Buch lesen: «Nacht im Kopf»
Christoph Heiden
Nacht im Kopf
Kriminalroman
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © runamock / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6962-6
Personenverzeichnis
Anna Majakowski: Sozialarbeiterin, Waise
Willy Urban: ehemaliger Polizist, Witwer
*
Mike: Reinigungskraft, Annas Freund
*
Frank Lewin: Wirt und Ehemann
Erika Lewin: Wirtin und Ehefrau
*
Tom Kowalski: Altenpfleger, Patricks großer Bruder
Patrick Kowalski: ungelernt, Toms kleiner Bruder
Mutter Kowalski: verstorben
*
Yvonne Schauder: arbeitslos, Mutter und Ehefrau
Christian Schauder: arbeitslos, Vater und Ehemann
Jimmy Schauder: Schüler, Yvonnes und Christians Sohn
*
Claudia Pfabe: Sachberarbeiterin, Mutter
Liane Pfabe: Schülerin, Claudias Tochter
*
Jannes Krüger: Angestellter bei einer Krankenkasse, Gatte
Lotte Krüger: Hausfrau, Gattin
*
Pawel Mitschek: Keramiker, arbeitslos
Bibi: Pawels Katze
August Brehm: Lehrer, Pflanzenfreund
*
Wolfgang Bielecke: Alkoholiker, arbeitslos
René Berkholz: Kuxwinkler
Bruno Vogler: Kuxwinkler
*
Lennart Majakowski: Annas Bruder, verstorben
Eva Urban: Willys Frau, verstorben
*
Mutter Bielecke: Mysterium
ein Nachtwächter: Spukgestalt
Alan Albert Bloch: britischer Drehbuchautor
19. Oktober 2019
15.10 Uhr
Der erste Stein streifte ihr Bein, ganz leicht, sodass sie nicht an Absicht glauben wollte. Sie schaute den Schacht hinauf, aber dort war niemand. Lediglich das Tageslicht hing in der Brunnenöffnung wie der Vollmond an einem schwarzen Himmel. Dann flog ein zweiter Stein hinunter und traf sie direkt im Gesicht. Ihr Kopf knallte gegen die gemauerte Wand und sofort durchfuhr der Schmerz ihren ganzen Körper.
Anna wollte um Hilfe schreien, doch gelang ihr allenfalls ein trockenes Röcheln. Der Schlag, den sie vor dem Sturz in den Brunnen eingesteckt hatte, war genau auf ihrem Kehlkopf gelandet; jetzt fühlte sich ihr Hals an, als versuche sie, eine Billardkugel runterzuwürgen.
Mit beiden Armen schützte sie ihr Gesicht und wagte wieder den Blick nach oben. Nirgends eine Gestalt, weder Mensch noch Tier, nur das kreisrunde Licht. Anna senkte die Arme und seufzte erleichtert, da rieselte eine Ladung spitzer Kieselsteine auf sie herab.
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH
27. September
Dancing Queen
Frank trat durch die Hintertür in die Kneipe, schob den Bierkasten unter die Bar und befüllte den Kühlschrank mit Flaschen. Über dem Tresen lief das Radio. 16 Uhr. Die Nachrichten des Berliner Rundfunks. Während ihm das Grauen aus aller Welt serviert wurde, fragte er sich, ob er auf diesem Planeten noch richtig war. Bürgerkrieg in Syrien, Bürgerkrieg in Jemen. Terroranschläge, korrupte Präsidenten, Brexit ohne Ende. Massenproteste in Hongkong; ungehemmte Waldbrände in Brasilien. Als der Lokalteil folgte, wurde es kaum besser. Frank war dankbar, dass Kuxwinkel für ihn bald der Vergangenheit angehörte. Kein halbes Jahr mehr, sagte er sich, dann wären er und Erika über alle Berge.
