Mord im Zoo

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Aus der Reihe: Charlotte Bienert #2
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Christine Zilinski

Mord im Zoo

Charlotte Bienert ermittelt wieder

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Impressum neobooks

Kapitel 1

„Oh verdammt!“, Charlotte fluchte, während sie den Topf mit der überkochenden Kokosmilch von der Herdplatte zog. Sie war heute extra früher aus der Redaktion nach Hause gekommen, um ihre Willkommensüberraschung vorzubereiten. Charlotte kochte gerade einen Kokosmilchpudding mit Vanillegeschmack. Das war Sannes Lieblingsessen. „Na großartig“, stieß Charlotte wütend aus, als sie sah, wie sich die übergelaufene Milch zu einem schwarzen Rest auf der Herdplatte einbrannte. Schnell drehte sie den Herd aus und hob den Deckel vom Topf. Heißer Dampf stieg ihr ins Gesicht und Charlotte kniff die Augen zusammen. Als sie den Topfinhalt umrührte, sah sie, dass die Milch noch nicht am Boden festgebacken war. „Na, dann kann ich wenigstens den Rest noch verwenden“, sagte sie seufzend. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. 16:25 Uhr. Charlottes Schwester Sanne, eigentlich Susanne, und ihr Freund Christoph sollten jede Minute zuhause ankommen. Und tatsächlich, in diesem Moment hörte Charlotte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. „Juhuuu“, klang Sannes helle Stimme fröhlich durch den Flur. „Juhuuu“, echote Charlotte ebenso fröhlich zurück und steckte den Kopf aus der Küchentür. Sanne wuchtete ächzend ihren Koffer in die Diele, dicht gefolgt von Christoph. Er schleppte einen noch größeren Koffer in die Wohnung, gefolgt von einem Handgepäckskoffer sowie zwei Tüten, die er schwitzend auf dem großen Koffer abstellte. Eine der Tüten kippte laut scheppernd wieder vom Koffer. Charlotte lief in den Flur und nahm beide grinsend in die Arme. „Willkommen zurück!“, sagte Charlotte strahlend. Dann, als ihr ein aufdringlicher Schweißgeruch in die Nase stieg, sagte sie naserümpfend: „Aber vielleicht geht ihr lieber schnell noch duschen.“

Nachdem Sanne und Christoph geduscht hatten und ihre Koffer ausgepackt waren, überreichte Sanne Charlotte eine kleine Geschenktüte. „Hui, was ist denn da drin?“, fragte Charlotte neugierig und griff in die Tüte. Ihre Finger umschlossen mehrere kleine, kegelförmige Gegenstände. Sie zog die Hand hervor und hielt ein weißes Muschelarmband zwischen den Fingern. „Oh das ist aber hübsch, vielen Dank!“, sagte Charlotte fröhlich und legte es an. „So, und jetzt erzählen wir dir erst mal, was so abgeht auf den Bahamas“, sagte Sanne grinsend und zog Charlotte am Arm ins Wohnzimmer. Gemeinsam fläzten sich die drei im Wohnzimmer auf die Couch. „Also es fing schon mal damit an, dass unser Flieger zu spät losgeflogen ist“, begann Christoph und seufzte theatralisch.

