Buch lesen: «Magdalene und die Saaleweiber»
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Sieben Sagen von Saaleweibern
Auswahl historisch belegter Personen in diesem Buch
Zur Autorin
Leseprobe aus »Das Saturei-Medaillon«
Ebenfalls im Mitteldeutschen Verlag erschienen
Abbildungsnachweis
Impressum
1. KAPITEL
Eine Stimme zerschnitt die warme Küchenluft. »Else!« Niemand antwortete. Im Haus »Zu den Drei Rössern« blieb es still.
»Else, komm endlich in die Küche!«
Die Altmagd Else bewegte sich nicht. Sie stand sechs Ellen von ihrer Hausherrin entfernt reglos im Korridor zwischen Küche und Laden. Ihren Rücken hielt sie gerade wie eine junge Pappel, obwohl sie an die fünfzig war und viele Frauen in ihrem Alter längst einen Buckel besaßen. Else würde nie einen Buckel bekommen. Die weiße Haut ihres Gesichts war zart wie die einer Dreißigjährigen. Sie liebte es, ihren Leib mit einem engen Mieder zu betonen, und an diesem Tag trug sie unter ihrem grauen Arbeitskleid eine Bluse mit bauschigen Ärmeln aus hellem Leinen. Das war eine Aufmachung, als hätte sie etwas Besonderes vor und nicht bloß gewöhnliche Küchenarbeit. Eine Fliege summte an ihrem Kopf vorbei, Else hob lässig die Hand. Die Brauen über ihren blauen Augen zogen sich in einem spitzen Winkel zusammen, der Schönheitsfleck auf ihrem Jochbein zitterte. Die Fliege verschwand.
Magdalene Rehnikel, die Hausherrin, ließ die Hände von der eigenen Arbeit sinken und drehte sich zu ihrer Altmagd um. Sie folgte Elses Blick in den Laden, wo der Geselle Lichtenberg und ihr Mann, der Meister Rehnikel, standen und sich über eine Spezerei beugten. Die Türen zwischen der Küche, dem Treppenhaus und dem Laden standen weit offen. Das Geschäft war ein Spezereienhandel, der einzige in Halle. Else war versunken in die Betrachtung der beiden Männer, ihr Gesicht bewegte sich so wenig wie das einer Puppe. Der Geselle schüttete vorsichtig Körner aus einem Säckchen auf eine Schale der Waage, der Meister hielt seine Nase darüber und murmelte. Seine Worte waren kaum zu verstehen, etwas von »in trockenem Zustand annehmen, da die Beeren sonst schimmeln …«, und Lichtenberg nickte.
»Else!«, rief Magdalene ein drittes Mal.
Else drehte sich nicht um. Stattdessen faltete sie die Hände, wie um mitten im Korridor zu beten, und hob sie theatralisch vor die Brust. Solche Posen liebte Else. Sie tat, als würde sie in einer Andacht versinken, damit ihre Herrin auf eine Zurechtweisung verzichtete. Sie wusste, dass die beiden jungen Mägde im gleichen Moment Mangold wuschen und zupften, eine mühselige Arbeit, bei der ihre Hilfe gebraucht wurde.
Else seufzte.
Georg Rehnikel richtete sich auf. Er zog sein Wams über dem runden Bauch gerade und steckte die Börse fester in den Gürtel. Dann legte er dem Gesellen die Hand auf die Schulter und verließ den Laden mit großen Schritten. Er ging an Else vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blieb vor Magdalene stehen.
»Ich gehe die Apotheken ab, Lenchen«, sagte er. »Zum Abendessen bin ich wieder da.« Er lächelte, strich ihr über die Wange und beugte sich für einen trockenen Kuss hinüber. Im Gehen hob er grüßend die Hand.
