Buch lesen: «Gott ist nicht kleinlich»
Christoph Benke
Gott ist nicht kleinlich Über das christliche Maß
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ und Willi Lambert SJ, Band 41
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Christoph Benke
Gott ist nicht kleinlich
Über das christliche Maß
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2009 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: Roberto Meraner
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-429-03195-4
Inhalt
1. Mehr Maß!
Ein alternativer Lebensstil
Permanente Überforderung
Faszination des Extremen
Gefragt: Gleichgewicht
2. Gott kennt kein Kleingeld
Die Schöpfung: maßvolle Ordnung
Segen und Leben in Fülle
Jahwe, ein leidenschaftlicher Gott
»Ganz« und »alles«
3. Jesus Christus – Mittler und Mitte
Jesus Christus – Mittler von Gott und Mensch
Jesus Christus – »freier Zugang zum Vater«
Jesus Christus – Mitte des Kosmos
Jesus Christus – Maß neuen Menschseins
4. An Jesus Maß nehmen
Das leichte Joch Jesu
Sich verschwenden für die Interessen Gottes
Die Heiligen – extreme Existenzen
Maßstab Eucharistie
5. Die Balance finden – überlieferte Einsichten
Mönchische Erfahrung
Management und Spiritualität – die Regel des hl. Benedikt
Die Lust am Leben temperieren – Thomas von Aquin
Die Gefährlichkeit von Extremen – Ignatius von Loyola
6. Eutonie gläubigen Lebens
Wenn die Mitte fehlt
»Ruhige Anstrengung«
Mein Maß
Wider das Laster des Sich-Vergleichens
7. Das Maß der Gottesliebe ist die Maßlosigkeit
An der Grenze des Kalküls
Gott nicht kleinlich lieben
Geben ohne zu zählen
Evangelische Räte
Göttliche Verschwendung
8. Das Maß finden – wie geht das? Zehn Wegweisungen
1. Mehr Maß!
Ökologie war schon einmal populärer: Diesen Eindruck gewinnt man angesichts des dürftigen Ergebnisses von Konferenzen, die sich mit dem Klimawandel befassen. Klar ist: Wenn die Menschheit nicht schleunigst mit den Ressourcen des Lebens maßvoll umgeht, wird sie keine Zukunft haben. Geht es jedoch darum, konkrete Maßnahmen einzuleiten, nimmt der politische Gestaltungs- und Durchsetzungswille rapide ab. Zudem erlegt die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise vielen Menschen Einschränkungen auf, die sie nicht selbst gewählt haben.
Die globale ökologische Krise stellt einen zentralen Inhalt christlichen Glaubens in Frage: Ist der Mensch tatsächlich Ebenbild Gottes (Gen 1,27), damit »Krone der Schöpfung« und als solcher das Maß aller Dinge? Ist nicht allenthalben ersichtlich, wohin das geführt hat, nämlich an den Rand des globalen Kollaps? Kritiker des Christentums behaupten, es sei höchste Zeit, dass sich der Mensch im Gesamt des Kosmos selbst relativiert. Er soll sich als Teil des Ganzen, nicht als Spitze verstehen.
Ein alternativer Lebensstil
Aus heutiger Sicht scheint von der Lösung ökologischer Probleme und der Güterverteilung das Überleben der Menschheit abzuhängen. Die Devise »Maß halten« ist freilich politisch unpopulär. Damit lassen sich keine Wahlen gewinnen. Dies schafft eine lähmende Atmosphäre, die junge Menschen dazu bringt, kein rechtes Vertrauen in ihre Zukunft zu haben. Ethische Reflexion ist vonnöten und, christlich gesprochen, Umkehr, um nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz der Menschen zu erreichen und Abstand zu nehmen von einer zu stark konsumorientierten Lebensweise. Im Mittelpunkt eines neuen Lebensstiles müsste das Maßhalten stehen, jene Tugend, die das Notwendige vom Überflüssigen unterscheidet und so Lebensqualität und Freude vermittelt. Ist nicht auch Maßhalten das Mittel, um dem allgegenwärtigen »zu viel« etwas entgegenzusetzen? Zu viel Arbeit, zu viel Stress, zu viel Fast Food, zu viel Internet, zu viele Bilder etc.: Das »zu viel« ist Signatur der Gegenwart. Der Mensch reagiert auf derartige Überforderungen unterschiedlich. Früher oder später driften die Stress-Symptome ins Krankhafte.