Eine halbe Stunde später hatten alle drei während dem Erzählen den Kokosmilchpudding gegessen. Sanne stand auf und lief in die Küche. Kurz darauf kehrte sie mit einer Sektflasche zurück. Es war Reif auf der Flasche, also musste sie sie vor dem Duschen noch in die Tiefkühltruhe gelegt haben. Irritiert zog Charlotte die Augenbrauen zusammen. „Gibt’s ‘nen Anlass? Außer natürlich, dass euer Flieger nicht abgestürzt ist?“, feixte sie, denn Sanne hatte leichte Flugangst. Doch Charlottes Schwester ignorierte geflissentlich den Seitenhieb und wippte auf den Fußspitzen. Sie sah aus, als müsste sie unbedingt etwas loswerden. „Wir haben Neuigkeiten“, stieß sie dann schnell hervor und sah zu Christoph hinüber. Charlotte sah von einem zum anderen und riss erwartungsvoll die Augen auf. Dann sagten Sanne und Christoph unisono: „Wir sind verlobt!“ Und mit einem lauten Plopp ließ Sanne den Korken aus der Flasche knallen. „Hey, Wahnsinn!“ Charlotte lachte, erhob sich und umarmte beide. „Wurde ja auch Zeit!“ Einen kurzen Augenblick lang durchzuckte sie der Gedanke, dass sie selbst keinen festen Freund hatte. Und das mit 29. Ihre vier Jahre ältere Schwester stand dagegen nun bereits vor der Hochzeit. ‚Ach, jetzt hör‘ auf, dich selbst zu bemitleiden‘, dachte Charlotte und wischte den Gedanken beiseite. Christoph sprang auf und holte drei Sektflöten aus der Küche. Dann goss er ihnen ein. „Prost! Auf euch!“, sagte Charlotte lächelnd und sie stießen an. Sanne nahm einen großen Schluck, dann zog sie ihr Handy hervor. „Ich zeig‘ dir mal die Schnappschüsse, die direkt nach dem Antrag gemacht wurden.“ Sie hielt Charlotte ihr Telefon unter die Nase. Charlotte erkannte auf dem leicht unscharfen Foto ihre Schwester und Christoph, die mit angespannten Gesichtern in die Kamera blickten. Der Umgebung nach musste das Bild in einem Restaurant entstanden sein. „Hier, das war direkt nach dem Antrag. Ich seh‘ ja echt ein bisschen aus wie ein angeschossenes Reh. Ich war total geschockt. War aber echt romantisch, hätt‘ ich gar nicht gedacht vom Christoph“, grinste Sanne. „Hey hey“, protestierte dieser. „Macht man ja in der Regel nur ein Mal.“ „Wollen’s hoffen“, stichelte Sanne, immer noch grinsend. Charlotte fragte jetzt an Christoph gewandt: „Und, wie hast du’s gemacht? Wenn man fragen darf.“ Christoph hielt sein Sektglas in ihre Richtung und sagte: „Du darfst. Eigentlich ganz klassisch, ich hab’ den Ring in den Nachtisch gedrückt, als wir beim Essen waren. Ich hab’ kurz ‘nen Löffel vom Tisch geschubst und als sie sich danach runtergebeugt hat, zack, war der Ring drin. Wenn du genau hinschaust, siehst du wahrscheinlich noch braune Schokoladenmousse-Reste an ihren Fingern.“ Charlotte nahm das Smartphone nun in die Hand und zoomte das Foto größer. Dann grinste sie Christoph bestätigend an. „Und habt ihr schon überlegt, wann und wie und wo?“ Ihre Schwester zuckte die Schultern und Christoph antwortete: „Naja, eins nach dem anderen. Jetzt müssen wir erst mal schauen, wann wir beide zeitgleich Urlaub bekommen können. Und dann fängt der übliche Planungswahnsinn an.“ Er lehnte sich im Sessel zurück und stieß Luft aus. „Da freue ich mich schon tierisch drauf“, sagte er sarkastisch. „Ach komm‘, so schlimm wird’s schon nicht werden“, sagte Sanne und tätschelte ihm das Knie. Dann drehte sie sich zu Charlotte um. „Und, was gibt’s hier so Neues?“ „Ach, eigentlich nicht viel“, sagte Charlotte und winkte ab. „Im Vergleich zu eurem Sommer war meiner hier eher lahm.“ Dann erzählte Charlotte, wie sie öfter Herrn Nilsson im Zoo besucht hatte.

Herr Nilsson war ein kleines Totenkopfäffchen. Es war die letzten Monate von Sanne und gelegentlich auch von Charlotte in ihrer WG aufgepäppelt worden. Mittlerweile war Herr Nilsson wieder in seiner tierischen Eingliederungsgruppe im Stuttgarter Zoo, der Wilhelma. Dort sah ihn Sanne während ihrer Arbeitszeiten als Tierpflegerin praktisch jeden Tag. Charlotte hatte dem kleinen Langfinger während Sannes Karibik-Urlaub öfter einen Besuch abgestattet. „Und, wie geht’s dem kleinen Stinker?“, fragte Sanne fröhlich. „Ach, so wie immer. Ärgert deine Kollegen und klaut den anderen Affen das Essen.“ Sannes Gesichtsausdruck wechselte urplötzlich von fröhlich zu erschrocken. „Oh mann, ich muss noch unseren Eltern Bescheid geben. Da ruf‘ ich jetzt am besten gleich an. Und dann trommeln wir noch die Mischpoke zu einer kurzfristigen Verlobungsparty für Sonntag zusammen“, sagte Sanne eifrig. Dann lief sie in den Flur, um ihr Festnetz-Telefon zu holen. „Verlobungsparty? Übermorgen?“, fragte Charlotte jetzt Christoph, da Sanne schon mit dem Hörer am Ohr durch die Wohnung lief. Christoph schürzte die Lippen, schloss die Augen und nickte einmal. „Du kennst doch Sanne. Spontan ist ihr zweiter Vorname.“

 

