Totensteige

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»Aber Rosenfelds Augen waren nicht einfach zugedrückt, sie waren zugeklebt«, unterbrach ich das patriarchale Kleinen-Mädchen-Angst-Machen. »Sein Mund auch.«

»Und in seinem Ohrläppchen steckte eine Nadel. Als Reminiszenz ans Pfählen. Da hast du, Gesine, übrigens einen Hinweis auf das Dorf im slawisch-griechischen Verbreitungsraum des Vampirglaubens, aus dem Katzenjacob vermutlich stammt.«

»Er stammt aus Sigmaringen«, bemerkte ich.

»Nein«, widersprach Gesine Meisner. »Juri wurde im Alter von sechs Jahren aus Rumänien adoptiert. Er befand sich zuletzt in einem Bukarester Waisenhaus. Wo seine Eltern lebten, ist nicht bekannt. Aber vielleicht …« Sie überlegte. »Haben wir einen Vampirexperten beim LKA?«

Krautter gab vor, dies ernsthaft zu überlegen.

»Und der Kies«, fragte ich, »was spielt der für eine Rolle?«

Staatsanwältin Meisner richtete sich auf. »Da bin ich aber mal gespannt, Richard!«

»Ein numerologischer Trick. Man kann auch Samen nehmen. Der Nachzehrer muss sie zählen, bevor er andere Seelen verzehren kann. Weil aber ein Nachzehrer des Teufels ist, kommt er niemals über die heilige Zahl 3 hinaus, denn die kann er nicht aussprechen.«

»Hm.« Meisner legte den Kopf schief. »Und wie soll ein Nachzehrer mit geschlossenen Augen zählen? Ganz abgesehen davon, dass er ja keiner mehr ist, wenn man ihm Augen und Mund verschlossen hat.«

»Logik ist nicht das Instrument, um dem Aberglauben beizukommen, Gesine.«

Meisner stöhnte. »Na, wunderbar! Da hat uns Katzenjacob vor einem Vampir gerettet.«

Richard schmunzelte, als sei er Herr über alle finsteren Mächte dieser Welt.

»Wieso eigentlich«, überlegte ich laut, »ist Rosenfeld dem Juri Katzenjacob wie ein Nachzehrer vorgekommen? Was sagt er denn dazu?«

Meisner seufzte. »Er sagt gar nichts.«

»Habt ihr es schon mal mit dem guten alten rationalen Cui bono probiert?«, fragte Richard. »Wem nützt Rosenfelds Tod?«

»Unserem Beschuldigten jedenfalls nützt er nichts. Und du wirst jetzt nicht ein neues Fass aufmachen, Richard.«

»Könnte doch sein, dass Juri nur der Auftragskiller war«, schlug ich vor.

»Warum sollte er uns dann seinen Auftraggeber nicht nennen?«

Richard öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu.

»Und zu vererben hatte Rosenfeld nur ein paar Tausend Euro«, fuhr Meisner fort. »Seine Frau hat sich vor fünfzehn Jahren von ihm scheiden lassen und in Berlin einen Staatssekretär geheiratet. Die gemeinsame Tochter ist inzwischen eine gut verdienende Journalistin beim rbb in Berlin, sie ist kinderlos und verheiratet mit dem Pressesprecher eines Konzerns. Für Peanuts geben die keinen Mord in Auftrag.«

»Und die Burg Kalteneck? Wem gehört die?«

»Einer gewissen Edmund-Gurney-Stiftung.«

»Ach«, sagte Richard.

»Rosenfeld hat sie vor zehn Jahren der Stiftung überschrieben, weil er die Renovierung der Burg wegen seiner Scheidung nicht bezahlen konnte. Davor, bis in die Achtziger, gehörte sie einem Ehepaar, das sie wiederum in den Siebzigern von einem Mann erworben hatte, der ebenfalls wegen einer Scheidung den Unterhalt nicht mehr zahlen konnte.«

»Ein Fluch liegt auf der Burg«, bemerkte ich.

