Buch lesen: «Selig & Boggs»
Christine Wunnicke
Selig & Boggs
DIE ERFINDUNG VON HOLLYWOOD
1907 hatte Chicago zwei Millionen Einwohner und 116 Lichtspielhäuser. An 150 Tagen fiel Regen oder Schnee.
Die Bevölkerungszahl von Hollywood war unlängst auf 800 gewachsen. Die Trambahn nach Los Angeles brauchte zwei Stunden. Es gab keine Lichtspiele und es regnete nie.
Inhalt
Selig & Boggs
Wenn wir den Zuschauer in den wilden Dschungel entführen oder in die goldene Pionierzeit des amerikanischen Westens, stützen wir uns stets auf wissenschaftliche Erkenntnisse und historische Forschung. Gewiss wächst der Dschungel in unseren Filmateliers und ein wenig dramatischer Schmiss tritt schon auch hinzu, aber es ist doch alles korrekt. Nicht verbürgt vielleicht, aber immer korrekt. Dafür steht die Selig Polyscope mit ihrem guten Namen ein.
WILLIAM N. SELIG in »Commercial Bioscope News and Gazette«, 1908
Es ist aktenkundig, dass es in Independence, Missouri, am 6. Mai 1842, einem Freitag, in Sturzbächen regnete, weshalb die Familie Boggs schon zur Abendbrotzeit die Lampen hatte anzünden müssen, weil man sonst nicht die Hand vor den Augen sah. Sogar der Hund war hereingekommen. Unter der Veranda stand das Wasser.
Senator Lilburn W. Boggs, seine Frau Panthea und acht oder neun ihrer Kinder verzehrten, nach dem Segen, Pfannkuchen mit Kompott. Sie saßen still um den Tisch auf ihren festgelegten Plätzen und aßen sachlich, hungrig, gesittet, aber nicht vornehm; die Kinder, selbst die kleinsten, ahmten mit großem Erfolg den Rhythmus von Löffeln, Kauen und Schlucken der Eltern nach. Bald war die Mahlzeit beendet und Pantheas Mädchen räumte ab. In der Tür trat sie unbemerkt nach dem Hund.
Das Haus, ein gediegenes und bescheidenes Blockhaus, war etwas auswärts gelegen und stand vereinzelt, mitten auf dem verwaisten Bauplatz für die Stadt Zion der Heiligen der Letzten Tage. Dass die Familie Boggs ihr Heim hier errichtet hatte, kam manchem ein wenig absichtlich vor: In seiner Amtszeit als Staatsgouverneur hatte Lilburn Boggs vor nicht allzu langer Zeit dafür Sorge getragen, dass dieses Zion ein mormonisches Hirngespinst blieb, statt in Jackson County die Welt und Gott zu beleidigen. Er hatte, so der Wortlaut, verfügt und erlassen, dass alle Mormonen auszurotten oder andernfalls aus dem Staate Missouri zu vertreiben seien, da ihre Greuel jeder Beschreibung spotten. Für dieses Dekret ist der sechste Gouverneur von Missouri noch heute ein wenig berühmt.
So waren sie denn fort, die Mormonen, und es hatte sich angeboten, auf ihrem Flurstück zu bauen. Denn die Stadt Independence, fand Mr. Boggs, war ein Dreckskaff ohne Vernunft und Gesetz, in dem man Töchter zumindest nicht aufziehen mochte; man lebte im Grünen viel besser.
Nach dem Essen verfügte sich der Senator in die Wohnstube, um in seinem Sessel die Zeitung zu lesen. Eine kleine Tochter, sechs Jahre alt, schaukelte den Säugling in der Wiege. Die Fensterscheiben waren schwarz, man hatte die Vorhänge noch nicht geschlossen, das Kind bestaunte die dicken Regentropfen, die erst festsaßen wie Perlen und dann langsam das Glas hinabflossen und sich einander näherten und sich vereinten und zusammen weiterflossen, erst dick, dann dünner, im Lichtschein silbern, im Schatten weiß. Die Boggses, Vater und Tochter, spiegelten sich fahl in den Scheiben, graue Gesichter, graues Haar. Man konnte nicht sehen, was draußen war. Hinter den Fenstern kam ein zweites Zimmer, ein Zimmer ohne Farben, ein Geisterzimmer oder einfach ein Mumpitz, wie Vater das nannte, der immer recht hatte und fürs Schauerliche nichts übrig. Vielleicht überlegte das Mädchen, dessen Name nicht aktenkundig ist, ob sie den Säugling aus der Wiege nehmen und zum Glas halten sollte, ob er sich wohl ebenso grau spiegelte wie Vater und sie; vielleicht fröstelte sie; vielleicht formte sie mit den Lippen einen Schutzengelvers; vielleicht verfing sich ihre Zopfquaste bei jedem Wippen der Wiege für einen Augenblick in der Armrüsche des Kittelkleids.