Die Bierkästen im Blick, überschlug er die Zahl der erwarteten Gäste. Wenn er pro Kopf sechs Bier berechnete, käme er auf 120 Flaschen, also insgesamt sechs Kästen. Für den Notfall lagerte im Keller eine Kiste »Frankfurter Export«, die er vor Jahren zum Aktionspreis geschossen hatte. Vielleicht waren sechs Bier pro Gast zu hoch kalkuliert, vielleicht traf mit Krügers Geburtstag aber auch der besagte Notfall ein. Derartige Grübeleien ließen ihn den Sinn der Feier anzweifeln, eben nicht anders, als er es gestern oder vorgestern, im Grunde bereits seit dem Tag der Planung getan hatte.
»Soll ich aufschließen?«, rief Erika durch den Raum.
»Muss das sein?« Er berührte seine Schirmmütze.
»Warum denn nicht?«
»Es ist kurz nach vier.«
»Ich dachte ja nur.«
»Willste, dass die Suffköppe schon um sechse dicht sind?«
»Okay, bleibt der Laden halt geschlossen.«
Erika lachte, wie sie in letzter Zeit häufig lachte: scheinbar grundlos und über die Maßen extrovertiert. Sie verrückte einen der Tische, bis er ihres Erachtens genau richtig stand, dann fragte sie Frank nach der Tüte.
»Welche Tüte?«
»Na, die mit den Girlanden.«
Er entdeckte zwei Tüten unterm Tresen, nahm eine davon und schwenkte sie auf Augenhöhe.
»Und die mit den Brillen?«
»Ist auch hier.«
Erika begann, wie ein aufgeregtes Kind in die Hände zu klatschen. Vorigen Monat hatte sie ihr Haar abschneiden lassen; seitdem zwirbelte sie sich zwei winzige Zöpfe, die von ihrem Hinterkopf ragten. Anfänglich hatte er mit dem neuen Look ebenso gefremdelt wie mit ihrem Lachen. Sobald er allerdings begriffen hatte, dass das ihre Art war, den Neuanfang zu begrüßen, hatte er sich damit abgefunden. Er warf ihr die Tüte zu und sagte:
»Ich versteh nicht, weshalb wir so ’n Aufriss machen.«
»Ach, komm. Jannes ist Stammgast.«
»Seinen Likör schmuggelt er trotzdem rein.«
»Das machen die andern auch.«
»Und genau das kotzt mich an, genau das.«
»Frank.« Sie lächelte ihn an. »Das ist die letzte Party.«
Er senkte die Mütze in die Stirn, aber Erika gab sich unbeeindruckt. Sie angelte eine Girlande aus der Tüte, neigte sich über den Tresen und wickelte das eine Ende um einen der Zapfhähne. Die chromfarbene Apparatur diente ohnehin nur der Dekoration; selbst als sie erfahren hatten, dass in der Region ein Werk für Elektroautos, eine sogenannte Gigafactory, entstehen sollte, war die Anlage trocken geblieben. Ein Fass einzukaufen und gekühlt zu lagern, lohnte nicht für eine Handvoll Besucher. Frank besorgte das Bier lieber aus dem Discounter, meist das Schnäppchen der Woche, schlug 50 Cent auf jede Flasche und erduldete die Mitbringsel der Gäste – einen im Anorak versteckten Likör, einen Flachmann hinterm Gürtel oder eine ungeniert unter den Arm geklemmte »Goldkrone«. Respekt erwartete Frank in diesem Kaff von niemandem mehr.
Mit einem Anflug von Sorge sah er Erika leichtfüßig über die Barhocker balancieren. Sie trug ein T-Shirt mit Wendepailletten, die entweder einen silbernen Regenbogen zeigten oder ein goldenes Einhorn. Nachdem sie eine Girlande über der Bar befestigt hatte, blies sie ein paar Luftschlangen in den Raum. Das Papier entrollte sich über raue Sitzflächen, landete auf gesplitterten Dielen, verfing sich im eingestaubten Kronleuchter. Längst war die Kneipe zu einer Art Gemeinderaum verkommen; es fehlte nur ein öffentlicher Anschlag für den Schlüssel.