»Der Mann betreibt heute in Nördlingen einen Drehorgelverleih. Er hatte die Wasserburg in völlig desolatem Zustand erworben und mit den ersten grundlegenden Instandsetzungen beginnen können.«

»Und dabei hat der Scherzbold in den Raum, wo Rosenfelds Büro untergebracht ist, eine Geheimtür eingebaut.«

»Wir haben ihn danach gefragt. Der Architekt und die Handwerker wissen auch nichts von einer Geheimtür.«

»Und wer ist Edmund Gurney?«, fragte ich.

»Ein englischer Philosoph. Mitbegründer der Society for ­Psychical Research in London. 1882 war das. Die erste gemeinschaftliche Anstrengung unserer Gesellschaft, den unkontrollierbaren Mächten von Zauberei, Magnetismus und Hellseherei Einhalt zu gebieten, sie aus den schummrigen Hinterstuben ins Licht der Labore und der Naturwissenschaft zu holen.« Richard griff zufrieden nach seinem Schorleglas und sagte in einem Ton, als müsse er sein abseitiges Wissen erst mühsam aus den Regalen holen: »Ich meine mich zu erinnern, dass es dieser Gurney war, der erstmals Kriterien für paranormale Erscheinungen aufstellte: Berichte nur aus erster Hand und durch einen Zeugen bestätigt. Besonders interessierte ihn das, was er Krisen-Erscheinungen nannte. Irgendwo befindet sich eine Person in einer meist tödlichen Krise und woanders sieht oder hört ihn im gleichen Moment eine ihm nahestehende Person.«

»So wie bei Sally«, bemerkte ich. »Als ihr Vater starb, fiel bei ihr ein Geschenk von ihm, ein Bierkrug, runter und zerbrach.«

»Gurney hätte gesagt: Sie hat eine telepathische Botschaft empfangen. Allerdings würde ich sagen: Nichts ist so trügerisch wie unsere Erinnerung. Wer weiß, wann Sally den Bierkrug runtergeworfen hat. War es wirklich in der Stunde, als ihr Vater starb? Oder womöglich zwei Tage vorher? Ihre Erinnerung hat dann zwei Ereignisse zusammengeschweißt und daraus eine Legende gemacht, die man gut erzählen kann. Nicht absichtlich natürlich.« Er lächelte selbstzufrieden. Entzaubern war eines seiner Hobbys.

Aber diesmal konnte er keinen Erfolg haben. Die Macht des Narrativen war zu groß.

»Ich glaube aber schon, dass es so etwas gibt«, meldete sich die junge Staatsanwältin ernst. »Mein Onkel ist mit seiner ganzen Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich war damals sieben. Drei Nächte vor dem Flug hat seine Tochter geträumt, dass ein Flugzeug abstürzt. Und die Frau meines ­Onkels hat es am Vorabend der Reise meiner Mutter erzählt. Meine Mutter hat sie noch gefragt, ob sie denn keine Angst hätten. Aber wer bucht schon einen Flug um, nur weil ein Kind schlecht träumt? Hätten sie mal!«

Richards asymmetrischer Blick ruhte prüfend auf der kurzhaarigen jungen Frau, die noch so viel werden wollte und der die Herren doch bloß auf die Brüste in festlich roter Verpackung guckten. »Jetzt reden Sie aber nicht mehr von Gedankenübertragung, sondern von Hellsehen.«

»Glauben Sie, meine Mutter hat sich das alles nur so ausgedacht, um mir Angst zu machen?«, fuhr sie auf.

»Wieso denn Angst?«, hakte ich ein.

»Das ist doch total unheimlich, finden Sie nicht? Ich bin mit der Angst aufgewachsen, dass ich vielleicht eines Tages den Tod meiner Eltern und meiner ganzen Familie vorhersehen würde. Und ich habe immer schon Angst vorm Fliegen gehabt.«

»Sie brauchen weder vor dem einen noch dem anderen Angst zu haben«, sagte Richard onkelhaft. »Die meisten Menschen halten Hellseherei zwar für möglich, aber gerade die ist, soviel ich weiß, von den Parapsychologen noch nie bestätigt ­worden.«