Die Apotheken abgehen, das hieß die fälligen Rechnungen zu kassieren. Georg Rehnikel tat das jede Woche. Er lieferte viele Spezereien an Herrn Becker und Herrn Rudolph, die beiden Apotheker der Stadt. Das war ein zuverlässiges Geschäft. Kranke gibt es immer, in schlechten Zeiten sowieso, erst recht in guten Zeiten, da sich die Leute mehr um sich selbst kümmern können. Die guten Zeiten hatten noch nicht angefangen, obwohl man hier die größten Hoffnungen hegte, seit Halle 1680 zum Kurfürstentum Brandenburg gekommen war. Man schrieb mittlerweile den 15. September 1693. Obwohl der ersehnte Reichtum der Stadt auf sich warten ließ, hatte sich in den letzten Jahren manches getan. Seit einigen Tagen gab es eine dritte Apotheke in der Stadt, und Herr Hoffstadt, der pfälzische Apotheker, hatte schon ein paar Mineralien und Öle im Spezereienhandel bestellt. Vielleicht war das ein Beweis, dass es aufwärtsging.
Die Tür klappte hinter Georg Rehnikel, Else löste sich aus ihrer Erstarrung.
»Komm endlich in die Küche«, rief Magdalene. »Deine Arbeit wartet.«
Else antwortete nicht. Für den Bruchteil eines Augenblicks flatterten ihre Lider. Magdalene, im Vertrauen darauf, dass die Magd ihre Arbeit aufnehmen würde, streifte die klobigen Holzschuhe über und verließ das Haus durch die Hoftür. Sie holte den Rest des Mangolds aus dem Garten, der hinter dem Haus im tieferen Teil des Grundstückes lag. Er stand dort noch in seinem Beet, gut gewachsen, mit dicken Blättern. Dieses Jahr war weniger verregnet als die vergangenen und verwöhnte die Menschen mit Sonnenstrahlen. Das hatte Früchte und Gemüse im Garten gut wachsen lassen.
Magdalene legte gerade den dritten Arm Mangold in den Erntekorb, da kam die Magd Rosina atemlos aus dem Haus gelaufen. Rosina war auf einer Seite lahm, sie hinkte sonst; jetzt war sie so schnell, dass ihr verkrüppelter Fuß kaum den Boden berührte. Zehn Schritte von ihrer Herrin entfernt hob sie den Arm und winkte. In ihrem puterroten Gesicht standen die Augen groß.
»Frau Meisterin, kommt schnell«, rief sie, »mit Else stimmt etwas nicht!«
Magdalene stellte den Korb auf dem Gartenweg ab, schlüpfte aus den Holzpantinen und eilte hinter Rosina ins Haus.
Else saß in der Küche am Tisch. Im ersten Moment konnte Magdalene nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Spülstein war blank geputzt, der Suppentopf stand auf dem Herd, das Feuer im Ofenloch knisterte. Else trug noch dasselbe Arbeitskleid mit der Schürze darüber, die hellen Ärmel aufgekrempelt. Die Kleinmagd Gertrud, die atemlose Rosina und Lichtenberg, der Geselle, umringten sie. Ihnen standen die Mäuler offen. Else hatte, wie Magdalene im Näherkommen sah, weit aufgerissene Augen und einen starren Blick zum Fenster hinaus. Die Hände hielt sie erhoben wie ein Priester bei der Segnung. Sie gab merkwürdige Töne von sich, die dem Knurren eines Hundes glichen. Rosina fröstelte. Magdalene sah den Schauder, der über die nackten Unterarme ging und die Härchen auf ihrer Haut steil aufrichtete.
»Else, was treibst du für einen Unsinn«, fuhr Magdalene sie an. Else zuckte nicht, sie stieß weiterhin seltsame Töne aus. Ihre Herrin stemmte die Hände in die Seiten und versuchte es erneut. »Du hast uns lange genug von der Arbeit abgehalten. Steh auf und kümmere dich um die Suppe!«
Nichts geschah. Else brummte höher im Ton. Rosina und Gertrud zitterten. »Ich glaube, sie ist krank«, flüsterte Gertrud furchtsam.