Kapitel 2

Um die beiden Turteltäubchen bei ihrer Partyvorbereitung zu unterstützen, bot Charlotte am Samstag an, gemeinsam mit ihrem besten Freund Max einkaufen zu gehen. Max war seit Schulzeiten Charlottes steter Begleiter und bis heute ihr einziger enger Freund. Max war, wie die meisten schwulen Männer, mit einem guten Modegeschmack gesegnet. Und als freiberuflicher Visagist war sein Auge für Dinge, die Frauen noch schöner machten, besonders geschult. Daher beriet er Charlotte regelmäßig bei ihren gemeinsamen Einkaufstouren oder brachte ihr Schminktricks bei. Nun war Max seit ein paar Tagen aus dem Rom-Urlaub mit seinem neuen Freund und Namensvetter Max zurück. Während er den Einkaufswagen mit Chips, Dips und Spirituosen volllud, schilderte Max seinen Trip in die ewige Stadt in den schillerndsten Farben. Munter plapperte er: „Ich sag‘ dir, der Max ist ja echt so ein Goldstück, der spricht ja fast fließend Italienisch. Das war unfassbar bequem. Und ich bin mir sicher, dass unser Essen deswegen auch viel besser geschmeckt hat als bei den anderen Touris... naja. Wird langsam mal Zeit, dass du den auch kennenlernst! Ach, ihr versteht euch bestimmt glänzend...“, er seufzte verträumt. „Jahaaa... bestimmt. Aber jetzt lass‘ uns doch erst mal das nächstliegende Ziel anvisieren, Stichwort Partyvorbereitung“, erwiderte Charlotte, die sich grade vor dem Spirituosen-Regal nach dem Blue Curaçao für die geplanten Cocktails streckte.

Von den eingeladenen Freunden und Kollegen hatten nur etwa 10 Leute Zeit am Sonntag. Doch als die kleine Feier begann, war die Stimmung nichtsdestotrotz ausgelassen und fröhlich. Sanne trug über ihrem ärmellösen Shirt einen Kokosschalen-BH, dazu bequeme Capri-Shorts. Auch Christoph machte den Spaß mit und trug einen solchen Büstenhalter, allerdings ohne T-Shirt darunter. Max war auch zur Feier eingeladen und half dabei, Cocktails zu mixen. Er hatte sich extra eine Fliege umgebunden und sah auch sonst schwer nach Barkeeper aus: Weste, weißes Hemd und schwarze Hose. Den Kokos-BH trug er natürlich nicht. Auch Charlotte hatte den Kokos-BH verweigert und trug ein leichtes, lindgrünes Sommerkleid, das ihr um den Körper wehte. Ihr schulterlanges, brünettes Haar trug sie heute offen. Charlotte reichte Häppchen oder räumte Geschirr in die Spülmaschine. Im Hintergrund lief entspannte Reggae-Musik, die Sanne und Christoph aus ihrem Urlaub mitgebracht hatten. Es passte zu der schwülen Hitze in ihrer Wohnung. Ihre spärliche Zimmerpalme im Wohnzimmer hatten Charlotte und Sanne vor der Party mit Bast umwickelt und ein paar Kokosnüsse in und neben den Topf gelegt. So versuchten sie, die Schäden zu kaschieren, die das Äffchen Herr Nilsson hinterlassen hatte. Einzelne Bissspuren waren dennoch am malträtierten Stamm und den länglichen Blättern der Palme zu erkennen. Eine junge, schüchtern wirkende Frau mit rotgefärbten Haaren trat nun an die Bar. Genaugenommen war die Bar ein hüfthohes Regal, das mit Bast umwickelt war. Obenauf stapelten sich noch leere Gläser mit vorbereitetem Zuckerrand. Die rothaarige Frau sagte: „Einen Gin Tonic, bitte.“ „Sehr gerne“, Max gab sich galant und füllte die beiden Zutaten in ein Glas, nachdem er Crushed Ice hineingeschaufelt hatte. Nachdem er eine Limettenscheibe obenauf gelegt hatte, überreichte er ihr den Drink mit einer übertriebenen Verbeugung. Dabei zwinkerte er charmant, und Charlotte dachte ein ums andere Mal: ‚Wenn du nicht schwul wärst, hättest du fünf Frauen an jeder Hand, mein Lieber.‘

