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Am Freitag stand im Stuttgarter Anzeiger, den Richard sich mit Brötchen zum Frühstück geholt hatte, während ich noch schlief, ein Fünfzeiler über den Brand, den der Spätredakteur kurz vor Andruck noch in die Lokalausgabe hineinbekommen hatte. Bilanz: ein Schwerverletzter, Sachschaden von über 200 000 Euro, der Laden völlig ausgebrannt, das Haus unbewohnbar. Die Brandsachverständigen ermittelten. Keine Erwähnung fand, dass es die Veranstaltung einer gewissen Lola Schrader gewesen war, die Feuer gefangen hatte.

Bereits am Samstag quollen die Zeitungen, auch die überregionalen, die mein Tabakladen verkaufte, über von Nachrufen auf die Buchhandlung Ursprung. Eine Institution sei verschwunden, eine Instanz vernichtet. Wo der Geist der Dichter und Denker wehte, wo die Avantgarde, wo Max Bense, Reinhard Döhl und Helmut Heißenbüttel ihre Heimat gehabt hätten, klaffe jetzt ein rußiges Loch. Die taz titelte auf der ersten Seite »Gebrandschatzt« und bildete einen qualmenden Bücherberg aus Nazizeiten ab. Daneben ein Foto von Durs Ursprung mit dem unergründlichen Lächeln. Im Artikel kam ein Zeuge zu Wort, ein Verleger, der über Durs Ursprung sagte: »Einer, der nicht liest, was er einkauft, es anschließend hortet und ungern verkauft, ein solches Trüffelschwein ist und dabei seiner Buchhandlung die Aura verschafft hat, eine der besten der Republik zu sein. Denn das ist sie! Eine wunderbare Figur der Literaturvermittlung, ein aktiver Döblin’scher Schornsteinfeger, ein Katalysator sui generis.«5

Soso, dachte ich, Durs Ursprung liest gar keine Bücher. Folglich hätte er niemals entdecken können, was in Schloss und Fabrik noch steckte.

Mein Tabakhändler, bei dem ich die Zeitungen durchblätterte, schüttelte den Kopf. »Hätte man den kennen müssen? Na ja, Kultur!« Der Händler lachte hinter seinem Bollwerk aus Bild, Spiegel, Focus, Neue Frau, Petra, Brigitte, Bild der Frau, Auto-, Eisen- und Heimwerkermagazinen und Lotto-Spielscheinen. Ich nahm nur den Stuttgarter Anzeiger mit.

»Wir werden neu anfangen«, behauptete der Sohn Ruben Ursprung. Ohnehin sei es dem Laden in letzter Zeit nicht gut gegangen. »Ein überlebtes Konzept.«

Hinterm Hauseingang feudelte Oma Scheible Ecken und Treppen.

»So, hen sie dem jetz’ endlich de Lade abfackelt!« Mit krachenden Wirbeln richtete sie sich auf, soweit sie das noch konnte.

»Wer sie?«, fragte ich.

»Des tätet Sie gern wisse, gell?«

»Schon!«

»Ich kenn den Durs, da war er noch so!« Die Alte hielt die knorrige Hand in Hüfthöhe, was etwa meiner Kniehöhe entsprach. »Der kommt aus Gablenberg, wo ich auch herkomm. ’s war’en rechter Lausbub. Die Buchbinderlehre hat er abbroche! Lange Haar hot er g’het, zu dene Linke isch er gange. Die arme Eltere! Der Vadder hot ja dann mit seiner Fabrik für Hoseknöpf ein Vermöge g’macht.«

»Und wer hat ihm den Laden abgefackelt?«

»Des war sicher der Horscht und seine Blase. Dem hot er nämlich d’Freindin ausg’schpannt, und dere hot er na an Kind andreht, den Ruben.«