»Wieso nicht? Meine Mutter hat sich das nicht ausgedacht!«

»Ihre Geschichte in Ehren, und ohne Ihrer Mutter zu nahe treten zu wollen, aber die Sache ist zwanzig Jahre her. Da gilt, was für alle Zeugenaussagen gilt. Nach so langer Zeit erinnert sich ein Zeuge an gar keine Zusammenhänge mehr, und die, an die er sich erinnert, erweisen sich als falsch. Und wenn ein Mensch eine Geschichte wiederholt erzählt, erinnert er sich immer nur an die zuletzt erzählte Version. Das Original geht gänzlich verloren.«

»Ich erinnere mich aber genau, es war im Mai …«

»Sie erinnern sich an die Geschichte, die man bei Ihnen daheim erzählt. Bereits ordentlich abgeschliffen und logisch verknüpft. Ein Indiz dafür ist die Zahl 3. Warum hat Ihre Cousine drei Nächte vor der Reise von einem Absturz geträumt? Warum nicht vier? Warum nicht zwei? Und was genau hat sie geträumt? Was war Interpretation der Eltern am andern Morgen? Und welche Interpretation hat Ihre Mutter nach dem Unglück der Geschichte gegeben, die ihre Schwägerin am Vorabend der Reise am Telefon erzählt hatte?«

»Aber sie hat doch die Schwägerin sogar noch gefragt, ob sie keine Angst hätten, dass der Traum sich erfüllen wird!«

»Hat sie das wirklich?«

»Warum sollte sie das erfinden?« Die junge Staatsanwältin glühte.

Richard schlitzte den Blick. Ich sah ihm an, dass er sich in diesem Moment entschied, nicht zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. »Es ist oftmals schwierig, sich zu erinnern, wann genau man was zu wem gesagt hat«, sagte er beschwichtigend und lenkte ab. »Auf jeden Fall ist sich kein Kind von sieben Jahren bewusst, dass gerade Mai ist. Das ist schon mal nicht Ihre eigene Erinnerung.«

Die junge Staatsanwältin schluckte.

»Mein lieber Herr Dr. Weber«, sagte Krautter, »seien Sie doch nicht so erbarmungslos.«

»Eine Freundin von mir«, plauderte Roswita Kallweit los, »die war mal bei einer spiritistischen Sitzung dabei. Da hat man den Geist eines Toten gerufen. Und er ist gekommen.«

Richard lachte ratlos.

»Wie?«, erkundigte sich Meisner. »Mit Tischrücken? Ich habe das als Studentin auch mal gemacht. Man setzt sich im Kreis um einen Tisch … so wie den hier … und alle legen die Hände darauf. Los, das machen wir jetzt. Alle müssen die Hände auf den Tisch legen … Aber vorher sollten wir besser die Gläser runternehmen.«

8

Wir verteilten Gläser, Aschenbecher und Erdnussschälchen auf zwei Steinsockeln zwischen den Geländern zum See. Die Terrasse war inzwischen weitgehend entvölkert. Am andern Ende knutschten noch zwei. Die Band hatte aufgehört zu spielen. Es schien, als sei uns das Ende der Party entgangen. Seltsam nur, dass die Gäste sich nicht von Meisner verabschiedet hatten. Aber vielleicht waren wir so in unsere Diskussion verbissen gewesen, dass man uns nicht hatte stören wollen, oder die Lärmschutzwand um uns herum hatte uns unsichtbar gemacht für die anderen.

 

»Und jetzt?«, fragte Krautter.

»Wir legen die Hände auf den Tisch.« Meisner spreizte ihre Finger. »So dass wir uns an den kleinen Fingern berühren.«

Der Bistrotisch wackelte schon auf seinem Ständer, als wir die Hände vor uns legten. Ich spürte Richards kleinen Finger warm und ruhig an meiner rechten und Roswitas nervöses Fingerlein an meiner linken Hand. Neben ihr stand Meisner, dann kam die junge Staatsanwältin, schließlich der Vizegeneral Krautter. Unsere Handspannen reichten zwar nicht ganz, um den Kreis zu schließen, aber nach Meisners Ansicht machte das nichts.

»Das klappt doch nie und nimmer«, sagte ich.

»Ruhe auf den niederen Rängen!«, rief Meisner. »Wir müssen uns konzentrieren.«

Die junge Staatsanwältin kicherte.