Als Charlotte für eine Toilettenpause ins Bad gehen wollte, sah sie im Flur, wie Christoph gerade mit einem leicht übergewichtigen, jungen Mann aus Sannes Zimmer kam. Der Andere hatte einen Laptop unter dem Arm und klopfte Christoph auf die Schulter. „Also Chris, nimm’s mir nicht übel, aber ich pack’s jetzt. Morgen früh laufen ein paar SSL-Zertifikate aus und die muss ich dringend noch verlängern lassen. Gib‘ Sanne einen Kuss von mir“, fügte er noch grinsend hinzu und war im nächsten Augenblick durch die Tür. ‚Das muss einer von Christoph Kollegen aus der IT sein‘, dachte Charlotte. Ohne dass sie gefragt hätte, sagte Christoph: „Das war Toni. Wir mussten noch kurz was unter vier Augen klären.“ Er zwinkerte und lief weiter. Charlotte runzelte die Stirn. „Und dafür braucht er seinen Rechner?“ Christoph zuckte nur die Schultern, blieb aber nicht stehen. Charlotte schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrem eigentlichen Ziel. Sie wollte soeben die Badezimmertür öffnen, als sie auf eine verschlossene Tür stieß. „Einen Augenblick“, ertönte es von innen und Sekunden später erschien die rothaarige Frau in der Tür. „Jetzt ist das Bad frei“, sagte sie freundlich lächelnd. „Kein Problem“, erwiderte Charlotte ebenso freundlich und trat beiseite.

Als Charlotte ins Wohnzimmer zurückkehrte, bat sie Max, ihr einen alkoholfreien Mojito zu mixen. Charlotte begann zu Gähnen. „Also ich glaube... ich geh demnächst poofen“, sagte sie zu Max. Der legte ihr einen Arm um die Schultern und lehnte sich gemeinsam mit ihr gegen die Bar. „Nein nein, meine Schnecke, jetzt kommt der beste Teil des Abends. Jetzt raten wir, wer zu wem gehört“, sagte er geheimnisvoll. „Hm?“, müde hob Charlotte die Augenbrauen. Max deutete auf eine schwarz gekleidete Frau mit dunklem Kajal um die Augen, die ein Nieten-Armband trug. „Was ist mit ihr: Seite der Braut oder des Bräutigams?“ Charlotte ging auf das Spiel ein und sagte: „Seite der Braut. Das ist Julia, die Sandkastenfreundin von Sanne.“ „Alles klaaar“, sagte Max unbeeindruckt und ließ den Blick weiter streifen. Als er auf eine gepiercte, knapp 18-Jährige deutete, sagte er: „Auch Seite der Braut, oder?“ Charlotte lächelte. „Woran du das nur erkannt hast. Vielleicht am Gecko-Tattoo auf dem Unterarm?“ Max zuckte die Schultern und ignorierte die Kritik geflissentlich. Viele von Sannes Tierpfleger-Kollegen ließen sich ein Abbild ihres Lieblingstiers auf die Haut stechen. Jetzt nahm Max die rothaarige Gin-Tonic-Trinkerin in den Fokus: „Ok, bei der kann ich es echt nicht abschätzen. Sag‘ du!“ Charlotte flüsterte: „ Ich hab’ vorhin gehört, wie sie von der Entwicklung einer Wahnsinns-App erzählt hat und dass sie damit demnächst garantiert Kohle scheffeln würde. Also Bräutigam.“ Max zog ein übertrieben anerkennendes Gesicht. „Hm... vielleicht muss ich doch das Ufer wechseln... irgendjemand muss ja meinen luxuriösen Lebensstil in Zukunft finanzieren“, sagte er feixend. Charlotte tat empört. „Also wenn du schon hetero wirst, dann wohl für mich, mein Lieber!“

Kapitel 3

Als Charlottes Wecker am nächsten Montagmorgen klingelte, bekam sie nur mühsam die Augen auf. Sanne war schon längst außer Haus. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht geschlafen, sondern die Nacht durchgemacht. Die Schichten im Zoo begannen nun einmal früher als der Büroalltag in Zeitungsredaktionen. Charlotte wälzte sich grummelnd aus den Federn und schlurfte demotiviert in die Küche. Dort öffnete sie als Erstes ein Fenster, um die angenehm kühle Morgenluft hereinzulassen. Sie ignorierte den katastrophalen Zustand der Küche: Zahllose Teller mit Essensresten, schmutzige Gläser und Alkoholflaschen stapelten sich auf der Arbeitsfläche und auf dem Boden. Charlotte schob sich den Weg zur Kaffeemaschine frei und schaltete das Gerät an. Während das erste Heißgetränk des Tages durchlief, streckte Charlotte sich ausgiebig und sog gierig die kühle Luft ein, die durch das Fenster hereinwehte. Dann lief sie mit ihrem Kaffee ins Bad. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, um wach zu werden und cremte es sich anschließend ausgiebig ein. Die Wettervorhersage im Radio sprach von über 30 Grad, die es heute in Stuttgart heiß werden sollte. Daher entschied sich Charlotte für eine weiße Capri-Hose und ein ärmelfreies, pinkes Top.