»Das dürfte lang her sein. Ruben ist jetzt sicher vierzig Jahre alt.«

Oma Scheibles graue Augen eierten etwas verunsichert. »So? Na, der Durs. Mit dem hot’s koine lang ausg’halte. Der hot’s nur mit dene Büecher g’het. Schaffe, schaffe. Ja, fleißig isch er g’wähe. Wie dere … wie hoißt der gleich, der Kerle aus’em Fernsehe, wo se verhaftet hen. Emmer in der Weltg’schicht drommenom und Weiber wie Finger an der Hand.«

»Sie haben ja so was von recht, Frau Scheible.«

Mit der Zeitung stieg ich aus dementer Vergangenheitsbewältigung hinauf in die Gegenwart, schlürfte Kaffee und schaute dem Regen zu, der jenseits der Fenster stetig von oben nach unten fiel.

Warum hätte ein Brandstifter, der in den Laden huschte und dabei die Türglocke bimmeln ließ, bis nach hinten durchgehen sollen, um hinter der Kassentheke ein Feuer zu entfachen? Schneller hätte er die Bücher im vorderen Bereich angezündet. Dazu hätte er am besten eine Brandflasche – auch Molotowcocktail genannt – benutzt. Tuch im Flaschenhals anzünden, reinwerfen, wegrennen. So schnell hätte Ruben gar nicht die Treppe hinaufspringen können, um von ihm noch einen Zipfel der Kapuze zu sehen. Die Kapuze, die er gesehen zu haben vorgab, existierte nicht, jede Wette. Ruben Ursprung hatte das Feuer selbst gelegt. Nur so konnte man diesen Vater dazu bringen, sein Ladenkonzept endlich zu überdenken.

Und hinter der Theke hatte er es entfacht, damit wir noch eine Chance hatten, den Laden zu verlassen. Gegen ein Feuer im vorderen Bereich hätten wir nicht anrennen können. Es hätte Tote gegeben. Doch warum zum Teufel hatte Ruben sich überhaupt einen Abend ausgesucht, an dem im Keller Leute hockten? Weil er hoffte, damit den Verdacht von sich ablenken zu können.

Andererseits war Lola Schraders Vater als Letzter vor Beginn der Lesung die Treppe herabgekommen. Und dann war da auch noch dieser gesichtslose Helfer gewesen, der mit mir zusammen den verletzten Matthias Kern aus dem Laden geschleppt hatte.

Hm.

Ich suchte in meinem Handy die Nummer, die Matthias Kern angerufen hatte. Es meldete sich eine nörgelige Frauenstimme. Ich stellte mich als diejenige vor, die ihren Freund nach dem Brand betreut hatte, und erkundigte mich gesittet, wie es ihm gehe und ob ich ihn besuchen könne. Er lag mit zusammengeschraubtem Oberschenkelhals im Katharinenhospital. Da würde er vermutlich noch länger liegen. Ein guter Grund, den Krankenhausbesuch zu verschieben. Andererseits bohrte die Leerstelle, die der Helfer hinterlassen hatte. Ich hatte ihn gesehen, vermutlich mit ihm geredet und dennoch kein Bild von ihm. Ich hätte nicht einmal beschwören können, dass es ein Mann gewesen war, wenn ich daran auch eigentlich keinen Zweifel hatte.

Ich zwang mich. Das Katharinenhospital war nach all den Umbauten nicht mehr dasselbe, in dem ich vor einem guten Dutzend Jahren mit zertrümmertem Knie und Scherben im Gesicht gelegen hatte. Vor der Tür standen mit Infusionsbäumen, Verbänden und Krücken die Raucher. Der Weg zur Orthopädie war ganglang und fahrstuhlweit. Wagen mit Kaffeekannen standen in den Gängen, Schwestern raschelten in Gummipuschen übers Linoleum. Erinnerungen huschten unter den Türritzen hervor. Die mit Adrenalin und Schmerzopiaten gemischte Sorge überfiel mich wieder, ob es mir gelingen würde, in die Welt zurückzukehren, und zwar auf zwei Beinen, die mich trugen.

