den Betroffenen im Traum »immer wieder in die Situation seines Unfalls zurückführt, aus der er mit neuem Schrecken erwacht«.11 Freud hat sogleich bemerkt, daß solche Träume Selbstheilungsversuche sind. Besagte Kriegsteilnehmer haben durch neben ihnen einschlagende Geschosse oder den Anblick zerfetzter Kameraden deshalb ein so tiefsitzendes Trauma davongetragen, weil ihr Nervensystem jäh davon überrascht wurde. Es konnte sich nicht genügend darauf einstellen; dazu fehlte ihm die nötige Angst. Angst haben heißt ja eine bestimmte Gefahr erwarten. »Ich glaube nicht,« sagt Freud daher, »daß die Angst eine traumatische Neurose erzeugen kann; an der Angst ist etwas, was gegen den Schreck und also auch gegen die Schreckneurose schützt.«12 Und so versucht das Nervensystem, den Schrecken, auf den es sich nicht genug vorbereiten konnte, sozusagen nachzubereiten: durch nachträgliche Angstentwicklung – dergestalt, daß der Traumatisierte die unbewältigte Schrecksituation im Traum immer wieder halluziniert.

 

Das Leiden an solchen Traumata ist zermürbend, zumal die Selbstheilungsversuche, die das Traumleben der Betroffenen unternimmt, gewöhnlich nicht ausreichen, um sie zu kurieren. Sie bedürfen zusätzlicher therapeutischer Hilfe. Ihr Leiden ist, verglichen mit den Anfängen der Menschheit, freilich schon etwas kulturell weich Eingebettetes. Es ist bloß noch der Traum, worin es voll ausbricht. Im Wachzustand ist es halbwegs unter Kontrolle. Der Traum aber verweist stets in die Vergangenheit; nicht nur in die eigene Kindheit, an die das Traumleben immer wieder anknüpft, sondern auch in die Kindheit der Menschheit. Der Traum ist »primitive Denktätigkeit«13, sagt Freud und meint damit: Was Menschen heute in der Regel nur noch im Schlaf tun, nämlich Bilder, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Lust- und Schmerzempfindungen zu halluzinieren, das war vor sehr langer Zeit bei ihren altsteinzeitlichen Vorfahren auch im Wachzustand die Regel. Halluzination ist die primitivste Form des Denkens. Stimmen hören, Gestalten sehen, Gerüche riechen, für die ersichtliche äußere Ursachen fehlen und die allen andern in unmittelbarer Umgebung verborgen bleiben: das ist heute das klinische Kriterium für eine Psychose. Sie ist definiert als krankhafte Unfähigkeit, zwischen Wahrnehmung äußerer Reize und innerer Vorstellung zu unterscheiden. Doch genau diese Differenz hat die Menschheit in ihren Anfängen unendlich mühselig lernen müssen. Innere Bilder, Vorstellungen, Gedanken sind ja nicht fertig vom Himmel gefallen. Sie haben von der Außenwelt und ihrer Wahrnehmung erst einmal abgelöst werden müssen. In der ersten, sich über viele Jahrtausende erstreckenden Ablösephase kann es gar nicht anders gewesen sein, als daß Inneres und Äußeres noch nahezu ununterschieden aneinanderklebten, wie es auch als sicher gelten darf, daß Naturwesen nicht aus Spaß die Anstrengung auf sich nehmen, von ihren Wahrnehmungen etwas so unerhört Neues abzuzweigen wie innere Vorstellungen. Die ungeheure Nervenarbeit, die da zu leisten war, deutet darauf hin, daß es etwas Ungeheures zu bewältigen gab, wie ja heute noch die Halluzinationen des alltäglichen Träumens, wenn auch zumeist in harmlosem Kleinformat, damit beschäftigt sind, unerledigte Reize zu bewältigen. Nicht von ungefähr nannte Freud die Traumtätigkeit »Traumarbeit«14.