Während sie vor dem Spiegel stand, um sich zu schminken, tauchten vor ihrem geistigen Auge plötzlich unvermittelt Bilder auf. Bilder, die sie wochenlang verdrängt hatte. Trotzdem schlichen sie sich immer wieder in ihr Bewusstsein. Jetzt sah Charlotte die Ereignisse vom vergangenen Mai wieder deutlich vor ihrem inneren Auge. Bilder, wie sie gefesselt und geknebelt auf dem Boden lag. Wie sie dem eigenen Tod ins Auge blickte. Die tödliche Waffe, die auf sie gerichtet war. Der Mann, der versucht hatte, Charlotte zu töten, hatte zuvor seinen ehemaligen Liebhaber umgebracht. Mitten während eines Laienschauspiels im Stuttgarter Landesmuseum. Und Charlotte hatte, als Besucherin des Events, zufällig ein wichtiges Detail dieses Mordes beobachtet. Und war dem Mörder damit unfreiwillig auf die Schliche gekommen. Kurz bevor der Mörder auch Charlottes Leben ein Ende setzen konnte, wurde sie jedoch im letzten Moment gerettet.

Charlotte wischte die Erinnerungen nun forsch beiseite und beeilte sich, schnell fertig zu werden. Keine 10 Minuten später zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Dabei warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr: ‚Hm, den Bus 10 nach könnte ich noch schaffen‘, dachte sie und sprintete los. Sie genoss die Kühle, die jetzt noch ein schweißfreies Bewegen und Arbeiten ermöglichte. Sie war auf dem Weg zum Waiblinger Redaktionsgebäude der Weinstadt Woche. Charlotte war für das wöchentliche Blatt als Redakteurin tätig und kümmerte sich seit neuestem um die Rubrik Aktuelles. Zwar hatte sich ihr Kollege Sebastian Pfeiffer bis vor kurzem die Rubrik mit ihrem Chefredakteur Andreas Richling geteilt. Doch spätestens seit Charlottes Bericht über den Mord im Museum war ihr der Sprung aus der Kunst&Kultur-Rubrik zur Königsdisziplin, der Aktuelles-Rubrik, gelungen. Als es nur noch wenige Meter bis zur Haltestelle waren, fuhr gerade der Bus Richtung Waiblingen ein. ‚Yees‘, frohlockte Charlotte und verlangsamte ihren Schritt. Sie reihte sich in die Schlange der Wartenden ein und wartete, dass sich die Bustüren öffnen würden. Während sie nach ihrer Fahrkarte angelte, klingelte ihr Handy. Überrascht zog Charlotte ihr Telefon hervor. Um diese Uhrzeit erhielt sie eigentlich nie Anrufe. Sie warf einen Blick aufs Display: Sanne. Schnell nahm sie den Anruf an. „Jaaa, was gibt’s denn?“, fragte Charlotte angespannt, denn gleich hatte sie die Bustür erreicht. „Wo bist du grade?“ Die Panik in Sannes Stimme versetzte Charlotte sofort in Alarmbereitschaft. Sie blieb stehen. Ein älterer Mann, der hinter ihr in der Schlange gelaufen war, hatte das nicht bemerkt und stolperte in sie hinein. Charlotte registrierte es kaum. „Was ist los?“, fragte sie knapp. „Komm sofort in die Wilhelma, hier ist was passiert. Ich hab’ grad ‘ne Leiche gefunden!“ Und schon hatte Sanne aufgelegt. Wie betäubt hörte Charlotte dem Tuten in ihrem Handy nach. Obwohl es noch nicht warm war, begann sie augenblicklich zu schwitzen. Charlotte ließ den Apparat sinken und trat vom Bus weg. „Na endlich, Kindchen“, zischte der alte Mann, der sich an ihr vorbeidrängelte und sich stöhnend die Treppen des Busses hochhievte. Charlottes Gedanken überschlugen sich. ‚Ok, nachdenken Charlotte‘, sagte sie zu sich selbst. ‚U-Bahn. Ich muss mit der U-Bahn in die Wilhelma.‘ Charlotte reckte den Kopf, um sich kurz zu orientieren und rannte dann los in Richtung U-Bahn.