Ich betrat ein Vierbettzimmer mit einer halben Wand in der Mitte. Rechts lag unter weißen Decken ein Halbtoter mit offenem Mund. Zu alt. Ein Dicker starrte mit Kopfhörern auf den Ohren auf ein Fernsehdisplay am Schwenkarm seines Nachttischs. Der auch nicht. Aber links am Fenster schlief einer mit einem Laptop auf den Knien. Die blutgefüllten Flaschen der Drainage hingen unter dem Bett, Krücken klemmten in den Halterungen. Das musste er sein.

Matthias Kerns Schlafgesicht war weich wie das eines Kindes. Sein Lächeln war nach dem ersten Schrecken freundlich und offen.

»Wir sind uns bei Ursprung begegnet«, stellte ich mich vor. »Ich habe Sie aus dem Laden geschleift.«

»Ach ja«, sagte er. »Das ist aber nett, dass Sie mich besuchen. Ich habe immer wieder an Sie gedacht. Vermutlich verdanke ich Ihnen mein Leben.«

»Nur zufällig und keiner bewussten Entscheidung.«

»Leider habe ich Sie vor lauter Aufregung nicht nach dem Namen gefragt.«

»Lisa Nerz.«

»Ah! Die Lisa Nerz?«

»Welche?«, fragte ich blöde.

»Schwabenreporterin Lisa Nerz! Ich lese sonntags immer Ihre Rubrik ›Käse und Spatzen‹. Sie schreiben zwar, dass es der Sau graust, wirklich! Sie haben nie Journalismus gelernt, nicht wahr? Aber es hat was. Und wenn sich mir wieder mal die Zehennägel aufstellen, sage ich mir, dass Sie sich vermutlich nur über uns lustig machen.«

Richard interpretierte das nie so nett.

»Und Sie sind auch vom Fach?«, erkundigte ich mich. »Nein, Verzeihung! Sie sind Journalist, ich ja nicht.«

Er lachte fröhlich. »Von irgendwas muss man leben. Eigentlich bin ich Blogger, Internetverleger und … Autor. Aber fragen Sie jetzt bitte nicht, was ich so schreibe. Sie haben es bestimmt nicht gelesen. Sonst …«, sein Gesicht wurde zwanzig Jahre älter, »sonst wären Sie nicht zu dieser unsäglichen Veranstaltung gegangen. Warum ich mir das angetan habe, weiß ich auch nicht. Ich hätte auf meine Freundin hören sollen. Du regst dich nur wieder unnötig auf. Und das hier hätte ich mir auch erspart. Aber ich wollte einfach wissen, was sie für eine ist.«

»Lola Schrader?«

»Wie viel hat der Vater dem Verlag wohl bezahlt, damit die das Buch drucken? Und was kann sich ein kleiner, im Grunde bürgerlicher Verlag wie Yggdrasil davon versprechen?«

»Was ist denn so katastrophal an dem Buch, wenn ich mal fragen darf?«

Matthias seufzte. »Man kann Lola Schrader nicht nachsagen, dass sie nicht schreiben könnte. Es klingt alles ganz gut, ganz professionell. Und viel besser als ihre ersten Versuche in diesem Blog für pubertierende Mädchen. Das mag allerdings daran liegen, dass alles, was im Buch steht, auch schon woanders steht.«

»Sie meinen …«

»Es ist alles zusammengeklaut! Das meine ich.«

»Abgeschrieben?«

»Eine Siebzehnjährige und all die Kokainlines, können Sie sich das vorstellen? Dass sie Tilidin säuft wie ein türkischer Diskoschläger und mit einer Horde Vergewaltiger durch die besetzten Häuser von Freiburg tourt?«

»Vorstellen kann ich mir alles! Man muss ja nicht alles erlebt haben, was man beschreibt.«

Matthias ließ sich ins Kissen sinken. »Weiß Gott nicht. Man kann es auch einfach irgendwo abschreiben. Generation copy and paste, verstehen Sie? Jetzt sagen Sie, Döblin hat auch Fremdtexte verwendet. Collage und Simultaneität. Ja. Aber da erkennt man, dass es Schlagerzitate sind, zum Beispiel. Und es dient einer Aussage. Welt stürmt auf den Protagonisten in Form solcher Worte, Sätze, Phrasen ein, droht ihn zu überwältigen. Und das Cento …«

 

Ich grummelte.