Wenn alles Denken anfangs halluzinatorisch war, so heißt das umgekehrt auch: Es gibt kein elementareres und sinnlicheres Denken als die Halluzination. Allerdings folgt daraus nicht, daß unsere Altsteinzeitvorfahren genau so gedacht haben, wie wir träumen. Der Traum ist nur noch Halluzinationsrückstand, nur noch Untergrund jenes mentalen Raums, der in seiner Entstehungsphase von nichts als Halluzination erfüllt und noch bar jeglicher abstrakteren Vorstellung war, von Begriffen und ihrer Verknüpfung zu Urteilen und Schlüssen ganz zu schweigen. Die in den Untergrund gedrückte, nur im Schlaf aufsteigende und selbst dann noch zensierte Halluzination ist ein gestauchter Rest derjenigen, die einst das ganze mentale Leben ausgemacht hat. Dennoch sind beide wesentlich »primitive Denktätigkeit«. Die Grundmechanismen, die Freud am Traum herausgearbeitet und als seelischen »Primärvorgang« bezeichnet hat, sind keineswegs auf den Traum beschränkt; sie sind konstitutiv für jegliche Halluzination, also Primärmechanismen des menschlichen Denkens selbst, um nicht zu sagen, Grundmechanismen der Menschwerdung. Freud war auf nichts so stolz wie die Entdeckung »des sogenannten psychischen Primärvorganges« und nannte sie »unsere tiefste Einsicht in das Wesen der nervösen Energie«.15 Ausgerechnet die Reichweite dieser »tiefsten Einsicht« hat Freud gründlich unterschätzt, genauso wie er die Funktionsweise des traumatischen Wiederholungszwangs am Traumleben von Unfall- und Kriegstraumatisierten offenlegte, aber nicht bemerkte, daß er damit noch viel mehr entdeckt hatte, nämlich den menschheitsgeschichtlichen Primärvorgang der Konstitution des Heiligen: »Vor dem mir graut – zu dem michs drängt.«16

Der Primärvorgang dabei ist zunächst ein ritueller: den Schrecken durch Schlachtung zelebrieren. Der zelebrierte Schrecken ist freilich nicht mehr Naturschrecken pur, sondern gestalteter Schrecken. In der Natur ist er dezentral und regellos. Hier wilde Tiere, dort Unwetter, Überschwemmung, Erdbeben, Feuersbrunst. Im Ritual hingegen wird er zentralisiert und geregelt, das heißt von den verschiedenen Orten seines sporadischen Auftretens verschoben an einen besonderen Ort und dort zum Schrecken schlechthin, zum heiligen Schrecken verdichtet. Verdichtung und Verschiebung sind für Freud »die beiden Werkmeister«17 des Traums. Sie machen seinen »Primärvorgang« aus. Sie sind aber weit »primärer« als von Freud gedacht, konstituieren nicht erst den Traum, sondern schon den rituellen Raum, der gleichsam den Nährboden aller halluzinatorischen Kräfte bildet und zudem auf verblüffend einfache Weise transparent werden läßt, wie Verdichtung und Verschiebung mit der Umkehrung zusammenhängen, deren Wichtigkeit für Freud unzweifelhaft war, deren Status im Primärvorgang ihm aber nie ganz klar wurde.18 Nun zeigt sich: Die Umkehrung ist die Angel, in der sich der Primärvorgang dreht. Verdichtung und Verschiebung sind im Dienste der Umkehrung des Schreckens überhaupt erst in Gang gekommen.

