Buch lesen: «Die illegale Pfarrerin»

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Über dieses Buch

Am 13. September 1931 tut das Bündner Bergdorf ­Furna ­etwas, was zuvor noch keine Gemeinde der Schweiz gewagt hat. Es wählt eine Frau zur Pfarrerin: Greti Caprez-Roffler, 25 Jahre alt, Theologin und ­Mutter. Ein Skandal, der bis nach Deutschland Schlagzeilen macht. Nach ihrem Tod ­begibt sich die Enkelin auf die Spuren der ersten vollamt­lichen Schweizer Gemeindepfarrerin. Sie stösst auf die aussergewöhnliche Emanzipationsgeschichte einer Frau, die für sich in Anspruch nahm, was damals für viele ­undenkbar war: ihrer Berufung nachzugehen, Mutter zu sein, eine glückliche Liebe und eine erfüllte Sexualität zu leben. Eine Frau, deren Mut einen hohen Preis hatte – nicht nur für sie.

«Das facettenreiche Porträt einer Schweizer Pionierin, geschrieben mit ­literarischem Einfühlungs­­­vermögen. Spannend wie ein Roman.» Angelika Overath


Foto SRF

Christina Caprez, geboren 1977, Soziologin und Historikerin, war Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin. Radio-, Film und Buchprojekte sowie Moderationen im Bereich Familie, Migration, Religion, Geschlecht, Sexualität. Im Limmat Verlag ist das Buch «Familienbande. 15 Porträts» lieferbar. Christina Caprez lebt bei Zürich.

Parallel zum Buch «Die illegale Pfarrerin» hat Christina Caprez eine Hörausstellung für Kirchenräume und einen Dokumentarfilm über das Leben ihrer Grossmutter geschaffen. Informationen rund um das Projekt, zu Lesungen und Ausstellungsterminen, finden sich auf www.dieillegalepfarrerin.ch.

Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin

Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906–1994

Herausgegeben vom

Institut für Kulturforschung Graubünden

Limmat Verlag

Zürich

Für Flavia

1906–1931
Igis, Zürich und
São Paulo
Hand in Hand in die Weite hinausziehen. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.

Greti Roffler an Gian Caprez, 1. Januar 1928


São Paulo,
Sommer 1930

Nackte Wände, der Boden festgetreten und kahl. Niemand ­kümmert sich um Blumenbeete in diesem Hinterhof im Zentrum von São Paulo. Lediglich eine improvisierte Wäscheleine und ein Holzklappstuhl. Darauf sitzt Greti Caprez, geborene Roffler, Theologiestudentin aus Igis in Graubünden, 24 Jahre alt. Hinter der Kamera? Vermutlich Gian Caprez, Ingenieur aus Pontresina, 25-jährig. Mit ihm, den sie ihren Ehekameraden nennt, ist sie vor zehn Monaten nach São Paulo gekommen. Er hat eine Stelle am Polytechnikum angetreten, sie lernt für ihr Schlussexamen und führt den gemeinsamen Haushalt. Das Bild ist im Hof der Pension Helvetia entstanden, wo die beiden unter der Woche zu Mittag essen.1 Sie sitzt etwas gebeugt auf der vorderen Stuhl­kante. Auf ihrem Schoss? Möglicherweise ein Hemd von ihm, das sie flicken will, und ein Heft mit Notizen aus dem Studium. Auf jeden Fall würde es zu ihr passen, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Arme und Wangen wirken nicht so schmal wie auf ­früheren Fotos: Sie ist schwanger. In wenigen Tagen wird sie ­allein auf einen Ozeandampfer in Richtung Europa steigen, um in ­Zürich ihr Schlussexamen abzulegen und danach bei ihren ­Eltern im Pfarrhaus von Igis ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Ihr Mann bleibt bei seiner Arbeit am Polytechnikum in São ­Paulo.