Kapitel 4

Charlottes wurde fast wahnsinnig. ‚Leiche. Schon wieder‘, schoss es ihr durch den Kopf. Während sie sich mit der U-Bahn gefühlt im Schneckentempo fortbewegte, nutzte sie die Zeit, um ihren Chef Richling anzurufen. „Ja hi, äh... ich ruf‘ nur an... also ich komm‘ etwas später heute.“ Charlotte schloss die Augen und drückte sich den Handteller an die Stirn. Sie hätte sich das besser überlegen sollen. „Ich muss zum Arzt“, schob sie lahm hinterher. Natürlich kaufte ihr Chef Charlotte das nicht ab. „Wieso klingst du dann so panisch? Ist was passiert?“, kam es prompt aus der Leitung. Charlotte seufzte. „Oh mann, Andreas, bitte, ich... kann dir noch nicht sagen, warum, aber ich muss jetzt leider was dazwischenschieben. Ich komm‘ danach ganz bestimmt in die Redaktion und erklär‘ dir alles“, sagte sie, während sie ihre Finger kreuzte. „Wehe, wenn das aber kein guter Grund ist, Fräulein“, erwiderte Richling frostig. Er titulierte Charlotte gerne mit solchen Verniedlichungen, vor allem wenn er wütend war. „Du weißt genau dass du die Artikel für die nächste Ausgabe layouten sollst.“ Ohne Richling weiter zuzuhören, legte Charlotte auf. Sie hatte jetzt keinen Nerv für die Launen ihres Chefs. Die U-Bahn hatte endlich die letzten Meter bis zum Rosensteinpark erreicht. Hier war eine der Haltestellen des Zoos. Charlotte stand bereits ungeduldig an der Tür und drückte hektisch auf den Türöffner. Sobald die U-Bahn anhielt und sich die Türen mit dem hydraulischen Geräusch öffneten, stürmte Charlotte los. Nach wenigen Minuten erreichte sie den unscheinbaren Nebeneingang der Wilhelma, und im Kassenhäuschen saß eine Frau. Sie war kurz vor dem Rentenalter. Charlotte erkannte sie und rief schnell: „Frau Breuer, schnell, machen Sie mir bitte auf, ich muss sofort zu Sanne. Da ist irgendwas passiert!“ Die alte Frau erhob sich schwerfällig und tauchte wenig später neben Charlotte an der Tür auf. „Was ist denn los, Charlotte?“ „Schnell, machen Sie auf, ich kann es jetzt leider nicht erklären!“ Die Frau runzelte die Stirn, folgte dann aber Charlotte Drängen und schloss die Tür auf. „Verrücktes Kind“, murmelte sie dabei. „Danke“, stieß Charlotte noch hervor, dann rannte sie direkt weiter, in Richtung Affenhaus, wo sie Sanne vermutete.

 