Frank bat Erika, vorsichtig zu sein, und während sie seine Sorge mit einem Lachen abtat, kniete er sich hinter den Tresen. Er öffnete erneut den Kühlschrank und zählte ein weiteres Mal die Bierflaschen. Kaum klüger als zuvor, drückte er die Tür zu, und sein Blick blieb an dem mit Magneten befestigten Foto haften. Erika und er gegen den Tresen gelehnt, sie in einer verwaschenen, viel zu weiten Jeans, er mit einem rot-weißen Tuch auf dem Kopf. Sie waren beide um die 30, also sehr jung, oder zumindest das, was er heute mit Ende 50 als jung empfand. Sein Vater hatte dieses Bild geknipst, im »Schlecker« entwickeln lassen und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt. Mittlerweile war die Drogeriekette Geschichte, und Filme hatte Frank seit Ewigkeiten nicht mehr zum Entwickeln eingetütet. Eines der wenigen Dinge, die sich seit damals nicht geändert hatten, war seine Vorliebe für Kopfbedeckungen. Die Tweedmütze, die er aktuell trug, hatte ihm Erika auf einer Englandreise geschenkt. Er berührte den Stoff, dachte an die weiß getünchten Fassaden in Cornwall, an die Klippen von Land’s End und daran, wie die heftigen Böen Erikas Haar zerzaust hatten, sehnte sich nach Steinwällen, Torfgeruch und Pale Ale, und schließlich zwang ihn die Sorge, dass Erika sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Unbekümmertheit wehtun könnte, zum Aufstehen.
»Was machst du denn hier?«
»Ich wollt einen trinken«, entgegnete Bielecke. Er lehnte am Tresen, die Augen erwartungsvoll auf Frank gerichtet, und verströmte eine Fahne, als hätte er seinen morgendlichen Kaffee bereits mit Goldkrone veredelt.
»Und wie biste hier reingekommen?«
»Na durch den Schornstein.«
»Deine Witze kannste dir sparen.«
»Ich bin durch die Tür geschneit, mein Lieber.«
»Die ist abgeschlossen.«
»Aber nicht die Hintertür.«
»Hast du nicht das Schild gesehn?«
»Welches Schild?«
»Das an der Tür«, sagte Frank ruhig. »Da steht Privat drauf.« Er wiederholte das vorletzte Wort, betonte dabei jede Silbe laut und deutlich: »PRI-VAT.«
»Aber mich kennste doch.«
»Privat bedeutet Erika und meine Wenigkeit, kapiert?«
Bielecke imitierte mit der Hand einen Vorhang, den er hochzog, um darauf eine Grimasse gespielter Trauer zu offenbaren. Die lebenslange Qualmerei hatte aus seinem Schnauzer einen vergilbten Besen gemacht, eine Hautkrankheit aus seiner Nase ein wucherndes Gewächs. Bielecke behielt die Grimasse bei und erwartete eine Reaktion, vielleicht ein Lächeln oder wenigstens ein lässiges Abwinken.
Frank war dieses Theaters überdrüssig. Er quittierte Bieleckes Bemühungen lediglich mit einem Fingerzeig zur Hintertür. »Wir öffnen Punkt 17 Uhr.«
»Is ja bald.«
»Bald heißt nicht jetzt, kapiert?«
Frank bäumte sich hinter dem Tresen auf, wobei eine Girlande sein Gesicht streifte. Aus einem Impuls heraus wollte er sie runterreißen, besann sich jedoch eines Besseren und stützte die Ellbogen auf die Theke. »Hör zu, Bielecke. Hier bekommst du nichts.«
»Und nachher?«
»Wenn du nicht abschwirrst, nie mehr.«
»Soll das ’n Hausverbot sein?«
Frank zögerte.
»Hallo, Wolfgang!«, rief Erika und kletterte von einem der hinteren Tische herunter. »Nix los zu Hause?« Sie schlenderte zum Tresen und klopfte auf einen Barhocker, als würde sie einen Hund anlocken wollen. Mit einem schiefen Grinsen dackelte Bielecke zu ihr und fingerte dabei eine Schachtel Kippen aus der Hose.
»Kannste vergessen«, protestierte Frank.