Einmal umkehren genügt freilich nicht. Der gewendete Schrecken ist ja immer noch schrecklich. Er bedarf dringend weiterer Abmilderung, und so hat Homo sapiens von seiner Flucht nach vorn allmählich einen Fluchtweg abgezweigt und gebahnt, der nach innen führte. Auf dem Boden des rituellen Raums tat sich, sozusagen als dessen genius loci, der mentale Raum auf, worin die Schreckbewältigung in einen neuen, sublimeren Aggregatzustand überging und sich zu einer neuen Art von Gestalt verschob und verdichtete: zum inneren Bild des Schreckens. Das innere Bild hat als Notausgang begonnen. Es halluziniert den Schrecken als die höhere Macht, die die Schlachtung »will«. Erst dadurch ist die Schlachtung überhaupt zum Opfer, zur Darbringung geworden, hat einen Adressaten, ein Wozu, einen höheren Sinn bekommen, der ihr Grauen milderte. Was auf griechisch theoria heißt, nämlich das »Sehen des Göttlichen«, hat in der Halluzination eines Adressaten, eines Sinnstifters der Schlachtung seinen Anfang. Theorie hat als verzweifelte Besänftigung von Praxis begonnen. Im Opferritual sind beide auseinandergetreten, hier hat die Halluzination angefangen, sich von Sensorik und Motorik abzulösen, hier zeigt sich der Primärvorgang in seinem primären Stadium. Es besteht daher aller Anlaß, Freuds »tiefste Einsicht« bis in dieses Stadium voranzutreiben und seine Traumdeutung überall dorthin auszudehnen, wo es jene »primitive Denktätigkeit« aufzuhellen gilt, von der der Traum bloß der gestauchte Rest ist.

Abtrünnige Gefolgsleute – anhängliche Gewährsleute

Blickt man im Licht dieses kleinen Exkurses über die Heiligung des Schreckens auf die »unfaßbare Kehrtwende« am Ursprung des Christentums zurück, wird sie um einiges faßlicher. Fest steht: Es war eine Schar einfachen Volks, die mit Jesus nach Jerusalem zog. Daß seine ersten Anhänger Fischer vom See Genezareth waren, ist nicht erfunden. Vielmehr erregte Anstoß, daß derart einfache, ungebildete Leute die dienstältesten Träger einer grundstürzend neuen, höchst prätentiösen Weltsicht sein sollten. Und so entstand schon früh die Legende, Jesus habe aus den gemeinen Fischern Simon (später Petrus genannt) und Andreas, als er sie zu seinen Jüngern berief, etwas Höheres gemacht: »Menschenfischer« (Mk 1, 17) – eine denkbar schiefe Metapher, die durch Worte bekehrte Menschen mit im Netz zappelnden Fischen vergleicht. Als sicher hingegen darf gelten, daß Jesus seine Begleiterschar mit höchsten Erwartungen aufgeladen hatte. In Jerusalem sollte nicht irgendetwas passieren, sondern »das Reich kommen«: die bestehende Welt aufhören und eine völlig neue beginnen, die mit Entstehen und Vergehen, Sieg und Niederlage, Trauer und Elend nicht länger geschlagen ist. Um so größer das Desaster. Derjenige, der »das Reich« sozusagen vorverkörperte, wird gefangen genommen und gekreuzigt, und als sicher darf nur noch zweierlei gelten: Alle Jünger verließen ihn und flohen, und zumindest einige erfuhren von seiner Kreuzigung und seinem lauten Schreien, ehe er starb,19 sei es durch Stadtgespräch, sei es durch fernes, verstohlenes Zuschauen. Dann verliert sich ihre vorösterliche Spur, und erst nach einer schwer zu ermessenden Zeitspanne –»am dritten Tag« ist eine ganz unglaubwürdige, der magischen Dreizahl geschuldete Angabe20 – treten sie gemeinsam wieder hervor: als die ersten Christen.21