Schwanger über
den Ozean

Ein Koloss, diese Conte Rosso!2 Aus den zwei haushohen Schornsteinen des Luxusdampfers strömte Rauch, und die Turbinen dröhnten. Im Schiffsbauch mit den vier Flügeln3 hätte die ganze Bevölkerung von Igis4 Platz gefunden, sogar mit den Arbeitern des rasch wachsenden Dorfteils Landquart. Stünde umgekehrt die Conte Rosso in Igis, so verstopfte sie die Gasse, vom Pfarrhaus bis zum Dorfplatz, und risse nebenbei noch ein paar Häuser ein, denn die Gasse war eng und das Schiff breit.5 Das prunkvolle Innenleben, gestaltet von Künstlern aus Florenz, hatte allein vierhundert­tau­send Dollar gekostet. Kristallleuchter verströmten ein dezentes Licht, schwere Teppiche dämpften die Schritte, und zwischen handgeschnitztem Täfer aus Eiche und Mahagoni, an dem Ölbilder hingen,6 flanierten die Passagiere wie in einem italienischen Schloss. Pfarrerstochter Greti Caprez-Roffler mochte ein ähnliches Ambiente als Kind in Marschlins gesehen haben, das etwas abseits vom Dorf Igis lag. Schlossherr Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, jahrelang Kirchgemeindepräsident7, pflegte einen guten Kontakt zum Ortspfarrer und empfing die Pfarrfamilie ab und zu.8

Greti Caprez-Roffler interessierte sich jedoch weniger für pompöse Dekorationen als für die feudalen Mahlzeiten und ihren Platz im Liegestuhl auf dem Deck der zweiten Klasse. Essen mag ich fürchterlich, und arbeiten kann ich auch gut,9 berichtete sie der Mutter. Die täglichen Menus kamen ihrem Appetit entgegen: Horsd’œuvre, Austern, Ragout und Kartoffeln, Wurst und Kartoffelbrei, Emmentaler Käse, Aprikosenkompott, Orangen und Äpfel, Kaffee oder Tee.10 Ein feudaler, glänzender Frass, spottete sie im Brief nach Igis.11 Nach dem Mittagessen spielte im Salon eine Musik­kapelle auf, doch sie verkroch sich in den Liegestuhl hinter ihre Bücher und hoffte, es möge niemand das Gespräch mit ihr suchen.12 In den zwei Wochen bis zur Ankunft in Genua musste sie vier Jahre Theologiestudium vergegenwärtigen, Altes Testament, Neues Testament, Dogmatik, Ethik, praktische Theologie, Pädagogik und Psychologie.

Jeden Tag stellte Greti die Uhr eine Viertel- bis eine halbe Stunde vorwärts.13 Wie sich der Zeiger nach vorne drehte, so rückte Gian weiter weg. Es war Ende September 1930, seit der Hochzeit vor einem Jahr waren sie nie mehr als ein paar Stunden getrennt gewe­sen. Wann sie sich wiedersehen würden, war ungewiss. Und doch fühlte sich Greti innerlich gefasst.14 Die übliche Rastlosigkeit war einer Gelassenheit gewichen, über die sie sich selber wunderte und die sie dem Kind zuschrieb. Wer nichts davon wusste, konnte ihren Bauch auch jetzt noch übersehen. Sie selber spürte «es» ­jedoch genau und wandte sich im Tagebuch an ihr Kind: Du ­geliebtes, kleines Wesen. An meines Mamis Geburtstag15 hast Du Dich zum ersten Mal ganz leise und sacht bewegt.16 Wie wenn ein Fisch mit der Schwanzflosse schlägt.17