»Das Flickengedicht, Cento von altgriechisch Kentron – mit Omega –, was Flickwerk, elender Mensch, Spitzbube bedeutet, das war ein Spottgedicht, das man aus zerstückelten Zitaten neu zusammengesetzt hat, damit sich ein neuer Sinn ergibt. Die Zuhörer kannten die Zitate. Ja, man kann immer Fremdtexte benutzen – Zeitungsartikel, Werbung, Gedichte, Lexikonartikel –, auch ohne Anführungszeichen zu setzen und eine Quelle anzugeben. Aber dann muss es der Leser erkennen können, beispielsweise, weil sich aus der Konfrontation eines Gefühls, das der Protagonist hat, mit einem Schlagertext, den alle kennen, ein Verfremdungseffekt ergibt, eine Überraschung, eine neue Erkenntnis, verstehen Sie.«

»Ich kann folgen.«

»Jetzt könnten Sie einwenden, Thomas Mann, Die Buddenbrooks, kennen Sie, ja?«

Ich nickte und schüttelte den Kopf. »Ich werde nichts einwenden.«

Matthias lächelte. »Der hat alles Mögliche in seinen Roman geflickt, seitenweise aus Lexika abgeschrieben, und niemand regt sich darüber auf, obgleich man es nicht merkt, zumindest heute nicht mehr nach über hundert Jahren.«

»Die Zeit heilt alle Wunden!«

»Ungefähr so, jede Blütezeit der Literatur basiert auf der Kraft und Unschuld ihrer Plagiate! … Leider nicht von mir. Wir zwei, Frau Nerz, wir sprechen uns in vierzig Jahren wieder. Und wenn diese Schrader dann mit zehn ordentlichen Romanen ihr herausragendes literarisches Talent bewiesen hat, dann … dann nehme ich alles zurück. Dann war’s Kunst, nicht Raub!«

Ich ahnte, dass es das gewesen war, was er hatte anmerken wollen, als das Feuer ausbrach. »Und von wem hat sie nun abgeschrieben?«

Matthias deutete auf den Laptop, bei dessen warmem Rauschen er eingeschlafen war. »Ich bin gerade dabei, die wichtigsten Belege zusammenzustellen. Leider fehlt mir hier ein Zugang zum Internet. Aber über kurz oder lange werden Sie von mir hören, oder besser: lesen.«

»Da bin ich mal gespannt. Was anderes, Herr Kern. Dieser Typ, der mir und Ihnen geholfen hat, aus der Buchhandlung rauszukommen …«

Er schaute mich an. »Ja?«

»Wissen Sie, wer das war?«

»Ich dachte, das sei Ihr Freund oder so. Er war dann plötzlich weg.«

»Erinnern Sie sich, was das für einer war? Jung, alt, Spiderman?«

Matthias lachte. »Sie stellen Fragen! Ich habe echt nicht viel mitgekriegt. Er war besorgt. Freundlich. An die Haarfarbe erinnere ich mich nicht, vermutlich irgendwas zwischen blond und schwarz, eher schwarz. Ich weiß es wirklich nicht. Was ist mit ihm?«

»Er hat Ihnen das Leben gerettet. Mit mehr bewusster Absicht als ich. Er kam nämlich von draußen rein und hat mir geholfen.«

»Hm. Vielleicht möchte er unerkannt bleiben.«

Ich gab Matthias Kern meine Karte, auf der nur meine Handynummer stand. »Vielleicht wollen Sie ja mal ein Bier trinken gehen, wenn Sie wieder raus sind.«

7

Am Wochenende hatte ich was anderes zu tun. Montag früh rief ich Rudolf Wagenburg an, einen meiner Ex-Kollegen beim Stuttgarter Anzeiger, und erkundigte mich, was die Brandsachverständigen der Feuerwehr herausgefunden hatten. Der routinemäßigen Pressemitteilung der Polizei zufolge hatte man eine Chemikalie an der Stelle gefunden, wo das Feuer seinen Ausgang genommen hatte.