Sie wusste, dass ihre Schwester morgens mit dem Zubereiten des Frühstücks für ihre Gorillas beschäftigt war. Charlotte lief am Haupteingang des Affenhauses vorbei und steuerte direkt auf den hinteren Bereich des Gebäudes zu. Dort befand sich die nicht-öffentlichen Futterküche. Und tatsächlich: Vor der Tür zur Küche stand Sanne. Neben ihr standen zwei weitere Kollegen, die merkwürdig blass um die Nase waren und nervös rauchten. Alle trugen grün-braune Tierpfleger- Shorts und T-Shirts der Wilhelma. Sannes wilde Locken standen in allen Richtungen von ihrem Kopf ab und sie reckte erleichtert ihre Arme zum Himmel, als sie Charlotte erblickte. Charlotte blieb stehen und rang keuchend nach Luft. Wild gestikulierend sagte Sanne: „Oh mein Gott, Charlotte, ich werd‘ irre! Und das an meinem ersten Tag nach dem Urlaub!“ Schwer atmend fragte Charlotte: „Was ist denn überhaupt passiert? Und ist die Polizei schon verständigt?“ Ungeduldig erwiderte Sanne: „Jaaa, Herrgott, die kommen jede Minute. Der Notarzt mit seinem Hiwi ist schon da.“ Dabei ruderte Sanne wild mit einem Arm in Richtung der Türe, die sich hinter ihr befand. „Also, ich sag’s dir, ich komm‘ ohne was zu ahnen in die Futterküche. Und dann seh‘ ich als erstes nur Füße, dann Beine und dann schau‘ ich hoch, und da seh‘ ich den Konstantin! Erhängt! Der hat sich erhängt!“ Jetzt, wo Sanne das endlich gesagt hatte, stieß sie befreit Luft aus und machte anschließend einem unterdrückten Wutschrei Luft. „Ehrlich, warum muss mir das passieren?“ Jetzt starrte Charlotte ihre Schwester entgeistert an. „Das...äh naja... für Konstantin ist das bestimmt schlimmer, oder? Also natürlich ist das schlimm, dass du ihn entdeckt hast“, fügte Charlotte kleinlaut bei, als Sanne sie mit vorwurfsvollem Blick ansah. „Ähm, wann... wann hast du denn den Konstantin entdeckt?“ Charlotte kannte den Tierpfleger nur flüchtig. Er war für die nachtaktiven Eulen und Fledermäuse zuständig, das wusste sie. Und dass er daher kaum Überschneidungen mit Sannes Zuständigkeitsbereich hatte, den Primaten. Sanne schüttelte den Kopf, dann antwortete sie auf Charlottes Frage. „Ja, keine Ahnung, so gegen viertel nach sieben, schätze ich. Dann hab’ ich erst mal geschrien wie am Spieß und Leo und Tanja kamen angerannt, die waren hier in der Nähe.“ Sie deutete mit ihrem Kopf in Richtung ihrer beiden Kollegen, die immer noch rauchend und schweigend dastanden. Leo, ein dicklicher Kollege mit dünner werdendem Haar, nickte jetzt und sagte: „Die Sanne hat so laut g‘schrie, ich ‘dacht, die Viecher san aus‘broche.“ Charlotte wandte sich kurz an ihn: „Haben Sie... also, sind Sie da rein?“, dabei deutete sie mit dem Zeigefinger in Richtung der Türe, hinter der der Tote war. Schnell schüttelte der Angesprochene den Kopf. „Im Lebe net, net freiwillig.“ Auch die andere Kollegin, Tanja, reagierte bestürzt. „Keine zehn Pferde kriegen mich da rein. Aber wir wollten Sanne jetzt nicht alleine lassen“, mit diesen Worten blies sie Rauch aus und ließ den glimmenden Zigarettenstummel zu Boden fallen, den sie mit einer resoluten Fußbewegung austrat. Charlotte wandte sich wieder an Sanne. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Schwester jetzt von ihr erwartete. Schließlich entschied sich Charlotte für die logischste Konsequenz. „Ok, Sanne, das Beste ist... wir warten hier bis die Polizei kommt...“, weiter kam sie nicht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte Sanne sie an und zog sie ungeduldig aus der Hörweite der beiden Kollegen. Dann raunte sie ihrer Schwester ins Ohr: „Ne, Charlotte, ich hab’ dich nicht angerufen damit wir hier rumstehen. Geh‘ mal kurz da rein und schau‘ dir die Leiche an! Da stimmt was nicht, das kann ich dir aber sagen!“ Charlotte dachte, sich verhört zu haben: „Äh... wie bitte? Ich soll mir die Leiche ansehen?“ „Jaaa, wenn ich es dir doch sage! Du hast doch schon mal ‘nen Mord aufgeklärt.“ „Was?! Nein! Hab’ ich nicht! Außerdem wär‘ ich dabei fast draufgegangen, falls du dich erinnerst!“, fuhr Charlotte Sanne an. „Ja, das weiß ich doch, und es passt mir ganz und gar nicht, dass ich dich jetzt da mit reinziehe, aber dieses Mal steck‘ ich in der Klemme! Ich brauch‘ deine Hilfe“, erwiderte Sanne, nun deutlich drängender. „Der Konstantin hat ‘nen Abschiedsbrief hinterlassen. Der war an mich adressiert! Aber ich hab’ mit dem doch absolut gar nichts zu tun. Da stimmt was nicht! Los, beeil‘ dich, gleich ist die Polizei da!“ In Charlotte rumorte es. „Was? An dich adressiert? Aber wieso...?“ Dann erst zog Charlottes Gehirn Sannes Bitte in Betracht. „Aber... wie soll das denn gehen, der Notarzt schmeißt mich doch hochkant wieder raus! Der muss doch bestimmt aufpassen, dass sich keiner der Leiche nähert.“ „Ach, den bequatsch‘ ich schon irgendwie! Los, jetzt mach‘ endlich! Ich will hier nicht als Mordverdächtige enden!“ Kurzerhand schob Sanne ihre Schwester zu der Tür und ging gemeinsam mit ihr hindurch.