Ursprünglich hatte Greti mit dem ersten Kind länger warten wollen. Während des Studiums hatte sie sich ausgemalt, zuerst den Abschluss zu machen und dann mit dem Liebsten die Welt zu entdecken. Hand in Hand in die Weite hinausziehen, auf eigenen Füssen stehen und miteinander durch Not und Mangel, den Kampf ums Leben hindurchgehen. Und dann so nach fünf Jahren wiederkommen, im ­Herzen reich, mit der Menschen Not und Sehnen mitfühlend und innerlich frei geworden, dann sich einen festen Wohnsitz gründen und Kindern das Leben geben, denen unsere reiche Erfahrung und Wissen um die Weiten der Welt zugutekommen würde. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.18 Doch bald war Greti klar geworden, dass die Eltern und Schwiegereltern dem ­jungen Paar niemals ihren Segen geben würden, wenn sie unver­heira­tet ins Ausland gehen wollten. Ohnehin hatte sie zäh um ihre Liebe kämpfen müssen. Ihr Vater, der Pfarrer, hatte sie zu seiner Nachfolgerin bestimmt, und seit Gian am Horizont aufgetaucht war, sorgte er sich, die Tochter könnte die Theologie der Liebe ­opfern. Gians Mutter wollte keine Studierte als Schwiegertochter, und schon gar keine Frauenrechtlerin.

Doch das Paar setzte sich durch. Als Gian nach Abschluss seines Studiums die Stelle in Brasilien in Aussicht hatte, rang Greti Eltern und Schwiegereltern die Erlaubnis ab, ihn zu heiraten und nach São Paulo zu begleiten. Dort mieteten sie zwei Zimmer mitten im Stadtzentrum bei einer deutschen Familie. Die Rua Xavier de Tole­do 9 lag eine Viertelstunde zu Fuss vom imposanten Bahnhof Estação da Luz entfernt, dem Symbol der Elite São Paulos, wo Kaffee und Zucker aus den armen Bundesstaaten des Nordens ange­liefert wurden.19 Noch näher lagen zwei grosse Baustellen. Hier entstan­den die neogotische Catedral da Sé und der Martinellibau, das erste Hochhaus Brasiliens. Die ersten zwölf Stockwerke waren soeben einge­weiht worden, auf dreissig Etagen sollte der Wolkenkratzer noch wachsen. Ingenieur Büchi, ein Schweizer, der mit Greti und Gian in der Pension Helvetia ass, baute für die Firma Schindler den Lift ein, der allein eine Million Schweizerfranken kostete. An einem Feiertag führte Büchi sie durch das Bauwerk. Während Gian seinen Ausführungen zu den technischen Details zuhörte, setzte sich Greti auf eine Kiste und vertiefte sich in ihr Psychologiebuch.20 Ihre Lust, die Welt zu entdecken, schwand, und plötzlich war ihr mehr nach Nestbau als nach Abenteuer. Gianin hatte eine Zeit lang die fixe Idee, in einer fremden Stadt hätte man abends die Stadt zu besehen, berichtete Greti den Eltern. Wir haben es dann auch versucht, es war aber schrecklich langweilig. Und nun finden wir es am schönsten daheim.21 Nach dem Abendessen schnitten sie eine Papaya22 auf, die Greti auf dem grossen Samstagsmarkt gekauft hatte.23 Solche Früchte hatten die beiden weder in Graubünden noch in Zürich je gesehen. Während sie abwusch, sass er auf dem Gutschi (Couch) in der Stube, las ihr vor oder spielte Handorgel. Wenn sie nicht zu müde waren, fragten sie einander Portugiesischwörter ab.24

Einmal pro Woche setzte sich Greti an die Schreibmaschine. Den Schwiegereltern schickte sie das Original, den Eltern den Durchschlag, das war praktisch. Sie inszenierte sich als gewissenhafte Hausfrau. Am Montag habe ich gewöhnlich ziemlich aufzuräumen und Kleider und Schuhe zu putzen. (…) Am Dienstag habe ich dann die ­Wäsche. Am Mittwoch ist (…) ein kleinerer Markt, mehr in der Nähe. Der Weg dahin geht stets durch einen wunderschönen Park. Am Donnerstag muss ich flicken, am Freitag Briefe schreiben (…).25 Sonntags besuchten sie den Gottesdienst,26 danach kochte Greti auf ihrer nur halbwegs funktionierenden Platte27 das Mittagessen. Vermutlich vor allem an den Vater gewandt, berichtete sie, dass sie trotz allem ­jeden Tag etwa fünf Stunden auf das Schlussexamen lerne: Ich habe schon ein Kollegheft und eine Ethik durchgearbeitet.28