Permanente Überforderung
Die Kehrseite des Zuviel ist das Zuwenig. Ständiges Zuviel lässt kaum Zeit für die Pflege von Beziehungen, für Erholung. So Elementares wie Muße, das Spielerisch-Nutzlose oder das Staunen kommt zu kurz. Kaum jemand hat die innere Stärke, sich dem Joch des »immer schneller, immer größer, immer mehr« nicht zu beugen; wohl nur der Mensch, der durch die Tugend des Maßes innerlich frei geworden und, so ist realistischerweise hinzuzufügen, der ökonomisch unabhängig ist! Darüber hinaus ist vielen der weltanschauliche Pluralismus ein Stachel: Wer will schon ständig wählen, fortwährend sich entscheiden? Viele sind die andauernde Herausforderung, sich zu positionieren, leid und tendieren gerade bei komplexen, unübersichtlichen Problemlagen zu simplen Antworten. Von daher passt das »zu viel«, also die Übertreibung, zum religiösen Fundamentalismus. Auch die Medienindustrie arbeitet geschickt mit diesem Stilmittel. Mit der damit gelegentlich produzierten Hysterie lässt sich gut Geld verdienen.
Faszination des Extremen
Der Devise »Mehr Maß!« stimmen viele zu. Doch eigenartig: Nicht die Mitte, sondern das Extrem ist anziehend. Das Extrem ist häufig das Spektakuläre, die Mitte hingegen das scheinbar Gewöhnliche und Alltägliche. Maß und Mitte haben einen faden Beigeschmack. Wer mag schon einer Gesellschaft, die dem Genuss zumindest nach außen hin hohen Stellenwert einräumt, eine »Tugend« (klingt altmodisch und verstaubt) und noch dazu die des Maßhaltens empfehlen? Das Thema ist nicht leicht zu vermitteln, weil es verneinend klingt und das Gefühl aufkommen lässt: ›Da gönnt mir jemand mein Leben nicht. Hat da jemand Angst vor dem Überschwang des Lebens?‹
Weitaus attraktiver ist die Suche nach dem Kick über irgendein Extrem, um »sich wieder zu spüren«. Ausdauer- und Extremsportarten boomen, weil sie starke Gefühle vermitteln, die Eigenwahrnehmung intensivieren und (wieder?) in Berührung mit der Personmitte bringen. Das Extrem ist das Sensationelle. Es macht Eindruck. Es holt aus der Banalität des alltäglichen Lebens für eine Weile heraus. Versprochen wird freilich noch mehr: Gerade die Extremerfahrungen scheinen den Menschen Selbsterlösung und Selbstbefreiung zuzusichern. Dabei ist das Kippen in die Sucht oft gefährlich nahe. Schade eigentlich, dass es kein Guinness-Buch der Maße, sondern nur der Rekorde gibt! Das Maß und die Mitte finden benötigt nämlich mindestens so viel Aufmerksamkeit wie das Training für einen Weltrekord.
Gefragt: Gleichgewicht
Zu den jüngsten Bergsportarten zählt das Balancieren auf einer Slackline. Zwischen zwei Felstürmen wird ein speziell verfertigtes Kunststoffband von 25 mm Breite befestigt. Dann balanciert der Akteur – mit Selbstsicherung – von einem Turm zum anderen, unter sich verschlingende Tiefe. Eine sportlich-spielerische Suche nach Balance, nebenbei ein Abbild der Situation des Menschen schlechthin. Erwähnt sei noch, dass manche keine Sicherung anlegen ... Zweifellos ist Maß und Mitte ein Thema, das nicht zu umgehen ist, ob nun in globaler Hinsicht oder auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Das ahnen ohnehin viele, denn sonst wären Begriffe wie Gleichgewicht, Balance und Harmonie nicht so hoch im Kurs. Sie stellen sich selten ein und sind umso schneller wieder verloren. Clevere Werbeleute reagierten und tauften daher ein schlichtes Mineralwasser auf den vielversprechenden Namen »Balance«. Der Erfolg gab ihnen Recht, die Umsätze stiegen.