Was in der Zwischenzeit geschehen ist? Wir wissen es nicht. Offenbar hatten die Jünger später keinerlei Interesse daran, ihre Erinnerung an diese Tage zum Bestandteil der urchristlichen Botschaft zu machen. Wo sie sich nach der Kreuzigung Jesu aufgehalten, was sie gesagt und getan haben, dies alles wäre verdammt interessant, aber niemand hat es aufbewahrt. Und dennoch darf man gewiß sein, daß sie bestimmte Dinge sicher nicht getan haben: etwa gemütlich in einer Schenke sitzen und Würfel spielen. Sie waren in Panik geflohen, ihr über Jahre hinweg aufgebautes Selbst- und Weltverständnis war zutiefst erschüttert. Kurzum, daß sie traumatisiert und gefährdet waren, allen Anlaß hatten, sich entweder zu verkriechen oder sich ihrer Umgebung bis zur Unkenntlichkeit anzugleichen, also ihren Herrn zu »verleugnen«, um nicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie er: das kann man auch wissen, ohne die Details ihres Verhaltens zu kennen. Und dann – ob nach Tagen, Wochen oder Monaten, läßt sich schwer sagen – kam der Umschwung. Die abtrünnigen, untergetauchten Gefolgsleute Jesu traten als seine anhänglichsten Gewährsleute hervor. Die Panik war von ihnen abgefallen. Ihre Fluchtrichtung hatte sich umgekehrt.

Die älteste erhaltene Kunde von dieser Kehrtwende stammt aus zweiter Hand – von einem, der Jesus nie kennengelernt hat und sich dennoch in die Reihe der authentischen Zeugen seiner Auferstehung stellt: Paulus. Als er den ersten Korintherbrief schreibt, ist die Kehrtwende etwa zwanzig Jahre her. Er kennt sie nur vom Hörensagen. Bei seiner Einweisung ins Christentum hat er sie als jene eiserne Ration des Evangeliums mitgeteilt bekommen – wie und von wem, sagt er nicht –, die er der Gemeinde zu Korinth so weitergibt: »Denn ich habe euch vor allem überliefert, was ich selbst empfangen habe: daß Christus gestorben ist für unsere Sünden nach den Schriften, und daß er begraben wurde, und daß er auferstanden ist am dritten Tage nach den Schriften, und daß er gesehen wurde von Kephas, dann von den Zwölfen, danach wurde er von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal gesehen […]; dann wurde er von Jakobus gesehen, dann von allen Aposteln; zuletzt von allen wurde er, als von einer Fehlgeburt, auch von mir gesehen.« (1Kor 15, 3 – 8)

Wie fern sind diese Worte dem historischen Jesus bereits! Sein Kreuzestod kommt nur noch doppelt abgefedert vor: als geschehen »für unsere Sünden« und »nach den Schriften«, will sagen, nicht mehr als grauenhaftes, sondern schlechterdings rettendes, sinnstiftendes Ereignis, und im Einklang mit den Schriften, die den Juden heilig waren. Mit andern Worten: Diese Schriften – gemeint sind vornehmlich Pentateuch, Propheten und Psalter – haben vorausgesagt, daß Jesus »für unsere Sünden« sterben werde. Das vaticinium ex eventu gehört bereits zu jenen wenigen Sätzen, die Paulus als Evangeliumsextrakt ausgibt. Mehr noch: Hier zeigt sich die Elementarfunktion der nachträglich fingierten Weissagung. Besonderen Ereignissen eine höhere Bedeutung beilegen heißt nämlich zunächst, ihr Grauen abzumildern. Sie werden erträglicher, wenn man sich sagen kann: Es war so vorgesehen; Gott hat es so gewollt. Auch mit der Auferstehung war offenbar besser zurechtzukommen, wenn sie als ein Ereignis »nach den Schriften« deklariert wurde. Die beiden grundstürzenden, ebenso untrennbaren wie gegenläufigen Heilsereignisse, die das Evangelium verkündete, verlangten nach einem vertrauten Koordinatensystem, um überhaupt verkraftet werden zu können. Kurzum, sie verlangten nach »den Schriften«, nach Integration ins Judentum, als seien sie nicht der Bruch mit der langen Tradition jüdischer Heilserwartungen, sondern die Erfüllung, auf die sie allesamt zustreben und vorausdeuten, ja als habe Jahwe, der Gott Israels, die gesamte Geschichte auf sie hin angelegt, als zeige er erst in Tod und Auferstehung Jesu ganz, wer er sei.