Die deutschsprachige Exilgemeinschaft in São Paulo – Kaufleute, Bankiers, Ingenieure und Dienstmädchen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich – wuchs rasch, so dass sie eine eigene evangelische Kirche betrieb. Dort war Greti mit offenen Armen empfangen worden. Die Gemeinde hatte gerade einen zweiten Pastor eingestellt, den jungen Deutschen Martin Begrich, der zur gleichen Zeit wie Gian und Greti mit seiner Frau in São Paulo ange­kommen war.29 Die beiden Pastoren hatten der Schweizer Studentin nicht nur die Kinderlehre30, sondern sogar einen Gottesdienst an­vertraut. Am 27. April 1930 trat Greti erstmals vor die versammel­ten Auswanderer.31 Ihre Predigt verankerte sie im Alltag der brasilia­nischen Grossstadt, sie sprach von den zur Arbeit hastenden Menschen, vom Anblick menschlicher Schaffenskraft angesichts des Martinelliwolkenkratzers, von den Ablenkungen des Nachtlebens. So viele Kirchen stehen in dieser Stadt, wo aber bleibt das Christentum? Wir finden es am Morgen nicht, da jeder ohne Freude an seine Arbeit geht, am Mittag nicht, da der Mensch nur seine eigene Grösse sucht, und nachts nicht, da unsere Brüder und Schwestern Gottes Wege verkehren. (…) Und nun stehen wir an dem Punkt, an dem es ganz deutlich wird, was es heisst, ein evangelischer Christ zu sein, dem die Kirche nicht sagt, dies und das musst Du tun (…). Der evangelische Christ steht allein vor Gott und seinem Wort und hat selber zu entscheiden.32

In den Kirchenbänken hörten die beiden Pastoren Greti zu. Nach dem Gottesdienst schallte ihr aus der Gemeinde der Wunsch entgegen, sie möchte doch öfter Predigt halten. Voller Begeisterung schrieb sie ihren Eltern: Ich bin überzeugt, dass ich hier sehr oft predigen kann, wenn ich will. Auch meiner übrigen Mitarbeit wird kaum etwas in den Weg gelegt werden. Dass ich einen Rock anhabe, das spielt hier deshalb keine Rolle, weil sie keine Tradition haben. Deshalb sind hier viel mehr Dinge möglich als drüben. Sie beziehen ihre Kultur von drüben, und da braucht nur einer, in meinem Fall also einer der Pastoren, zu kommen und zu sagen, das hätte man drüben, dann haben sie nichts dagegen. Dass ich verheiratet bin, spielt vollends keine Rolle. (…) Seht ihr, dies ist es, dass ich eigentlich das Gefühl habe, ich von mir aus sollte eigentlich hier bleiben, für immer, hier kann ich voraussichtlich viel freier arbeiten als drüben.33 In Igis freute sich der Vater über Gretis Brief, und er zeigte sich tief beeindruckt über ihre Predigt: Sie war sehr textgemäss, dazu praktisch, d. h. aus dem Leben. Fahr nur so weiter. Ich habe diese Art nicht so bald los gehabt wie Du. Heute aber ­erkenne ich darin doch meine Tochter.34

Während sich Greti und Gian in ihren neuen Alltag einlebten, wuchs in ihr der Wunsch nach einem Kind. Sie fing an zu rechnen. Ihre Mutter zog sie als erstes ins Vertrauen.

São Paulo, 19. Dezember 1929

Mein liebes Mami

Heute komme ich nur zu Dir. Ich möchte nämlich vieles wissen, das die anderen nichts angeht. (…) Ich hätte gerne das Rezept von Dir, Punkto Buben oder Mädchen. (…) Es wird für Dich nicht sehr leicht sein, aber Deiner eigenen Tochter, die Du selber unter dem Herzen getragen, solltest Du es doch schreiben können. Du kannst ja die Geschlechtsorgane mit den lateinischen Namen bezeichnen, wenn es Dir dann leichter zu sagen geht.35

Igis, 15. Januar 1930

Mein liebes Gretulein!