»Was für eine Chemikalie?«

»Wozu willst du das wissen?«, fragte Rudolf.

»Ich saß unten im Keller bei der Lesung, als es passierte.«

Der alte Reporter lachte tief aus seinem Trollingerbauch heraus. »Wie schaffst du das nur immer? Unsereiner muss erst hinfahren, und du bist immer schon da, wenn was passiert.«

»Wer nicht rausgeht, den bestraft das Leben, Rudolf! Musst halt dein Pressehaus mal verlassen.«

»Wenn ich es verlasse, stehe ich im Stau.«

»Übrigens, Durs Ursprungs Sohn Ruben hatte ein vitales Interesse daran, dass der Vater den Saustall dichtmacht und er woanders einen überlebensfähigen Buchladen aufziehen kann. Aber ich weiß nicht, wie er es gemacht hat.«

»Hm«, machte Rudolf. Als erfahrener Journalist wusste er, wo eine Geschichte steckte, aber auch, wie schwierig es war, sie pressereif zu machen. Die meisten guten Geschichten fanden nie den Weg in die Öffentlichkeit, weil sie ohne Beweise reiner Rufmord gewesen wären oder den Tod des Journalisten bedeutet hätten, zumindest beruflich. In so einer Situation war ein Freelancer wie ich einem Journalisten wie Rudolf mit festem Stuhl und Tisch im Pressehaus nützlich. Ich trug das Risiko, er erntete die Lorbeeren, falls meine Recherchen zu einer druckreifen Geschichte führten.

»Und deshalb«, lockte ich, »wäre es interessant zu wissen, um welche Chemikalie es sich handelt. Es müsste eine sein, die sich nach einer gewissen Zeit, etwa nach einer Stunde, selbst entzündet.«

»Ich ruf mal bei der Polizei an«, beschied Rudolf. »Ich melde mich dann wieder.«

Hatte, fragte ich mich, Ruben eigentlich ebenso wie ich beobachtet, wie Richard das wiederentdeckte Buch in einen der Stapel zurückschob, während die Schraders und der Verleger einliefen? Und wer war zu diesem Zeitpunkt noch im Laden gewesen? Ich hatte zwar niemanden wahrgenommen, aber das musste nichts heißen. Ich hatte auf sehr wenig geachtet an diesem Abend.

Ich nahm das Hybridbuch vom Kneipentisch, wo es seit Donnerstagnacht lag. Als ich es aufschlug, hörte ich mit leisem Knistern die Blätter sich voneinander lösen. Oft war es seit dem Einschuss noch nicht aufgeschlagen worden. Die Kugel hatte das hintere Drittel des Bandes durchschlagen und war als Knubbel noch bis zur Mitte auf den Seiten zu fühlen.

Nur mal angenommen, das Buch wäre der eigentliche Grund für den Brandanschlag gewesen. Womöglich konnte es heute noch jemandem gefährlich werden, einer Marie Küfer, die jetzt Ehefrau einer bekannten Persönlichkeit war, oder Wolfi, der gerade irgendwo eine Wahl gewinnen wollte.

Die Seiten mit dem altertümlichen Textmuster waren gelblich und glatt. Wenn man mit den Fingerspitzen darüberfuhr, spürte man die Eindrücke der Buchstaben vom Druckstock à la Gutenberg. Manche Bücher in meiner Schulbibliothek hatten sich auch noch so mechanisch angefühlt. Die Fremdtexte befanden sich in zwei Lagen ziemlich genau in der Mitte. Ihr Papier war rauer und eng betippt. Bei geschlossenem Buch waren die fremden Lagen übrigens kaum zu erkennen, denn es gab … wie nannte man das? Meine Mutter hatte eine Bibel mit dem besessen, was sie Goldschnitt genannt hatte. Gemeint war damit, dass die Schnittkanten des Buchblocks vergoldet gewesen waren. Gold war es hier nicht, aber ockergelbe Farbe. Ich brauchte dringend einen Buchbinder, der mir die wahren Geheimnisse dieses Buchs erklärte. Durch Blättern kam ich nicht darauf.