»Eine einzige, mein Lieber.«
»Wage es nicht.«
»Die anderen dürfen auch rauchen.«
»Die anderen, die anderen«, wiederholte Frank genervt. »Siehst du hier irgendwelche anderen Gäste?«
»Pscht, das ist mein absolutes Lieblingslied.«
»Was? ›Dancing Queen‹?«
»Ja, schon immer.«
»Und deshalb gilt das Rauchverbot nicht für dich?«
»Okay«, sagte Erika sanft, »ausnahmsweise.« Sie bugsierte einen Aschenbecher zwischen sich und Bielecke und steckte sich selbst eine Zigarette an. Frank knautschte den Schirm seiner Mütze und seufzte. Auf Erikas Frage, wie es ihm gehe, antwortete Bielecke mit dem abgeschmackten Witz von den zwei Fliegen auf dem Weg zur Hölle. Erika bog sich vor Lachen, während Frank es bei einem Kopfschütteln beließ.
Noch eine Stunde, bis sie den Laden öffneten; das hieß gleichfalls eine Stunde mit Bieleckes Weisheiten. Es kostete ihn schon Mühe, die abendliche Feier kommentarlos hinzunehmen, das ganze Tamtam, das Erika und Krügers Frau veranstalteten. Seinetwegen hätten sie die Feier mit einer billigen Ausrede abblasen können; aber für Erika war es wohl mehr als ein schnöder Geburtstag. Es war ihr Goodbye zu den Freunden und Nachbarn, der ganzen Meute und auch zu einer Landplage namens Bielecke.
Mit einem Knurren zog Frank eine Flasche »Lübzer« aus dem Kühlschrank und schob sie ihm hin. Bielecke bedankte sich in gespieltem Eifer und langte zu. Seine Fingernägel machten den Eindruck, als wären sie sein Lebtag von schweren Hufen malträtiert worden. Frank war ein solcher Anblick nicht fremd: Sein Vater hatte auf der LPG »Märker Land Gollwitz« gearbeitet, höchstens 20 Fahrminuten von hier, und dessen Fußnägel waren vom Getrampel der Kühe einen halben Zentimeter dick gewesen. Grauer, scharfkantiger Schiefer, bei dem selbst robuste Nagelscheren versagten. Bielecke, der seit Urzeiten an der Flasche hing, hatte garantiert noch nie einen Stall von innen gesehen. Woher ausgerechnet der solche Schippen hatte, war Frank ein Rätsel.
Erika jedenfalls schien sich mit ihm bestens zu unterhalten.
Frank warf ein, er wolle kurz in den Keller. »Werkzeug holen.«
»Wozu das denn?«, fragte sie ihn.
»Der Zapfhahn ist verstopft.«
»Wir lassen die Anlage eh aus.«
Er rollte mit den Augen. »Du weißt schon, der Zapfhahn.«
»Ihr stecht ein Fass an?«, fuhr Bielecke dazwischen. »Und mir serviert ihr diese Plörre?«
Frank krallte seine Finger in die Mütze und wünschte sich auf die Klippen von Land’s End. Er verließ die Kneipe, und sowie er die Hintertür von draußen schloss, stellte er fest, dass dort tatsächlich kein Schild hing. Es lag, keine zwei Meter entfernt, im Dreck.
I Wanna Dance With Somebody
Als Erika nach der Tüte mit den Papierhütchen und den Spaßbrillen griff, schenkte ihr Frank einen seiner vier Gesichtsausdrücke; in diesem Moment lautete die Botschaft schlichtweg: Muss das sein?
Ja, es musste, gab sie ihm mit einem Lächeln zu verstehen. Sie zerrte den Packen aus der Tüte, und die Farben der Hüte und Brillen waren genauso verblasst wie die der Girlanden und Luftschlangen. Mehr darf die Meute eben nicht erwarten, dachte Erika. Immerhin hatte sie sich allein um die Dekoration kümmern müssen. Sie faltete einen goldfarbenen Hut auseinander, schob ihn sich auf den Kopf und lächelte breit in die Runde.
»Mach mal lauter!«, rief René Berkholz, der sich ungeniert als Fan von Whitney Houston präsentierte.