Das Rezept zu schreiben wird mir eigentlich fast leichter als es Dir zu sagen. Wie Du aufgeklärtes Menschenkind ja weisst, hat der Mann zwei Hoden und nach der Aussage des Schierser Apo­thekers sollen im rechten die männlichen und im linken die weib­lichen Samen sein. Die Zeugung solle nach einer Pause im Geschlechtsverkehr, also am besten nach der Periode geschehen. Damit sich nun die rechte Hode entleere, müsse der Mann bei dem Akt, so bald er spüre, dass der Samen komme, schnell das rechte Bein aufziehen so fest er könne. Das ist also der ganze Witz. Ob’s bei uns nun tatsächlich half oder ob’s nur Zufall war, kann ich nicht sagen.36

São Paulo, 16. Februar 1930

Liebes Mami,

Gianin glaubt, es sei deshalb nicht möglich, weil die Samen gar nicht direkt aus der Hode kommen, sondern von dort zuerst auf ziemlich langem Wege in die Samenbläschen gelangen und von dort abgegeben werden. Anders ist es nur, wenn zwei, drei mal ein Coitus nach dem andern kam, so dass die Abschiebung aus der Hode in die Samenbläschen nicht nachkommt. Dies sind dann aber viel weniger oder gar nicht lebensfähige Keime. Deshalb die Impotenz derer, die es zu oft tun.

Stärker noch als die Bestimmung des Geschlechts interessierte sie der optimale Zeitpunkt für die Zeugung. Schritt für Schritt tastete sie sich bei der Mutter vor.

Greti: Wir erwägen ernsthaft den Gedanken, ob wir nicht Ende Januar 1931 ein Kind haben könnten. D. h. wir sehnen uns beide danach, und zwar möchten wir beide einen Buben. Eine Geburt muss hier sehr unange­nehm sein, in der Klinik sehr teuer, und mit den Hebammen ist es so eine Sache. Mein Plan wäre dann folgender:

Anfang Mai Zeugung (es wird dann schon grad gehen, wie wir wollen!)

Anfang Oktober Reise, Ende Oktober Examen.

Dann würde ich November, Dezember und Januar bei Euch sein und bei Dir mein Kind bekommen, mit Annas Schwester. Ende ­Februar würde ich dann reisen. Das Kind muss man dann vorher nur tüchtig wiegen, damit ihm die Meerfahrt gefällt, als fort­währendes Wiegen er­scheint.37

Mutter: Es ist dann eben noch sehr die Frage, ob’s dann grad so eintrifft, wie Du rechnest. (…) Ich hatte auch schreckliche Sehnsucht nach einem Pöpsli. (…) Trotzdem ging es bis in den November hinein, bis ich empfing. Wenn es nun bei euch auch so geht, macht’s Euch eben einen Strich durch die Rechnung.38

Greti: Du solltest mir nun auch schreiben, wie man dran ist, wenn man im sechsten Monat ein Kind erwartet, ob es ausgeschlossen ist, dann ein Theologieschlussexamen zu machen. Ich denke doch nicht. Unsere Frauen müssen im sechsten Monat noch heuen etc. Schreibe mir, liebes Mami, wie dies ist. Sag es aber niemandem. Und verbrenne meinen Brief.39

Mutter: Wenn Du nicht mehr Beschwerden hast als ich während der ­Erwartung (das Wort «schwanger» mag ich nicht ausstehen, trotzdem es der gewöhnliche Ausdruck der Ärzte ist, weil es mir so roh und ordinär vorkommt), wird es Dich gar nicht hemmen. (…) Aber Du könntest die Geschichte auch umkehren. Du machst das Examen nach der Geburt. Nur müsstest Du (…) das Kleine mitnehmen, um es in den Pausen stillen zu können. Ich oder ein anderes von uns könnten ja mit nach Zürich kommen um zum Kleinen zu sehen. (…) Das wäre sicher gescheiter; meinst nicht auch?40