Oft ist leider erst an einer negativen Erfahrung abzulesen, dass der Verlust von Maß und Mitte die Ursache ist. Das hastig verschlungene Essen, das nicht bekommt – steht dahinter nicht die Unfähigkeit zum Genuss? Ein Burn-out-Syndrom setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Das Unvermögen zur echten Muße spielt dabei gewiss eine Rolle. Ein anderes Beispiel: Haben nicht Randthemen der Spiritualität wie Engel, Spiritismus, Satanskult etc. deshalb Hochkonjunktur, weil die Sinn-Mitte des christlichen Glaubens, nämlich Jesus Christus, für viele unzugänglich ist?
Von der Mitte geht eine eigenartige Faszination aus. Das zeigt nicht nur ihr Verlust. Kinder werden beim Malen eines Mandalas still und gesammelt. Warum ist das so? Das Labyrinth hat in der Religionsgeschichte und so auch im Christlichen seinen Ort. Steht dahinter die Hoffnung, dass alle Um- und Irrwege letztlich doch auf ein Ziel – die Mitte – zulaufen? Vielleicht ist es der unbewusste Wunsch, es darin mit einer Kraft zu tun zu bekommen, von der alles ausgeht und auf die hin alles zuläuft.
Dass der Mensch ein menschliches Maß braucht, ist einsichtig. Wer wünscht nicht, sein Leben in geregelte Bahnen zu lenken? Dennoch fällt es schwer, die Mitte zu finden und zu halten. Viele Faktoren spielen hier mit. So hatte z.B. die höfische Erziehung im Mittelalter die mâze zum Ziel, eine Art innere Ausgewogenheit, die ein maßvolles, beherrschtes Auftreten ermöglichte. Anderseits ist ein Mangel an seelischem Gleichgewicht wohl auch Sache der Veranlagung. Dies gibt der Frage umso mehr Gewicht: Wie zur Mitte finden, wie das Maß im Auge behalten? Wie kann es gelingen, in Eu-tonie, in Wohlspannung zwischen den Polen zu bleiben? Kann der Mensch dazu etwas beitragen?
Der christliche Glaube kennt eine Tugendlehre über das Maß. In ihr wurden nicht nur philosophische Elemente der Antike aufgenommen und »getauft«, sondern auch Erfahrungen des Mönchtums gesammelt. Natürlich kommt das Thema auch in der Bibel vor. War Jesus maßvoll? Was sagt das Evangelium dazu? Wie schafften es die Heiligen, das Maß im Blick zu behalten? Viele hatten einen Weg zu ihrem Maß, so auch Ignatius von Loyola.
Unser Gegenstand hat es allerdings nicht leicht. Er muss sich gegen Unterstellungen behaupten. Da ist zum einen der Verdacht, das Maß diene – wie jede Regel und Ordnung – nur dazu, den Menschen zu bremsen und ihn auf Sparflamme zu halten. Andere wieder ordnen das Thema der Askese zu und fürchten die bizarren Verrenkungen, die es hier ohne Zweifel gab und gibt. Schließlich gibt es noch den Argwohn, den Gilbert K. Chesterton formuliert: Er nennt das Maß eine »rationale« Tugend. Sie steht den »mystischen« Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe gegenüber. Diese sind »froh und verschwenderisch«, während das Maß »eine traurige Tugend« darstellt.1 Im Verlauf unserer Überlegungen werden wir diese Vorbehalte zu entkräften versuchen. Zunächst wollen wir uns anhand ausgewählter Bibelstellen daran erinnern, dass der Schöpfergott das Maß aller Dinge ist. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Gott Israels kleinlich ist!
1 Gilbert K. Chesterton, Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter, Frankfurt 2004, 139–140.
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