Eine Gruppe Mittvierziger hatte sich an einen Tisch gepflanzt und der Berliner Rundfunk versorgte sie unentwegt mit einem Mix aus Geschwätz und Oldies. In den Anfangstagen der Kneipe hatten Erika die Rod Stewarts dieser Welt kaum berührt, hatte sie weder einer Tina Turner noch einem Chris Rea, weder einer Kim Carnes noch einem Phil Collins etwas abgewinnen können. Für sie war die Musik lediglich Teil des Geschäfts gewesen – die Gäste tranken mehr, wenn sie in Nostalgie versanken. Warum sollte sie einer Vergangenheit nachtrauern, die nur in den Köpfen der Leute existierte? Weshalb sich nach einem Ort sehnen, den es ohnehin nicht gab und nie gegeben hatte? Um diese Sehnsucht zu verstehen, hatte es 24 Jahre Ehe und ein Leben in Kuxwinkel gebraucht.
Sie trat hinter den Tresen, ignorierte Franks genervten Blick und stellte das Radio lauter. Dann klatschte sie im Takt von »I Wanna Dance With Somebody« in die Hände, bis sie den Zuspruch der Gäste registrierte. Sie sei einfach die Beste, grölte René Berkholz und hob den Daumen. Frank, der unablässig die Bierflaschen zählte, sagte:
»Ausgerechnet die Kreische.«
»Hey, so redet man nicht über Tote.«
»Whitney Houston ist tot?«
»Seit mindestens sechs Jahren.«
»Das macht die Musik nicht besser.«
»Okay, soll ich’s ausmachen?«
»Einfach leiser, das reicht schon.«
Kaum hatte sie die Lautstärke gemindert, bemerkte sie die enttäuschten Gesichter der Gäste. »Sorry!«, rief Erika. »Mein Alter ist ’n bisschen empfindlich auf den Ohren.«
»Brauchst wohl was Jüngeres!«, brüllte René herüber.
»Hast du jemand bestimmten im Auge?«
»Du weißt doch: Der Gentleman schweigt.«
»Der Gentleman kassiert gleich Hausverbot«, erwiderte Frank.
Erika schüttelte kaum merklich den Kopf und er begriff sofort. »Jaja, alles klar«, sagte er und stellte das Radio wieder lauter. Er neigte sich zu ihr und fragte erneut, weshalb sie ausgerechnet für Krüger so viel Aufheben machten.
»Das hab ich dir vorhin gesagt.«
»Der Typ hat dich bedrängt.«
»Jannes?« Sie lachte. »Der dackelt brav seiner Frau nach.«
»Das sah am See aber anders aus.«
»Frank, das ist 30 Jahre her.«
Sie öffnete ein Paket Jägermeister und hielt Frank eine der kleinen Flaschen hin. Seit sich das Geschäft seines Lebens anbahnte, schien ihm jeder dumme Spruch von einem der Kerle Anlass zur Eifersucht. Dabei plagte ihn weniger die Sorge, er könne sie verlieren; vielmehr fürchtete er den eigenen Gesichtsverlust, den Mangel an Respekt ihm gegenüber, und das, obwohl ihm Kuxwinkel schnuppe war. Die Logik dahinter versuchte Erika erst gar nicht zu begreifen. Sie erinnerte ihn daran, weshalb sie diese Show abzögen. Auf sein Nicken hin öffnete sie ihr Fläschchen. »Prost«, flüsterte sie. »Unser Goodbye an die Meute.«
»Trotzdem hätte ich mir das gespart.«
»Tja, jetzt ist zu spät.«
»Du willst sagen, mitgegangen, mitgehangen.«
»Wenn schon Abgang, dann mit Paukenschlag.«
Sie rang sich ein Lachen ab, und in seinem Gesicht formte sich ein Ausdruck, den sie in den letzten Jahren vermisst hatte, eine seiner vier Mienen, die tief verschüttet unter den übrigen dreien lag: Frank Lewin lächelte, zaghaft und unbestimmt. Er rückte näher, und sie dachte, er würde sie gleich küssen, hier, vor allen Leuten, vor der versammelten Meute. Der erste Kuss seit drei Jahren. Doch Frank stellte den Likör ungeöffnet ab und drängte sich neben sie. »Kann ich da mal ran?«