»Ach was!«, winkte Magdalene ab. »Nicht so krank, dass es nicht mit einem Eimer kalten Wassers behoben werden könnte! Rosina, hol Wasser!« Rosina nickte und wollte den ersten Schritt tun, da fing Else an zu schreien.
Die Schreie klangen wie die eines verletzten Tieres. Sie dauerten einen Moment an und brachen unvermittelt ab.
Dann redete Else. Sie benutzte klare Worte, aber ihre Stimme klang wie die einer anderen Person, fremd und unheimlich. Ihr Blick ging über Magdalenes Kopf hinweg in unbestimmte Ferne. Sie zwinkerte nicht. Rosina war stehen geblieben und hörte mit offenem Mund zu, wie Else mit tiefer Stimme redete. »Siehe, der Herr wird kommen! Aus dem Mund seiner unschuldigen Dienerin wird er zu Euch sprechen, damit Ihr gewarnt werdet – vor Sodom und Gomorrha, vor Sünde und Bosheit.«
Else hob ihre Hände höher, reckte sich und fuhr in erhöhter Tonlage fort: »Der Herr wird mit allen sein, die sich ihm ergeben! Er spricht: Wehe denen, die nicht an mich glauben, die heucheln und Götzen dienen! Elisabeth Bauer, gehe hin und verkünde allen, die fest auf Gott vertrauen, dass der Herr nah ist! Und denen, die in Aberglauben leben, verkünde die Vergebung des Herrn, wenn sie umkehren und den rechten Weg beschreiten! Sonst wird es ein schlimmes Ende nehmen mit allen Gottlosen und denen, die ihnen Glauben schenken!«
Magdalene wurde es zu bunt. Ihr Gesinde stand verwirrt um die Altmagd herum und tat nichts. Sie musste selbst tun, was nötig war. Sie lief, so schnell der Zorn sie trieb, nach draußen und griff den vollen Wassereimer, der an der Zisterne stand. Else redete noch immer, als sie zurückkam, und Magdalene hörte wieder etwas von Aberglauben. Das eiskalte Wasser aus dem Eimer ging zusammen mit ihrer restlichen Wut über Elses Schädel nieder.
Else fuhr mit einem Schrei von ihrem Platz auf. Jetzt sah sie wieder aus wie die Altmagd Else, verkniffen und mit zorniger Stimme kreischend, nur, dass sie pudelnass in einer Pfütze stand. Die Haube lag platt auf ihrem Kopf, und die vormals geplusterten Ärmel hingen mit dem Kleid wie ein Sack an ihr herunter. Sie zwinkerte mit den nassen Wimpern und schüttelte sich wie die Hunde nach dem Bad. Magdalene war die Erste im Raum, die ihre Fassung wiederfand. Sie begann zu lachen, laut und herzhaft.
Die jungen Mägde und Lichtenberg stimmten ein. Ohne das Vorbild ihrer Herrin hätten sie das nicht gewagt, aber Magdalene konnte nicht an sich halten. Elses Anblick war zu komisch, um nicht lauthals zu lachen.
Else hörte zu kreischen auf und ließ die Hände sinken. Sie richtete ihren Blick auf Magdalene und sagte mit süßlichem Schmalz in der Stimme: »Frau Meisterin, etwas Wunderbares ist geschehen! Gott, der Herr, hat zu mir gesprochen! Ich habe sein Licht gesehen!« Sie lächelte verzückt.
Gertrud in ihrer sechzehnjährigen Schlichtheit fragte: »Was hast du mit dem Aberglauben gemeint?«
»Welcher Aberglauben?«, fragte Else und sah so verwundert aus, dass Magdalene beinahe selbst darauf hereingefallen wäre.
»Das, wovon du geredet hast«, forderte Gertrud.