»Konzentration«, zischelte ich.

Jetzt gluckste auch Roswita Kallweit. »Mich juckt’s hinterm Ohr!«

»Und was passiert jetzt?«, erkundigte sich Krautter.

»Wir warten, bis der Geist sich meldet. So ein Schloss hat sicher einen Geist. Wenn er da ist, dann bewegt sich der Tisch. Warten wir’s ab.«

Ich dachte an Kitty zu Salm-Kyrburg und ihre Behauptung, Rosenfeld habe was zu sagen. Und ich erinnerte mich an die Geisterjagd vor zwei Monaten im Schloss Ludwigsburg, dessen Ableger das Seeschlösschen Monrepos war. Wenn das Gauß­meter blinkt und die Temperatur fällt, dann ist er da, der Geist. Die Haunt Hunters hatten etwa zehn Minuten mit geschlossenen Augen in der Kirche gesessen. Ein Geist braucht Stille. Aber worauf, zum Teufel, konzentrierte man sich?

Da spürte ich ein erstes Zucken.

»Huh!«, entfuhr es Roswita. Enten auf dem See quakten.

»Scht!«, machte Meisner und fragte mit hohler Stimme: »Bist du da, Geist? So antworte mit Ja.«

Der Tisch kippte Richtung Krautter und fiel zurück.

Roswitas Finger zuckte kurz weg, aber sie wagte es nicht, die Hände zurückzuziehen. Keiner wagte es.

»Wer bist du?«, fragte Meisner. »Nenne deinen Namen. Einmal Kippen für A, zweimal für B, dreimal für C und so fort.«

Nichts passierte. Ich spürte, was Richard dachte. Ich dachte, was er dachte. Am Ende sind wir alle so entsetzt, dass der Tisch nur einmal ruckt. Und dann haben wir nur ein A für Angst. Aber seine Sorge sollte es nicht sein. Und wie er und ich schob jeder und jede die Verantwortung von sich weg. Und nachdem das klar war, begann der Spuk.

Der Tisch kippte erneut in Richtung Krautter und der jungen Staatsanwältin. Einmal, zweimal, dreimal. Und es war der Tisch. Ich tat gar nichts. Ich schwör’s. Er war es, der sich bewegte.

»A … B … C …«, sprach erst nur Meisner, dann die junge Staatsanwältin, schließlich Krautter mit. »… E … F …«

Wo wollen die hin? Gabriel wäre Rosenfelds Vorname gewesen.

»… L … M … N …«

Tja, gar nicht so leicht, sich unter fünfen auf einen Namen zu einigen, dachte ich, weil Richard es dachte.

»… Q … R.«

Der Tisch fiel auf seine Füße und rührte sich nicht mehr.

»R«, stellte Meisner fest. »Wie lautet der zweite Buchstabe?«

Der Tisch fing brav sofort wieder an. Es flutschte. »… E … F … G …«

»Rosenfeld?«, fragte ich. »Heißt du Rosenfeld?«

Der Tisch antwortete mit einem Ruckler für Ja.

In diesem Moment veränderte sich etwas. Schloss, See, Wind und Nacht entrückten sich uns. Als ob sich eine Glocke über uns gestülpt hätte, damit wir allein sein konnten mit Gabriel Rosenfelds Geist.

»Kennst du deinen Mörder?«, fragte ich.

Der Tisch wackelte zweimal. »Nein«, sagte Meisner.

Schade!, dachte ich. Oder war es Richard, der das dachte? Er hätte es spöttischer denken müssen als ich.

»Ist Juri Katzenjacob dein Mörder?«, fragte ich, ehe Meisner was anderes fragen konnte.

Der Tisch kippte zweimal. »Nein«, übersetzte nicht Meisner, sondern Roswita Kallweit. »Er ist es nicht.«

»Kennst du das Motiv?«, fragte Meisner. »Weißt du, warum du sterben musstest?«

Der Tisch neigte sich fast zögernd der jungen Staatsanwältin und dem Leitenden Oberstaatsanwalt zu, kippte zurück auf seine Füße und blieb still stehen.

»Ja?« Meisner klang erstaunt.