Erika trat beiseite und er bekam den Flaschenöffner zu fassen. Mit einem Nicken reichte er Tom Kowalski ein Bier über den Tresen und seine Miene rutschte zurück in die alte Form. Tom bedankte sich, legte das Geld auf die Theke und begab sich in Richtung Fensterplatz, ehe Erika ihm ein Hütchen hätte verpassen können. Frank kniete wieder vor dem Kühlschrank und zählte die Flaschen. Erika lehnte sich gegen die Anrichte und kippte sich den Jägermeister hinter die Binde. »Wie oft willst du das noch machen?«
»Ich hab nur Angst, dass es nicht reicht.«
»Das sagt ausgerechnet der, der null Bock auf alles hat.«
»Das verstehst du eh nicht.«
»Ich versteh nicht, warum du dich nicht amüsierst.«
Frank starrte unbeirrt in den Kühlschrank, wobei die Schirmmütze sein Gesicht verdunkelte. Sein Haar hatte sich frühzeitig gelichtet, bereits in den ersten Jahren ihrer Ehe. Irgendwann hatte er begonnen, Mützen jedweder Art zu tragen: In seinen 20ern hatte er mithilfe von schwarzen Hüten den coolen Barkeeper markiert, dem war eine Phase hipper Wollmützen gefolgt, die er so weit auf den Hinterkopf geschoben hatte, dass seine letzten Haarsträhnen hervorlugten. Danach hatten Baseballkappen seine Stirnglatze kaschieren und gleichzeitig das Image eines kernigen Truckers bedienen sollen. Während einer Englandreise hatte Erika ihm eine Schiebermütze gekauft, und so war ein Trucker auf die Insel gekommen, um sie als landloser Bauer zu verlassen. Heute ähnelte Franks Kopf einer behaarten Kniescheibe, die er höchstens im Schlafzimmer lüftete. Mit betont ironischem Tonfall fragte sie ihn, ob er einen Taschenrechner brauche.
Er schloss den Kühlschrank und hievte sich hoch. »Wann kommt eigentlich unser Geburtstagskind?«
»Jannes und Lotte wollten um sechs hier sein.«
»Ich hoffe, sein Drache weiß ihn zu bändigen.«
»Geht das jetzt den ganzen Abend so?«
Erika sah das Ehepaar Schauder in die Kneipe treten, schnappte sich die Tüte mit den Hüten und Brillen und steuerte geradewegs auf Yvonne zu. Indem ihr Mann zwei Finger hob, signalisierte er Frank seinen Bierdurst, dann drückte er Erika, noch bevor sie ihn oder seine Frau begrüßt hatte, einen Beutel in die Hand. »Stell mal kalt«, sagte Christian und allein das Gewicht des Beutels verriet ihr den Inhalt. Früher hatte Frank die Gäste davor gewarnt, eigene Getränke mitzubringen; doch weil es sich nicht mehr rentierte, ein breit gefächertes Sortiment anzubieten, war aus der Warnung irgendwann ein erhobener Zeigefinger geworden und aus dem Zeigefinger bald ein Schulterzucken.
Erika hängte sich den Beutel in die Armbeuge und streifte Yvonne ein Papierhütchen über. Mit ihren 40 Jahren zählte ihre Freundin zu den Jüngeren im Dorf. Ihr kräftiges Haar hatte sie hochgesteckt, außerdem trug sie einen knallroten Lippenstift, der die Narbe unter ihrem linken Mundwinkel verblassen ließ. Yvonne nahm Erika die Tüte ab, angelte eine Papierbrille heraus und schob sie Christian auf die Nase. »Jetzt könnte man dich glatt für klug halten.«
»Wenigstens etwas«, erwiderte er. »Dein Hut nützt dir gar nichts.«
»Erwartest wohl ’nen Anruf aus Hollywood?«, fragte Erika mit Blick auf sein Smartphone. Er schaltete das Display aus und schob das Handy in die Hose. Auf seinen Unterarmen schimmerte das dunkle Blau seiner Tattoos. Yvonne und Christian pflegten offenbar einen Wettstreit, wer die kleinste nicht tätowierte Stelle am Körper besaß.