Greti: Das Kind zuerst und dann das Examen, dies gibt es für mich nicht. Wenn das Kind dann schon da ist, dann langt mir dann weder die Energie noch die Zeit für eine intensive Examensarbeit.41

Mutter: Also Papa sagt, das sei unmöglich. Wenn’s etwa mit drei Monaten wäre, würde es noch besser gehen, dann wäre es weniger auffällig.42

Greti: Dass eine schwangere Frau doch nicht ein Examen machen ­könne, ästhetisch oder sittlich oder weiss ich was nicht, rührt mich gar nicht. Das geht die Professoren dann nichts an, ob ich als schwangere Frau ­Examen machen will oder nicht. Darüber gibt es zum Glück keinen Paragraphen. So was gibt es einfach nicht. Das ist noch nie da gewesen. Es würde mich aber schrecklich reizen. Die Frau «mit ihrem hohen, hehren Mutterberuf» macht just während der Schwangerschaft Schlussexamen. Welche Schändung «der göttlichen Schöpfungsordnung». (…) Wenn es nicht geht, verzichte ich lieber auf das Kind als auf das Examen.43

Greti musste auf nichts verzichten. Genau wie geplant wurde sie im Mai 1930 schwanger. Sie meldete sich sofort zum Schluss­examen an44 und kaufte für Mitte September eine Karte für die Überfahrt nach Europa. Und nun also lag sie mit ihren Büchern im Liegestuhl auf Deck. Während sie sich die grossen Theologen der Geschichte einzuprägen versuchte, brütete Gian in seinem Büro an der Escola Politecnica in São Paulo über der Frage, ob Eukalyptus als Baumaterial tauge. Liebes, Du, hatte er ihr am Tag nach ihrer Abreise geschrieben, wohl wissend, dass sein Brief sie erst Wochen später erreichen würde. Weisst Du, dass ich zum ersten Mal meiner Frau schreibe? Hast Du das mündliche Examen schon hinter Dir, die Überfahrt, den Zoll und das anvertraute Gut? Und «es», war es auch lieb zu Dir? Sag ihm, es soll so lieb zu Dir bleiben, wie Du es zu mir warst. Heute konnte ich gut arbeiten, und ich war so frisch, als hättest Du die «ganze Bürde meiner Jahre» mitgenommen und die grosse Verantwortung der Holzmesserei. Vielleicht ist es die Freude an Dir, dass Du nun dies alles unternimmst und Dich so glänzend gehalten hast.45

Zu ihrem 24. Geburtstag46 hatte Gian ihr ein besonderes Buch geschenkt,47 nicht etwa eine Prestigebibel, wie es sich für eine ange­hende Theologin geziemt hätte, sondern das Aufklärungsbuch der britischen Biologin und Frauenrechtlerin Marie Stopes Glückhafte Mutterschaft. Ein Buch für alle, die an der Zukunft schaffen. Stopes verband die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Schwangerschaft und Geburt mit einer feministischen Forderung. Die erwachte Frau unserer Zeit nimmt die Dinge nicht mehr blind und mit ­geduldiger Resignation hin; sie glaubt nicht mehr an die Inferiorität des Weibes, was unseren Grossmüttern geholfen haben mag, ihre Schmerzen schweigend zu ertragen.48