Wenn auch – das stand fest – das Buch nicht der Grund für die Brandstiftung gewesen sein konnte. Falls Ruben oder irgendwer anders beobachtet hatte, wie Richard Schloss und Fabrik zurück in den Stapel steckte, hätte er es genauso wie ich herausnehmen und anderweitig entsorgen können.

Verworfen! Aber gut, dass wir darüber nachgedacht haben.

Und dennoch … Nehmen wir an, der Beobachter von Richards Aktion hätte nicht bemerkt, wie ich das Buch hinter Richards Rücken an mich nahm. Er konnte später, als wir alle unten im Keller saßen, danach gesucht, es aber nicht gefunden haben. Zum Beispiel Michel Schrader, der sehr spät in den Keller herabgefußelt gekommen war. Allerdings war er ein bisschen zu jung für eine autobiografische Beziehung zu den 68ern. Genauso wie Ruben Ursprung.

Wäre es mir aufgefallen, wenn der unbekannte Helfer älter als fünfzig gewesen wäre? Hätte Matthias Kern ihn dann für meinen Freund gehalten? Na gut, warum nicht. Richard war auch über fünfzig.

Richard! Er hatte eine Beziehung zu dem Buch. Aber er hätte kein Feuer gelegt. Immerhin kannte er die damaligen Personen höchstwahrscheinlich in ihrer heutigen Gestalt. Die rätselhafte Marie Küfer war seine erste große romantische Liebe gewesen. Nur dass sie in ihm natürlich nicht den Mann gesehen hatte, der er in seiner eigenen Vorstellung gewesen war, ein Thalheim, ein Ehrenmann in verzweifelter Lage, der Einzige, der sie selbstlos liebte, sondern vermutlich ein geschlechtsloses Ding zwischen Mädchen und Pickelbub. Heute allerdings konnte er ihr beweisen, dass er immer Thalheim gewesen war, indem er ihr den Dienst erwies, das verräterische Buch zu vernichten. Was auch immer es verriet.

Und ein Buch vernichten heißt: es verbrennen. Das ist nicht nur ein symbolischer Akt. Es mindert auch das Risiko, dass es ein anderer für sich entdeckt, beispielsweise im Hausmüll auf dem Weg zur Müllverbrennung. Wie schwierig andererseits die individuelle Buchverbrennung ist, hatte Richard uns in Ursprungs Laden geschildert. Es wäre für ihn heute nicht leichter gewesen als damals, denn er gehörte nicht zu den Menschen, die sich das eigene Heim mit einem Kamin gemütlich gemacht hatten.

Also hatte er das Buch in den Stapel zurückgesteckt und …Alles Käse mit Spatzen! Und dennoch waren wir extra eine Dreiviertelstunde zu früh dort gewesen, damit er in aller Ruhe – den Bücherfreund vorgebend – nach diesem Buch suchen konnte, das sich dann sehr schnell eingefunden hatte. Und womöglich enthielt dieses Buch etwas, von dem er uns nichts erzählt hatte, etwas ungeheuerlich Entlarvendes, etwas Brandaktuelles, das jemandem das Genick brach, einem Wolfgang oder Wolfram Soundso, Ehemann von Marie Küfer, der heute Bundespräsident war …

Der hieß allerdings derzeit Horst.

Also alles Unsinn!

Richard hätte das Buch ja wirklich auch nur stillschweigend einstecken müssen, um es später woanders zu verbrennen. Oder zu schreddern! In Schnipsel zerreißen, dem Wind übergeben. Es war definitiv möglich, ein Buch zu vernichten, ohne einen Buchladen abzufackeln.

Ich atmete aus. Lisa Nerz, du musst nicht allen Menschen alles zutrauen. Irgendwo liegt die Grenze zwischen Lebenserfahrung und Misstrauen.

Nur wo? Bitte!