Senator Boggs hatte sich über das Politische bereits vor dem Abendbrot erzürnt und widmete sich nun den Kleinanzeigen. Jemand versteigerte Möbel, aus Mahagoni und geriegeltem Ahorn, ein Pianoforte, ein Britannia-Teeservice. Jemand musste umständehalber einen Freiheitsbaum verkaufen, zwanzig Fuß hoch, samt Spitze, Kugel und Wimpel. Jemand suchte einen aufgeweckten Knaben für die Brausetheke einer Eisdiele. Das war alles weit weg, in New York, bei den verzärtelten Yankees. Da wollte Mr. Boggs nicht sein. Keine Eisdiele in Missouri. Kein verfluchter Freiheitsbaum im Garten von Senator Boggs. Wir brauchen endlich unsere eigenen Zeitungen, dachte Mr. Boggs. Er erzürnte sich schon wieder. Sein Daumen glitt über die Kleinanzeigen, er rieb sie, radierte sie aus, Zeitungen hier für uns im Süden ohne Mumpitz und Humbug, Eisdiele, pah, Vergnügungssucht, murrte Senator Boggs.
Ein schwarzes Fenster, Tropfen in Silber und Weiß. Das Licht blakte. Vielleicht tickte eine Uhr. Das Mädchen an der Wiege bückte sich, um den Säugling neu festzustecken, denn es war kühl geworden. Dann schoss jemand vom Garten her das Fenster entzwei.
An dieser Stelle musste Francis W. Boggs die Aufnahme abbrechen. Er schrie Stopp und alles hielt an. Das Kind an der Wiege, der Mann im Sessel, der Mormonenscherge vor dem Fenster mit dem großen deutschen Schrotrevolver im Anschlag und der Gehilfe in Schwarz, der die Fensterscheibe hielt, um sie im rechten Moment fallen zu lassen, damit es Scherben gäbe; alle erstarrten geübt und standen artig wie Puppen, denn wieder war eine Wolke vor die Sonne gezogen über dem Glasdach der Selig Polyscope Lichtspielateliers, und wieder war es zu dunkel zum Drehen, und wieder wollte Mr. Boggs einen Schnitt sparen, an einem typisch durchwachsenen Herbsttag in Chicago im Jahr 1907.
Nur der Kameraoperator kurbelte weiter, traumverloren, wie ein Leierkastenmann; kein Meister seines Gewerbes. Mr. Boggs knuffte ihn. Da hielt auch er an und arretierte die Kurbel. Er begann wieder Come, gentle night zu summen und nahm Schnupftabak. Zum dritten Mal in einer Stunde hatte sich die Sonne verfinstert. Der Spielleiter Boggs fühlte die ersten Vorboten eines Migräneanfalls.
Er legte den Kopf in den Nacken. Die Wolke sah immer gleich aus. Sie saß auf dem Glasdach wie ein Tier, wie ein Büffel oder Bär, wie ein indianischer Fluch. Wenn er Migräne bekam, behelligten Mr. Boggs poetische Bilder.
Die Wolke saß genau über seiner Szene. Drüben bei Mr. Golden, der mit Die Rache des Hypnotiseurs in den letzten Zügen lag, war es noch hell genug. Ein Goldkind, Mr. Golden. Gestern war er wieder aus Colonel Seligs Büro gekommen, in das der Neuling Boggs nie hinein durfte.
Der Mormonenscherge mit seiner Kanone war in die Hocke gegangen, das tat er immer, wenn er stillhalten sollte, Kreuzschmerzen, Kreislauf, den will ich nie wieder sehen, dachte Boggs, ich streiche ihn eigenhändig von der Liste, und von der heutigen Gehaltsliste auch. Die Migräne begann sein Gesichtsfeld zu verengen wie eine Lochblende. Heiße Stirnbäder hatte der Arzt empfohlen, Ammoniak, irgendetwas mit Senf, und dass man bei der Stuhlentleerung nie drängen solle, und dabei hatte er dauernd durchblicken lassen, dass das im Normalfall nur Weiber haben.
Francis Boggs wusste plötzlich nicht mehr, warum er das Attentat auf seinen eigenen Großvater verfilmte, und fand die Idee sehr befremdlich.