 

Dann erst reicht Paulus das dritte Ereignis nach, ohne das die andern beiden gar nicht hätten verkündet werden können: Christus »wurde gesehen« (griechisch: ophte), zuerst von Kephas22, dann von »den Zwölfen«, dem innersten Kreis um Jesus, der in der Urgemeinde offenbar viel zu bekannt war, als daß Paulus ihn namentlich aufzählen mußte. Dann sollen »mehr als fünfhundert Brüder auf einmal« Jesus »gesehen« haben, ein Massenereignis, von dem es keine weitere Notiz gibt, allenfalls einen vagen Nachhall in der Pfingstgeschichte; und dann kommen die Nachzügler: Jakobus, höchstwahrscheinlich der »Herrenbruder«, der einzige in der urchristlichen Gemeinde außer den Jüngern, der Jesus persönlich gekannt hat, aus einer bestimmten Perspektive vielleicht besser als alle andern, von dem man aber weder weiß, wie er zur christlichen Gemeinde stieß, noch was er »sah«, als ihm sein leiblicher (Halb?)-Bruder plötzlich als Christus »erschien« oder was er sonst über ihn dachte, sondern nur, daß ihm in der Jerusalemer Gemeinde zunehmend die Stellung der obersten Autorität zuwuchs. Dann kommen »alle Apostel«, ebenfalls ohne Namensangabe, weil offenbar ebenso bekannt wie »die Zwölf«. »Die Zwölf« sind der engste Kreis der Apostel; aber es gab deren mehr als zwölf. Alle Apostel sind dadurch qualifiziert, Christus »gesehen« zu haben; das gilt auch noch für den letzten in ihrer Reihe, der sich als apostolische »Fehlgeburt« bezeichnet und damit womöglich einen aus dem ältesten Jerusalemer Gemeindekreis gegen ihn gerichteten Schimpfnamen aufnimmt: Paulus selbst. Aber es gibt auch Leute, die Christus »gesehen« haben, ohne Apostel zu sein. Die »mehr als fünfhundert Brüder«, die ihn »auf einmal« gesehen haben sollen, sind dadurch nicht pauschal zu fünfhundert Aposteln promoviert worden. Es gab für Paulus also bereits ein apostolisches Sehen und ein im Vergleich dazu subalternes, ohne irgendeinen Hinweis darauf, wie beide zu unterscheiden wären.

»Nach den Schriften«: das war schon vage genug, zumal durch kein einziges Schriftzitat gestützt: ophte (»wurde gesehen«) ist noch um eine Spur lakonischer. Gewöhnlich kann kein Zeuge, der zur Erhellung eines Tathergangs beitragen will, sich damit begnügen, vom Tatverdächtigen lediglich zu behaupten, daß er ihn »gesehen« habe. Er muß hinzufügen, wann, wo, unter welchen Umständen, sonst ist er völlig unglaubwürdig. Von alledem bei Paulus kein Wort, und das, obwohl er für sich in Anspruch nimmt, Christus nicht minder »gesehen« zu haben als Petrus oder »die Zwölf«. Man bedenke: Das kahle, nackte »wurde gesehen« ist der Fels, auf den die christliche Botschaft sich gründet. Und was tun all die klugen und gelehrten Theologen, die sonst kein historisches Detail, das zum besseren Verständnis neutestamentlicher Texte beitragen könnte, unerhellt lassen, die das Christentum scharfsinnig mit griechischer Philosophie und europäischer Aufklärung zu verbinden wissen, die gnadenlos jede Schwachstelle der Marxschen oder Freudschen Religionskritik aufdecken? Sie nehmen das windige »wurde gesehen« hin, als wäre es das solideste Fundament, ignorieren seine schreiende Erläuterungsbedürftigkeit einfach oder spielen sie aufs Fadenscheinigste herunter – und loben die »Zeugen« der Auferstehung womöglich noch für ihre weise Enthaltsamkeit gegenüber der Versuchung, Jesu Auferstehung indiskreten menschlichen Beschreibungsversuchen auszusetzen.23