In solchen Sätzen erkannte sich Greti wieder. Kürzlich hatte sie einen Artikel von Hugo Sellheim gelesen, einem der renommier­testen Gynäkologen ihrer Zeit und Leiter der Frauenuniversitätsklinik Leipzig. Zwar war Sellheim kein Feminist wie Marie Stopes. Angesichts einer 24-jährigen Schwangeren wie Greti hätte er nur den Kopf geschüttelt, denn für ihn sollte jede Frau mit achtzehn oder spätestens zwanzig Jahren ein Kind gebären. Die Frau wird in unserem heutigen Leben zu alt für die erste Entbindung, weil sie selbst mit ihrer Ausbildung für einen Beruf zu viel zu tun hat und kein Mann da ist, der sie rechtzeitig heiraten und unterhalten könnte, schrieb der Leipziger Gynäkologe. Es bleibt also die Frauenkraft in Richtung ihrer natürlichen Verwendung für die Fortpflanzung brach liegen, oder sie wird in einer anderen Richtung – der Erwerbsarbeit – verwendet, also im Sinne der natürlichen Bestimmung «missbraucht».49 Dennoch wollte Sellheim den medizinischen Fortschritt in den Dienst werdender Mütter stellen. Gebärenden empfahl er eine Mischung aus Zuckerlikör und dem Schmerzmittel Scopan.50 Die Aussicht auf eine schmerzfreie Geburt faszinierte Greti so sehr, dass sie ihren Eltern verkündete: Ihr werdet Euch wundern, aber ich möchte (…) das Kind ohne Schmerzen kriegen, nicht weil ich mich fürchtete, dazu habe ich vorläufig noch keine Zeit, aber weil ich das von der Medizin als eine Selbstverständlichkeit verlange.51 Sie nahm sich vor, in der Schweiz einen Arzt zu suchen, der die neue Methode praktizierte. Wenn es bei ihr glückte, wollte sie anderen jungen Frauen davon erzählen, die es dann ihrerseits ausprobieren und weitersagen würden.52

Zuerst galt es jedoch, in engem Zeitrahmen das Examen hinter sich zu bringen. Voraussichtlich werden wir am 5. Oktober elf Uhr in Genua sein, werden den folgenden Nachmittag und am 6. Oktober vormittags in Genua bleiben, am 6. Oktober mit dem direkten Zug 11.55 Uhr in Genua abreisen und am 6. Oktober abends 8.53 Uhr in Zürich ­anlangen, dann habe ich in Zürich noch zwei Tage vor dem ­Examen, was langen sollte, um ein Kleid zu kaufen und die Haare zu schneiden. Und ein bisschen auszuruhen, schrieb Greti ihrer Freundin und ­Studienkollegin Verena Stadler. Wenn ich nun weder am 6. noch 7. noch 8. Oktober anlangen sollte, läute bitte Brunner an und sag ihm, es müsse etwas passiert sein, er solle doch bitte Geduld haben. Passieren kann natürlich allerlei, nebst der Dummheit, in Santos oder in Rio das Schiff ohne uns abfahren zu lassen, kann dieses selber wegen Sturm nicht richtig anlangen oder untergehen, item lieber nicht. Wenn alles nach Plan geht, werde ich Dir also nicht mehr telegraphieren (…).53

Das Telegramm an die Freundin konnte Greti Caprez-Roffler sich sparen: Die Conte Rosso erreichte Genua pünktlich.54 Die junge Frau leistete sich eine Spazierfahrt im Taxi durch die Stadt,55 die historischen Palazzi schaute sie jedoch kaum an. Ihr Unterleib spannte im rüttelnden Auto.56 Du kleines Wesen unter meinem Herzen (…). Ich sehne mich nach Dir, aber ich fürchte mich auch. Du kleines Wesen, gell, Du plagst mich nicht zu sehr, nicht mehr, als Du es jetzt schon tust. Du musst mit mir tapfer und brav sein. Und dann, wenn Du von mir gegangen bist, dann werden wir beide wieder warten, warten, dass Dein Vater komme und Dich in seine Arme nehme. Du kleines Wesen, gell du nimmst mir nicht das Leben, ich kann nicht von Deinem Vater ­weggehen. Ich habe ihn so lieb. Wir können nicht ohne einander sein. Unsere Herzen sind verwachsen, und nichts steht zwischen ihm und mir. Ich kann Dir nicht von unserem Miteinandersein erzählen, es ist zu tief und schön. Du weisst es vielleicht so schon, dass wir immer noch zu ­wenig an Dich und zu sehr an uns und unsere Liebe denken, weisst es unwillig und zornig.57

€26,99

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
527 S. 29 Illustrationen
ISBN:
9783038551935
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Bookwire
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