Der Senator im Sessel saß reglos, die Zeitung in Händen. Das Mädchen an der Wiege stand noch immer gebückt, starr wie eine Wachspuppe. Sie war bei der Polyscope, seit sie krabbeln konnte, sie kannte die Wolken, sie wusste, was Stillhalten heißt. (Meine Tante, dachte Boggs. Welche Tante? Teufel, eine meiner Tanten als Kind!) Die Wolke schwoll ein wenig an und zog sich ein wenig zusammen und bewegte sich nicht von der Stelle. Etwas knackte in Francis Boggs’ Nacken.
Wenn man mit der Straßenbahn den Irving Park Boulevard entlangfuhr, sah man das Glasdach von weitem. Es überragte das ganze Viertel. Ja was ist denn das für ein kolossales Treibhaus, fragten Fremde, ja was zieht man denn da Schönes? Und die Einheimischen sagten, da schauen Sie, das S in der Raute, das ist das Schild der Selig Polyscope, und das Große aus Glas, das ist das Treibhaus der Polyscope, wo man die Schmonzetten fürs Nickelodeon zieht. Und die ganze Straßenbahn lachte. Dann fuhr sie weiter. Jetzt sah man die Außenkulissen. Die Rocky Mountains überragten den Zaun. Der Burenkrieg sprengte das Gelände und ergoss sich über die Bürgersteige. Da waren Pferde und Kamele und halbtote Löwen und Palmen aus Pappe und Masten ohne Schiffe und Eisberge, und überall wimmelten die verfluchten Japaner in den Eskimokostümen, denn sie entliefen tagtäglich, selbst wenn Mr. Golden persönlich die Peitsche schwang. Und da lachte die Straßenbahn herzlich.
Vergnügungssucht, dachte der Spielleiter Boggs unter der Wolke über dem Glasdach der Selig Polyscope. Meist ging er zu Fuß zur Arbeit. Die Migräne baute Zacken in die Luft, Burgen, Schießscharten. Mr. Golden schrie »gestorben, gestorben«, sein Kameramann verbeugte sich fast, ein Fräulein vom Schnitt lief zum Schneideraum, es galoppierte mit wehendem Haar vor lauter Beflissenheit, und Francis Boggs, der Enkelsohn des sechsten Gouverneurs von Missouri und mit siebenunddreißig Jahren Jungspielleiter bei Selig, bekam wieder dieses Gefühl, das die Migräne oft mit sich brachte, dieses flaue Gefühl nicht eingelöster Versprechen.
Gut zwanzig Jahre war er über die Bretter gehetzt, Winterbühnen, Wanderbühnen, Freiluftbühnen, Bühnen in Scheunen, auf abgeernteten Feldern, schlecht gezimmerte Bühnen mit Zwergen und Clowns und Madame Butterfly und Hoochie-Coochie und mit Mr. Boggs, Enkel von Lilburn dem Mormonenschlächter und Urgroßenkel von Daniel Boone, dem Daniel Boone, der Kentucky entdeckt hat! Merken Sie auf, wertes Publikum. Seien Sie stolz, ihn sehen zu dürfen. Come all ye sons of freedom. Und am Schluss immer Mitsingen für alle.
Du hast Pioniersblut, hatte Vater gesagt, sei tüchtig, sei nützlich, sei hurtig, und ehe er sich’s versah, war Francis auf und davon und fand sich kaum dem Stimmbruch entronnen im Hinterzimmer des Saloons von Turlock, Kalifornien, wo er einen Pagen spielte und stotterte, bis einer in die Decke schoss. Und so weiter. Und so weiter. Immer die Primadonnen geheiratet, sonst wäre das gar nichts geworden, erst Lillian, dann May, und ein einziges Kind, den mickrigen Edwin von Lillian, seit Jahren nicht mehr gesehen … Was für ein Leben. So hastig. Und jetzt halt das Lichtspiel. Wie May es verachtete. Mumpitz und Humbug und Chicago mit dem scheußlichen Wetter. Pioniersblut, dachte der Spielleiter Boggs und schaute den Senator im Sessel an, der inzwischen recht krumm saß, und schaute das Produktionsschild an, Das Attentat auf Senator Boggs, und die Migräne bohrte sich linksseitig in sein Hirn wie die Spitzen einer eisernen Jungfrau. Er sah nicht mehr klar. Und dann kam die Sonne hervor.