Im Vorraum zur Futterküche stand ein junger, pickeliger Zivi in roter Hose und weißem Polo-Shirt. Er sah ähnlich blass aus wie die beiden Tierwärter draußen vor der Tür. Der junge Mann hatte die Hände in den Hosentaschen verstaut und schien darauf zu warten, dass ihn endlich ein neuer Notruf von hier wegbrachte. Er sah erschrocken zu den beiden Frauen, die sich ihm näherten, doch Sanne ignorierte ihn. Sie schritt zielstrebig auf die metallene Tür der Futterküche zu, hinter der der Tote und der Notarzt sich aufhielten. Charlotte zog sie einfach mit sich. Schwach wandte der Zivi ein: „Ähm, hallo, Sie können da nicht rein“, doch schon hatte Sanne die Tür aufgestoßen. Mit einem Mal standen die zwei Schwestern in dem kühlen, gekachelten Raum, in dem eine Neonröhre an der Decke flackerte. Unter anderen Umständen wäre die Kühle im Zimmer angenehm gewesen. Doch die Anwesenheit einer Leiche machte jedes positive Gefühl zunichte. Charlotte registrierte, dass der Notarzt mit dem Rücken zur Tür stand und über ein Klemmbrett gebeugt war. Darauf machte er sich wahrscheinlich Notizen zum Leichenfund. Noch hatte der Mann die beiden Frauen nicht entdeckt, und Charlotte beeilte sich mit rasendem Puls, so viel wie möglich vom Raum aufzunehmen, bevor der Arzt sich umdrehte. Ein schwacher Geruch nach Obst und Gemüse, gemischt mit Heu und einem leichten Chlorgeruch hing in der Luft. An den Wänden nahe der Tür waren verschiedengroße Kartons und Kisten gestapelt, die entweder leer oder mit Lebensmitteln gefüllt waren. Auch eine leere Schubkarre stand in der Ecke. Am gegenüberliegenden Raumende befand sich eine riesige Küchenspüle aus Edelstahl neben einer hölzernen Arbeitsplatte. Oberhalb der Spüle war ein Desinfektionsbehälter mit Pump-Hebel angebracht. Neben der Arbeitsplatte stand ein Kühlschrank und surrte laut, doch er fiel Charlotte schon nicht mehr auf. Sie starrte unausweichlich auf den jungen Mann, der von der Decke hing. Charlotte konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden: Sie fühlte sich von dem Anblick gleichzeitig erschüttert und magisch angezogen. Das Gesicht des Toten sah rot und geschwollen aus, die Augen waren geschlossen, der Mund dagegen geöffnet. Die Zunge war angeschwollen und ragte aus dem Mund. Der Tote hing mit einem Strick um den Hals von der Decke. Dort war das Seil durch einen Haken gezogen und verknotet worden. Um endlich nicht mehr das Gesicht des Toten sehen zu müssen, schloss Charlotte kurz die Augen. Nach wenigen Sekundenbruchteilen riss sie die Augen aber wieder auf und zwang sich dazu, den Rest der Leiche genauer zu begutachten. Der junge Mann trug Arbeitskleidung. Auf der linken Brustseite des Pullovers prangte der obligate Wilhelma-Elefant. Nur an seinen Füßen trug er lediglich Socken, aber keine Schuhe. Die Arme hingen schlaff am leblosen Körper herunter. Unter der Leiche lag ein Schemel, der umgestoßen worden war. Wortlos stieß Sanne jetzt Charlotte an und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Schemel, der umgekippt unter der Leiche auf dem Boden lag. Charlotte blickte ihre Schwester entgeistert an und zog die Schultern hoch, wie um zu fragen: ‚Was soll mir denn auffallen?‘ Sanne deutete unbeirrt auf den Schemel und flüsterte: „Das Teil ist maximal 30 Zentimeter hoch. Schau‘ mal, wie hoch Konstantin hängt.“ In diesem Moment bemerkte sie der Notarzt. Er drehte sich abrupt um und fuhr die beiden an: „Was haben Sie denn hier zu suchen? Raus hier, aber sofort!“ Charlotte nickte und tat so, als würde sie sich abwenden, doch eine Sekunde nahm sie sich noch Zeit, um den Abstand zwischen den Fußspitzen des Toten und dem Fußboden abzuschätzen. Dann begriff sie. Und ihr stellten sich die Härchen auf den Armen auf: Die Leiche hing viel zu hoch für den Schemel. „Raus hier!“, bellte der Notarzt jetzt noch wütender, und Charlotte und Sanne setzten sich in Bewegung. Aber bevor sie nach der Türklinke greifen konnte, wurde die Tür von der anderen Seite aufgestoßen und Charlotte konnte grade noch ausweichen, um nicht die Türkante ins Gesicht zu bekommen. „Frau Bienert! Ich glaube es nicht, was machen Sie denn hier!“ Laut und wütend fuhr Kriminalhauptkommissar Paul Jankovich Charlotte an. Er stieß die Tür noch weiter auf und funkelte Charlotte feindselig an. Im ersten Moment war Charlotte vollkommen überrumpelt. Sie hatte zwar damit gerechnet, dass die Polizei sehr bald nach dem Notarzt am Tatort ankommen würde. Aber mit Paul Jankovich hatte sie nicht gerechnet.