Jetzt wurde es ernst. Keiner im Kreis hätte noch seine Hände heben und sich vom Tisch lösen können. Nicht einmal Richard, der, wie ich deutlich spürte oder auch nur vermutete oder hoffte, standhaft blieb und nicht eine Sekunde lang glaubte, es spräche irgendetwas anderes zu uns als wir selbst, eine Gruppe, die sich nach den Regeln der Chaostheorie selbst organisierte und dabei die Verantwortung für die Bewegung des Tischs von sich weg delegierte, weshalb jeder Einzelne von uns das eigene Zutun nicht mehr spürte. Deshalb fürchtete Richard sich auch nicht. Noch nicht.

Meisner war die Erste, der einfiel, wie wir die nächste Frage stellen mussten. »Ist das Motiv … äh … Habgier?«

Gut gefragt, dachte Richard.

»Nein«, kippelte der Bistrotisch.

»Eifersucht?«, fragte die junge Staatsanwältin fast schrill.

»Nein.«

»Neid?«, fragte ich und dachte an die stellvertretende Institutsleiterin Dr. Derya Barzani, die sich die Aussicht, Institutsleiterin zu werden, erkämpft haben mochte, wenn sie schon Rosenfelds sehnigen Körper an das Sonnenscheinchen hatte abtreten müssen. Wieso, fragte ich mich, hatte Rosenfeld bei seinem Tod Trekkingstiefel angehabt?

»Nein.«

»Hass?«, fragte die junge Staatsanwältin.

Der Tisch kippte zweimal und blieb dann still stehen. »Nein.«

»Herrschsucht?«, fragte ich.

Damit konnte Rosenfelds Geist in unseren Händen nichts anfangen. Der Tisch rührte sich nicht. Zu theoretisch, hörte ich Richard denken. Er schmunzelte dabei.

»Hat es mit deiner Arbeit zu tun?«, fragte Meisner.

Der Tisch hüpfte geradezu befreit: »Ja.«

Kurz kreiste Ratlosigkeit. Was tat ein Parapsychologe den ganzen Tag? Geisterfotos angucken, die man ihm schickte, Poltergeister mit Mikrofonen verfolgen, sich Berichte von Spukhäusern anhören, selbsternannte Medien wie das der Haunt Hunters entlarven, auf Kongressen Vorträge halten, Bücher schreiben … Was davon brachte ihn in Gefahr, ermordet zu werden?

»Hast du einen Fehler gemacht?«, fragte ich.

Der Tisch wäre beinahe umgefallen, fing sich aber und fiel zurück auf seine Ständerfüße. »Ja«, stellte Meisner fest.

Dann kippte der Tisch noch mal. »Also nein.«

»Wir kommen nicht drauf«, sagte Roswita auf ihre katzenniedliche Art. Sie legte sogar den Kopf mit den langen schwarzen Haaren schief. »Sag uns den Grund, lieber Geist.«

Die Buchstabenzählerei fing wieder an. Der Tisch schaukelte zügig. »… C, D, E …« Er tanzte regelrecht. Er machte Anstalten, uns davonzulaufen. Wir hatten Mühe, unsere Hände dranzuhalten.

»… I, J, K, L, M, N, O, P, Q …«

Was kann jetzt noch kommen?, fragte ich mich. Motiv mit R? Rache. Das hatten wir nicht gefragt. Doch schon war es vorbei. »… S, T, U, V.« Stillstand.

»V!«, rief Roswita.

Was fängt mit V an?

»Und weiter?«, forderte Meisner.

Diesmal blieb er bei E stehen.

Da hatte einer von uns eine klare Vorstellung, was gesagt werden musste. Oder hatten wir aus Verlegenheit den häufigsten Buchstaben gewählt, der alles offenließ? Der nächste Durchlauf landete bei R. »Ver…, Ver…«, murmelte Krautter.

»Verschwörung?«, fragte ich.

»Ja«, kippte der Tisch.

Das Ergebnis hatte jetzt ich vorgegeben. Interessant. Dabei war ich gar nicht der Typ, der die Truppen hinter sich scharte und auf ein gemeinsames Ziel einschwor. Ich kannte mich nur als Einzelgängerin. Ich war der Querschläger in jeder Runde. Meine Frage nach der Herrschsucht als Grundmotiv allen mörderischen Handelns hatte das Kollektiv ignoriert. Nicht verstanden.