»Achtung! Aufnahme!«, schrie Boggs. Der Operator löste die Kurbel. Das Mädchen an der Wiege machte einen kleinen Knicks. Der Gehilfe mit der Scheibe hielt die Scheibe hoch. Der Senator im Sessel nahm die stolze Südstaatlerpose ein und der Schütze vor dem Fenster die brutale Mörderpose. Sein Schnauzbart war zum Kinnbart verrutscht. Sei’s drum, dachte Boggs und schrie »Kamera!« Die Kurbel ging. Das kleine, langweilige Kurbelgeräusch ertönte. »Schüsse und Scherben!«, schrie Boggs. Dann traf ihn ein Sonnenstrahl zwischen die Augen. »Halt«, schrie Francis Boggs, »halt! halt! halt!«
Alles hielt an. Sogar Mr. Golden und seine Heloten hielten an; so laut hatte Boggs geschrieen.
»Ich will den Revolver von nahem sehen«, sagte Boggs zu seinem Kameramann. »Ich will nur den Revolver im Bild. Dann nur das Mündungsfeuer. Dann nur die Scherben. Dann nur das Gesicht des Kindes, das schreit. Dann den Senator, der stürzt. Dann nur seine Hand, die zuckt. Mit der Zeitung. Zerrissen. Nahaufnahme. Und alles im Rauch. Stellen Sie die Kamera halt auf einen Wagen. Fahren Sie damit in der Szene herum. Jemand kann Sie ziehen. Oder schieben. Sie wechseln halt die Linse, wenn es unscharf wird. Das sind so sieben, acht Schnitte für den Todesschuss. Und ich will Blut. Jemand hol mir bittschön was Rotes. Oder was Schwarzes. Das kann Opa in den Mund nehmen und ausspucken, wenn er getroffen ist. Ketchup. Tinte. Was weiß ich. Verdünn mir voller Schuhcreme und Idioten. Man braucht das reeller. Mit Zack-zack-zack. Ich will auch drei Spulen drehen. Ich will eine halbe Stunde. Ich will ein halbstündiges Lichtspiel machen, mit reellem Zack- … mit Zack-zack …«
Boggs holte Luft. Das nennt man Aura, hatte der Arzt erklärt. Da flimmert’s bei der Migränepatientin und sie hat Visionen. Essen Sie Meerrettich, Mann. Reißen Sie sich am Riemen.
Der Kameramann hatte die Kurbel justiert und die Linse verschlossen. Er starrte dem Spielleiter dauernd stumm ins Gesicht. Seine Oberlippe hatte die Schneidezähne entblößt. »Nahaufnahme?«, fragte der Kameramann langsam. Seine Nüstern weiteten sich. Er will riechen, dachte Boggs, der allmählich zu sich kam, ob ich wohl eine Fahne habe. »Herumschieben?«, fragte der Operator zäh, »In einem Wagen?«
Die Sonne war fort.
»Acht Schnitte?«, skandierte der Operator, »Acht?«
Francis Boggs stellte sich ein Lichtspiel vor, das eine geschlagene halbe Stunde lang Blutlachen und leinwandgroße Feuerwaffen vors Publikum brachte. Pfui Teufel, dachte Boggs.
»Der langen Rede kurzer Sinn«, sagte er mehr zu sich selbst, als die ersten Regentropfen auf das Glasdach der Selig Polyscope fielen, »man sollte nach Kalifornien ziehen, denn hier ist das Wetter nicht gut.«
Der Mann im Regen, der am 6. Mai 1842 Lilburn Boggs’ Fensterscheibe mit Grobschrot aus einer deutschen Pfefferbüchse entzweischoss, Mädchen und Säugling knapp verfehlte und den Senator viermal traf – mit zwei Kugeln links durch den Schädel ins Hirn und mit zwei in den Hals, von denen eine durch den Gaumen in die Mundhöhle eintrat und vom Senator in einer Blutfontäne wieder ausgespuckt wurde –, konnte nie überführt werden. Verdächtigt und inhaftiert wurde der vormalige Fallensteller und Spurensucher Orrin Porter »Old Port« Rockwell aus Utah, bekannt für seine Unverwüstlichkeit, seine Schießkunst und seine Frisur, einen hochsitzenden filzigen Flechtdutt. Der Prophet Joseph Smith, dem Mr. Porter ab und an als Leibwächter diente, hatte ihm prophezeit, weder Kugel noch Klinge könnten ihm ein Leids tun, solange er seine Haare nicht schnitte, ihn sodann mormonisch getauft und mit einer Miss Luana Beebe, die gerade zur Stelle war, mormonisch getraut. Das war ein großer Moment in Porter Rockwells Leben gewesen.