»Ist Rauchen erlaubt?«, wollte Yvonne wissen.
Erika wackelte unschlüssig mit dem Kopf.
»Hey, Meister!«, brüllte Christian in Richtung Tresen. »Ist das heut ’n Räucherstübchen?«
Wie zu erwarten gewesen war, antwortete Frank nicht. Erika meinte zu Schauders, dass sie rasch das Mitbringsel wegschaffen wolle, und rückte hinter die Bar. Während sie den Wodka in den Kühlschrank schob, spürte sie im Rücken Franks Blick, dessen Botschaft nicht eindeutiger hätte sein können. Sie drückte den Kühlschrank wieder zu, wobei ihr das Foto ins Auge fiel. Frank behauptete gern, das Bild habe sein Vater geknipst und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt; in Wahrheit war seine Mutter die Fotografin gewesen, sie hatte das Bild auch gerahmt und in Geschenkpapier verpackt; sein Vater hatte es ihnen lediglich überreicht, im Gesicht ein falsches Lächeln, in seinem Schweigen der blasierte Kommentar, sie müssten selber wissen, auf was sie sich einließen, sie seien erwachsene Menschen und für sich selbst verantwortlich. Nach einem Streit, bei dem der Rahmen zerbrochen war, hatte Frank das Foto an den Kühlschrank angebracht.
»Hast du die CD?«, fragte sie ihn und hoffte gleichzeitig, er habe ihren Blick auf das Foto übersehen.
»Die liegt, wo sie immer liegt.«
Neben der kleinen Kompaktanlage türmte sich ein Stapel CDs. Sie fingerte einen Silberling ohne Hülle heraus und säuberte die untere Seite an ihrem Hosenbein. Frank hatte die Scheibe gebrannt, irgendwann Ende der 90er, und mit einem Edding beschriftet. Das Beste zum Geburtstag. Damals hatte Frank beinahe wöchentlich ein Album erstellt, hatte Songs hin- und hergeschoben, gegeneinander ausgetauscht und jedem Booklet eine lustige Skizze verpasst. Leider hatte von seiner Musikbegeisterung nichts die letzten Jahre überdauert; vermutlich war diese Leidenschaft ebenso verschüttgegangen wie sein Lächeln. Sie legte die CD in die Anlage und erklärte Frank, er müsse bloß auf Play drücken.
»Kann das nicht jemand anderes machen?«
»Du bist der Chef, also.«
»Viel zu melden hab ich anscheinend nicht.«
Er nickte über den Tresen, und sie wusste sofort, auf was er anspielte. Trotz des Rauchverbots qualmten die Gäste munter drauflos. Frank sprach oft davon, dass die Kneipe zu einem Gemeinderaum verkommen sei und ihn niemand mehr als Chef und Eigentümer wahrnehme. Erika zupfte eine der Papierbrillen aus der Tüte und trat so dicht an ihn heran, dass ein Kuss zwischen ihnen von der Meute unbemerkt geblieben wäre; dann klemmte sie ihm die Bügel hinter die Ohren. In dem Rahmen glichen seine Augen pechschwarzen Samen in einer rosaroten Blüte. Sie riet ihm, einfach an die Zukunft zu denken.
»Und wenn sie das ganze Projekt abblasen?«
»Die Sache ist längst unter Dach und Fach.«
»Politiker können sich umentscheiden.«
»Die rennen genauso der Knete hinterher wie wir.«
»Und das verdammte Grundwasser?«
»Was soll damit sein?«
»Das brauchen die zur Produktion der Batterien. Wenn das Umweltamt kein Okay gibt, ist es aus und vorbei.«
»Hat dir das Tom erzählt?«
»Ja, der ist bestens informiert.«
»Lass dich von dem bloß nicht vollquatschen.« Sie blinzelte zum Fensterplatz, wo Tom Kowalski allein vor sich hin brütete. Dann schob sie ihm die Mütze aus der Stirn und das Licht offenbarte das Blau seiner Augen. »Das sind alles Hirngespinste. Dumme Verschwörungstheorien.« Sie wandte sich um, konnte nirgends das Geburtstagskind entdecken und gab ihm einen Kuss.