»Verschwörung? Was für eine Verschwörung denn?«, fragte Meisner verärgert.

Hatte ich das Wort Kalteneck-Verschwörung an diesem Abend gebraucht? Nein. Den Titel hat die Angelegenheit erst später von der Presse bekommen. Damals dachte noch niemand an eine Verschwörung. Man hatte Juri Katzenjacob verhaftet, den Malergesellen mit emotionalen Defiziten und perversem Interesse für blutige Leichen. Oder wusste einer in der Runde mehr? Andererseits dachten wir immer gleich an Verschwörung, wenn etwas aus dem Ruder lief.

Der Tisch kippelte herum und blieb plötzlich stehen. Niemand hatte mitbuchstabiert. Doch, einer: Richard. »N«, sagte er.

Ich war erleichtert. Also war ich es nicht, die hier insgeheim lenkte.

Der nächste Buchstabe war wieder ein E, das alle Optionen offenließ. Der dritte lautete U.

»Neu«, sagte Krautter.

Der Tisch nahm seine Sprünge wieder auf. Ich hörte kaum hin.

»S!«, rief die Runde.

Dann kam ein C, schließlich das H.

Ein kalter Windstoß riss an Roswitas langem schwarzem Haar, die junge Staatsanwältin fröstelte plötzlich in ihrem roten Busenwunder, und ich hörte jemanden – und es war keiner von uns – wispern: Neuschwanstein.

Der Tisch schien nun außer Rand und Band. Er hüpfte uns fast unter den Händen fort. Meisner lachte. Aber das beeindruckte ihn nicht. Er war in Fahrt und nicht zu bremsen, und bis zum W war es weit. Warum wunderte es mich nicht? Und die andern kamen immer noch nicht drauf.

»Neuschwwwww…«

Ein Kippler.

»A!«

Da geschah es. Im Augenwinkel sah ich einen Lichtblitz. Es knallte. Enten flatterten auf und schnatterten. Ich spürte, wie Richard neben mir zusammenzuckte. Ein Glas auf der Brüstung zerplatzte, Krautter, der der Brüstung am nächsten stand, sprang beiseite, Scherben klirrten.

Ich hörte uns atmen. Es war da, das Grauen. Wie das Kind fühlte ich mich, das mit einer Freundin einst in Todesangst im Gebüsch bei der alten Fabrik gehockt hatte, von der es hieß, dort lebe ein Landstreicher, der Kinder stehle und ermorde.

»Habt ihr das auch gesehen?«, fragte Roswita leise.

»Puh! Was war das?«, sagte Meisner mit zittriger Stimme.

Ich sprang ans Geländer. Dort ging es einige Meter hinunter. Der See plätscherte an der Treppe mit den Booten. Ich lauschte. Irgendwo beschleunigte ein Auto.

»Der See war plötzlich ganz hell«, flüsterte die junge Staatsanwältin hinter mir. »Und auf der Insel zwischen den Bäumen, da war was, eine Gestalt, riesenhaft. Ich habe es ganz deutlich gesehen.«

Krautter hatte nur den Knall gehört, den er als Fehlzündung vom Parkplatz her zu interpretieren suchte, was allerdings nicht überzeugt klang, weil seine Stimme wackelte. Meisner behauptete, es hätte ausgesehen wie ein Kugelblitz. »Er stand rechts neben der Insel.«

Roswita widersprach mit gellender Stimme: »Nein, es war da drüben, wo die Boote liegen. Es ist senkrecht in den Himmel gestiegen. Rosenfelds Geist.«

»Hast du auch was gesehen, Richard?«, fragte Meisner.

Und zu meinem Erstaunen zitterte sogar Richards Stimme. »Es hat geknallt, dann war irgendwo ein Licht. Vielleicht ein Scheinwerfer auf der anderen Seeseite.«

Aber wieso war auf der Brüstung ein Glas zersprungen? Es war Richards Glas, das mit der Apfelsaftschorle.

»Jetzt brauch ich einen Schnaps!«, rief Meisner.