Nach neun Monaten, keinem Beweis und keinem Geständnis (»Ich schieß’ nicht auf Leute«, sagte Old Port beleidigt, »ich schieß’ Leute bloß tot!«) musste man ihn in Missouri aus der Haft entlassen. Man nannte ihn den Würgeengel des Mormonentums, den Samson von Nauvoo. Aus seinem Barthaar fertigte man Reliquien, die auf Märkten feilgeboten wurden.
Entgegen jeder Vernunft und ärztlichen Prognose schlug Lilburn Boggs in Independence nach drei Tagen Koma die Augen auf und verlangte nach Frühstück, nach der Bibel, nach Frau, Kindern und der Korrespondenz des Senats. Dann sagte er »Ich will nach Kalifornien«. Man schob das auf die zwei verbliebenen Stück Grobschrot in seinem Gehirn.
»Man sollte die gesamte Polyscope nach Kalifornien umsiedeln«, sagte Francis Boggs zu seinem Chef William Selig, »denn in Chicago ist das Wetter nicht gut.«
»Was für eine schöne Idee.« Colonel Selig lächelte den Jungspielleiter an, von Sessel zu Stuhl, über den großen Schreibtisch hinweg. Es bestand kein Zweifel, dass Mr. Selig nicht zuhörte, dass er einen Umzug keines Gedankens würdigte, dass er an die nächsten siebzig Lichtspiele der Polyscope dachte oder an die neue Auflage des Multifunktionsprojektors oder auch nur an den kleinen Schimpansen, mit dem er zuweilen in den Außenkulissen ein Zigarettchen rauchte; dennoch hob sich Boggs’ Laune und Boggs’ Migräne verflog, weil der Colonel so ein netter Mensch war.
»Mir kam auch zu Ohren, Sie wollten den Kameraoperator in ein Wägelchen stecken und in der Kulisse umherschieben«, sagte Selig, »und dass Sie Ihr tägliches Lichtspiel nicht fertigstellten?«
»Wagen«, verwehrte sich Boggs. Er wartete darauf, hoffte darauf, entlassen zu werden. Weshalb sonst hatte ihn Selig gerufen? Seit er den Geist seines Großvaters gesehen hatte, träumte Boggs von Kalifornien. Er hatte einen ganzen Abend vor der Scheibe des Gewächshauses der botanischen Gesellschaft von Illinois verbracht und die Magnolienbäume angeseufzt, die man durch das beschlagene Glas gar nicht gut sehen konnte und die nicht einmal blühten; so schlimm war sein Heimweh. Francis Boggs wollte nach Kalifornien, zurück zum Theater, und wenn May nicht mitwollte, so würden sie sich halt scheiden lassen, und Francis würde eine neue Primadonna heiraten oder die Tochter eines Direktors.
»Jetzt phantasieren Sie schon wieder, Boggs«, stellte Selig fest. Er machte eine kleine kreisende Handbewegung, als kurble oder quirle er etwas knapp über der Schreibtischplatte, und dann zeichnete er eine sanfte Wellenlinie in die Luft, um das Quirlen ein wenig abzumildern.
»Wir müssen früher oder später mit der gesamten Firma nach Kalifornien umziehen«, sagte Boggs.
»Ich mag Phantasten.« Selig lächelte. »Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Lichtspiele rechtzeitig fertig bekommen, und erschrecken Sie nicht Ihre Operatoren.«
»Das Wetter in Chicago ist eine himmelschreiende, teuflische Katastrophe«, sagte Boggs.
Selig lächelte noch immer und hörte längst nicht mehr zu. Boggs merkte, er wollte bei Selig bleiben, weil Colonel Selig so ein netter Mensch war.
ACHTUNG, AUFNAHME. – Wenn der Spielleiter zu Beginn einer Szene das Kommando gibt, schauen Sie nicht zur Kamera, ob sie auch läuft. Dafür wird von anderer Seite Sorge getragen.
KÄMPFEN. – Vermeiden Sie unnötiges Umsichschlagen und Verrenken des Körpers. Werden Sie beispielsweise in einem Handgemenge überwältigt, so krümmen und winden Sie sich nicht über Gebühr, sofern Sie nicht einen Tollhäusler spielen. Ebendieses gilt auch für Ihren Tod. Nicht fuchteln! Lassen Sie gesunden Menschenverstand walten.
BILD. – Bemühen Sie sich, dieses nicht zu verlassen. Merken Sie sich den Fokus der Kamera, was mit einiger Übung ein Leichtes ist, und agieren Sie ausschließlich in diesem Bereich.
SCHMINKE UND KOSTÜM. – Sind Sie bestellt, um einen Goldgräber zu spielen, erscheinen Sie nicht in Schnürstiefeln und Hosen mit Seitentaschen. Ein armes Mädchen vom Land trägt nicht Seidenstrümpfe und französische Absätze. Röten Sie Ihre Lippen und Wangen nur wenig, denn Dunkelrot wird schwarz in der Fotografie. Tupfen Sie niemals Rouge auf Nase und Stirn. Dies führt zu ganz abscheulichen Ergebnissen.
ÄRMEL. – Krempeln Sie nicht ständig Ihre Ärmel hoch. Wenn Sie Tennis spielen oder auf der Strandpromenade mit einem Fräulein schäkern, dürfen Sie Ihre männliche Schönheit nach Herzenslust ausstellen, aber merken Sie auf: Cowboys und Fallensteller schätzten den Hemdsärmel aufgrund seines ursprünglichen Verwendungszwecks!
FLUCHEN. – Es befinden sich Frauen und Kinder im Atelier! Und halten Sie sich besonders während der Aufnahme zurück. Tausende von Taubstummen besuchen die Lichtspielhäuser und lesen Ihre Lippen.
ROLLEN. – Seien Sie niemals pikiert über Ihre Rolle. Der Spielleiter weiß genau, wofür Sie gut sind. Verdrießlichkeiten erschweren sein Leben.
Merkblatt für Darsteller der Selig Polyscope Company, Chicago 1910
Um das Jahr 1885, in einem Sanatorium in Colfax, Kalifornien, das er hausmeisterlich betreute, stellte William Nicolas Selig fest, dass sein Geschick, knifflige Dinge zu reparieren oder auszubessern, sich nicht nur auf Gegenstände erstreckte, etwa Wasserhähne und die zarten Scharniere von Liegestühlen, sondern auch auf das menschliche Gemüt.
Es verblüffte ihn immer wieder. Er war noch keine zwanzig, er hatte nichts Priesterliches oder gar Kurärztliches an sich, er war ein großer, breiter, blonder, schnauzbärtiger Welpe von einem deutschen Polsterergesellen aus der deutschesten Ecke von Chicago-Nord, der nicht einmal besonders gerne redete; dennoch wusste er, was Menschen, besonders von Kummer geplagte, brauchten, und zwar fast immer.
William Selig zog Vorhänge auf, wenn jemand Licht wollte, und Vorhänge zu, wenn sich einer nach Dunkelheit sehnte. Er brachte Erfrischungen, auch ungewöhnliche, etwa kalten Kaffee, wenn jemand ein Gelüst danach hatte, und trug unberührte Heilwassergläser davon, sobald sich ein Gast von ihrem Vorhandensein bedrängt fühlte. Bisweilen musste er still um eine Ecke biegen, wenn er ein Bedürfnis erahnte, das er nicht erfüllen konnte oder wollte. Einem bleichen Jüngling aus Boston reparierte er die Taschenuhr, nur um sie dann unauffällig ganz zu zerstören, weil er ahnte, dass sie ein belastendes Andenken war, etwa an einen bösen Vater oder Onkel. Der Jüngling aus Boston gewann Farbe und Laune zurück und lief dem Hausmeister tagelang wie ein Hündchen hinterher. Einmal trug Selig eine Klapperschlange, statt sie wie geplant zu erschlagen, durch das halbe Haus und den Garten, um sie einer Dame mit Ekzemen zu zeigen, von der er so grundlos wie richtig annahm, dass eine Klapperschlange sie in diesem bestimmten Augenblick entzücken würde. All dies tat er ohne Wunsch nach Lob oder Belohnung, auch ohne viel altruistischen Nachdruck, gleichsam wie ein wissenschaftliches Experiment. Wie und warum es funktionierte, hatte er auch nach einem Jahr in Colfax noch nicht herausbekommen.
Der junge Selig war nach Kalifornien gereist, um dort einen Husten, vielleicht einen schwindsüchtigen, auszukurieren, und verband nun das Nützliche mit dem Nützlicheren. Er hausmeisterte geduldig, für wenig Geld, mit wenigen Worten und scharfem Blick auf die Menschheit. Eine nie recht eingestandene Abneigung gegen Gurtspanner und Polsterzwecken mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben, als Selig Chicago verließ, oder auch die Vermutung, dass Gott etwas Dramatisches mit ihm vorhabe, das gewiss mit einer Reise beginnen müsse.
Kalifornien an sich war ihm nicht sonderlich lieb. Die ewige Sonne, das ewig Paradiesische, und dann die aufgelassenen Goldminen, die das Land so zerfurcht hatten, dass man kaum mehr gerade Häuser darauf bauen konnte, all das widerstrebte ihm. Ein Sanatorium indes, selbst ein rudimentäres wie jenes in Colfax, was im Grund nichts anderes war als eine zum Städtchen angeschwollene Baustelle der Central Pacific Railroad, war der ideale Ort für William Seligs Menschenversuche.
Als praktischer Mann wollte er nun lernen, den Selig-Effekt zu bündeln: Wie mehrere zugleich zu beglücken seien mit nur einer einzigen Kraftanstrengung. Er versuchte vieles. Nichts befriedigte ihn. Immer gab es Ausreißer, immer setzte sich dieser oder jener gegen den allgemeinen Beglückungsversuch zur Wehr, immer wieder trübte vereinzelter Verdruss das allgemeine Vergnügen. Erst im Frühling 1887 fand William Selig sein erstes Allheilmittel, das ihn in seiner Unseriosität ein wenig entsetzte: die kleine Salonmagie.
Der erste Trick des Hausmeisters Selig hieß »Der Feuerkopf« und entstammte der Medikamentenkammer des Kurhotels. Er musste ihn so oft vorführen, besonders im Schummrigen, wieder und wieder, zu größtem Applaus, bis seine Handflächen und Mundschleimhäute es nicht mehr ertrugen und er etwas Neues beginnen musste. Man sah den jungen Selig Papierkügelchen mit einem Streichholz entzünden, sie brennend in seinen Mund werfen und sie sodann, immer noch qualmend, aus Nase oder Ohren wieder hervorziehen. William Selig machte sich hier zunutze, dass Ammoniak (vorrätig für Brustwickel) und Salzsäure (blutarmen Mädchen verabreicht, um ihren Eisenhaushalt zu regulieren) in Verbindung kalt raucht; dies war allerdings der einzige Trick bei der Sache, und er kam erst zum Einsatz, als das echte Feuer bereits auf natürlichem Wege in Seligs Speichel erloschen war. Das Glück der Gäste war ein wenig zu teuer erkauft. Noch Jahre später verband William Selig seine Zeit in Colfax mit dem Geschmack angebrannten Fleisches und scharfem Uringeruch.
Im Versandhandel erwarb er ein Lehrbuch der Magie. Er war geschickt mit Kopf und Händen. Er gewöhnte sich Maniküren an, damit nichts an den Fingern hing oder hakte. Er hausmeisterte weniger und weniger und zauberte mehr und mehr. Das Management spielte mit dem Gedanken, Selig als besondere Leistung in den Werbeprospekt des Etablissements aufzunehmen. Münzen, Schnupftücher, Uhren, Zigarren, Hemdkrägen, Strumpfhalter, Inhalationsgeräte, Streichholzschachteln, Karten, Besteck, Geschirr, Wasser, Feuer, Luft und Erde beugten sich William Seligs Genie und den unausgesprochenen Wünschen des Publikums. Alles verschwand und erschien. Alles verwandelte sich in alles. Eine Teetasse wurde zum Fingerhut und vice versa. Ein Schnürsenkel wurde ein Waschbär und der Waschbär ein Hut, oder auch ein Brief aus Virginia. William Seligs große, blond behaarte Hände verfügten über mehr Geheimfächer, als er sich selbst erklären konnte; bisweilen fand er, wenn er schon zu Bett lag und schlafen wollte, eine letzte Murmel, ein Pik-Ass in der Linken versteckt.
Mit seiner ruhigen, etwas reservierten und gar nicht theatralischen Art war William Selig ein untypischer Taschenspieler. Er strahlte eine Autorität aus, die nicht mystisch, eher militärisch wirkte, sehr ordentlich, sehr irdisch. Es ist nicht belegt, wer ihm seinen Titel verlieh: Plötzlich hieß er Colonel Selig. Über die Jahre wuchs der Rang des Obristen so tief in Seligs Persönlichkeit ein, dass weder er selbst noch seine diversen Untergebenen daran zweifelten, dass er ihn tatsächlich in einer schönen Militärlaufbahn erworben hatte.
Eines Tages nach zwei, drei oder auch sieben Jahren in Colfax – die Datierung seiner biographischen Anfänge ist ein wenig verwischt –, als er gerade einen Silberdollar aus jemandes Nase zog und dabei routinemäßig Gedanken las, las Colonel Selig zum ersten Mal »Überdruss«. Am nächsten Morgen kutschierte er den hauseigenen Buggy zum Bahnhof, um neue Gäste vom Zug abzuholen. Kurz hinter der Methodistenkirche dachte er ein Wort: Poker. Er erschrak so sehr, dass er das Pferd zügeln, absteigen und ein paar Schritte gehen musste. Ein Telepath mit der Fingerfertigkeit einer Spitzenklöpplerin … Es lag so nahe. Selig schüttelte sich. Dann nahm er Haltung an. So bin ich nicht erzogen, dachte William Selig. Er merkte, er erinnerte sich kaum, wie er erzogen war. Selig stieg wieder auf den Bock und dachte dort »Poker, Poker, Poker«, bis es ihn nicht mehr erschreckte. Und da reizte es ihn auch nicht mehr.
Er wendete den Wagen und fuhr zurück zum Sanatorium. Die neuen Gäste standen verloren am Bahnhof der Central Pacific. William Selig packte seine Sachen. Er ging zum Management, um zu kündigen, und als er keinen antraf, hinterließ er nur einen Zettel. Er stattete der Medikamentenkammer einen letzten Besuch ab und entwendete Pröbchen von allem, was bei rechter Verwendung rauchte, knallte oder stank. Und dann war er fort.
Professor Seligs Wanderjahre – denn er tauschte seinen militärischen Rang damals für eine Weile gegen einen akademischen –, die ihn bis Mitte der 1890er Jahre tausende von Meilen kreuz und quer durch den amerikanischen Südwesten führten, waren weit weniger erquicklich, als er es sich in Colfax ausgemalt hatte. Er begann seinen Weg in der Tat als Zauberkünstler, in Städten und Städtchen, in Kuhdörfern unter freiem Himmel, in Hotels und Saloons und sogar in der Eisenbahn, in aufgelassenen Minen und in einer aufgelassenen Kirche, was er erst merkte, als ein morsches Kreuz auf ihn fiel; und einmal zauberte er auch in einem Bordell namens Red Tarantula Palace in einem Ort namens Weeping River.
Daheim im deutschen Viertel von Chicago-Nord, wo der Polsterermeister gewiss noch immer seine Polsterzwecken zwischen den Lippen trug, wo Vater Selig stolz seinen kleinen Schusterladen führte und einige von Williams vielen Brüdern, vielleicht sogar alle, katholische Priester waren, hatte man ja gar keine Ahnung, dachte der Streuner mit einem Lächeln, wie schlimm es in Amerika zuging.
Nie verlor Professor Selig seine freundliche, gediegene Ruhe. Noch immer hatte er nicht herausgefunden, was alle Menschen glücklich macht. Er trug zwei Revolver, die er nicht ein einziges Mal benutzte. Jeden Abend trank er genau einen doppelten Whiskey. Ab und zu fand er ein anständiges Mädchen, das mit ihm spazieren ging oder gar ein Picknick unternahm, und dann erfragte er alles über ihre Familie, dachte ans Heiraten und dass er zu arm dazu sei und gewissermaßen auch gar nicht mehr als ein Scharlatan, und dass er auch gar keine Lust dazu hätte, und am nächsten Tag reiste er weiter.
Als ihm eines Tages jemand das Kaninchen kaputtschoss, das er aus dem Zylinder gezogen hatte, grundlos, nur aus Tollerei, legte Professor Selig den Zauberstab nieder und nannte sich wieder Colonel.
Gemeinsam mit einem Mr. Martin, später mit einem Mr. Johnson übernahm er Management und Betreuung einer reisenden Minstrel-Show. Sie bestand aus fünf Weißen, vier Schwarzen und einem Mexikaner, der den Planwagen lenkte, Wache hielt und auf der Bühne die Posaune spielte. Alle, die Weißen, die Schwarzen und der Mexikaner, malten sich jeden Abend die Gesichter schwarz (mit Schuhcreme oder verkohlten Korken, je nach Budget) und setzten Wollperücken auf, damit das Publikum nicht wusste, wer von ihnen schwarz oder weiß war, und sich dadurch etwa beleidigt fühlte. Man spielte die üblichen drei Akte, Gesang und Tanz und Witze, »Bruder Bones auf Brautschau« und »Onkel Toms Heimweh nach der Plantage«, viel Kauderwelsch und Wassermelonen. Colonel Selig überließ meistens Mr. Martin bzw. Mr. Johnson die Conference, weil er sich auf der Bühne so blass fühlte. Dafür führte er Buch.
Der kostenlose Auszug ist beendet.