Rosina fügte hinzu: »Dass der Herr durch deinen Mund spricht. Außerdem hast du gesagt, er habe Elisabeth Bauer seine Stimme gegeben. Das bist du selbst, Else, nicht wahr?«
»Ja, das bin ich«, erwiderte Else mit großer Freundlichkeit. Ein dicker Wassertropfen hing an ihrer Nasenspitze. Magdalene sprang die Heuchelei aus ihrem Lächeln entgegen, alle anderen schienen es nicht zu bemerken. »Was habe ich noch gesagt?«, fragte sie mit honigsüßer Stimme.
»Dass der Herr allen zur Umkehr rät, die in Aberglauben leben, dass er vor Gottlosen warnt und denen, die ihnen glauben, und dann hast du noch von Sünde und Nachlässigkeit gesprochen!« Gertrud schnaufte atemlos von dieser langen Rede, länger als alle Sätze, die sie bisher von sich gegeben hatte.
Else ergänzte: »Von Sodom und Gomorrha.«
Sanft entgegnete Magdalene: »Sieh an, du warst gar nicht entrückt. Du weißt genau, was du gesagt hast.«
Elses glückselige Grübchen in den Mundwinkeln verschwanden. Sie gab keine Antwort.
Magdalene zuckte die Schultern. »Genug der Schwatzerei. Else, zieh dir trockene Sachen an und gehe an deine Arbeit. Du bist spät dran.«
Die Morgensuppe wurde am Abend vorher zubereitet. Es war Elses Aufgabe, sie zu kochen, damit sie am Morgen bloß noch aufgewärmt werden musste. Draußen sank die Dämmerung, Kerzen und Öllichter waren teuer und sollten nur benutzt werden, wenn es dringend nötig war.
Die Mädchen protestierten. »Aber Frau Meisterin«, fing Gertrud an zu lamentieren, und Rosina fragte: »Was war das eben? Hatte Else eine Offenbarung? Offenbarungen sind dasselbe, als wenn Gott aus einem spricht. Gott, der Herr! Hier, in unserem Haus, vor unseren Ohren!«
Der Else legten sich zwei vergnügte Grübchen in die Mundwinkel.
»Der Herr war diesem dummen Gerede so fern wie ein Kalb dem Mond«, fuhr Magdalene die jungen Mägde an. Sie sah den Protest in ihren Augen flackern, aber die beiden Mädchen sagten keinen Ton mehr und gingen an ihre Arbeit. Berge von Mangold türmten sich auf dem Tisch. Gertrud und Rosina begannen wieder mit dem Grünzeug zu arbeiten.
Else tat gar nichts. Sie blieb stehen und lächelte Magdalene lammfromm an. »Ihr werdet entschuldigen, Frau Meisterin, ich empfinde in diesem Augenblick große Sehnsucht nach Gott. Ich muss in die Marktkirche gehen und ein Gebet verrichten, um dem Herrn für seine Wohltat zu danken.«
Die Altmagd setzte sich in Bewegung und verließ das Haus, ehe irgendjemand ein Wort zur Erwiderung gefunden hatte. Magdalene war so verblüfft, dass sie die Magd nicht, wie sie um ihrer Autorität willen verpflichtet gewesen wäre, zurückholte und zurechtwies. Stattdessen sank sie auf die Küchenbank und verstummte.
Lange passierte nichts. Rosina brachte den Eimer nach draußen, Gertrud wischte schweigend die Wasserlache vom Boden auf, dann arbeiteten die jungen Mägde weiter am Mangold. In der Küche lag das Schweigen wie Blei, nur vom Ratschen der Mangoldblätter unterbrochen. Magdalene sah aus dem Fenster zum Hof. Sie starrte auf die Wand des Stallgebäudes, die Hände lagen im Schoß, sie hielt die Finger ineinander geklammert.
Nach einer Weile schwenkte sie den Blick zum Herd. Sie wies Rosina an, sich um die Suppe zu kümmern, und sah zu, wie die Magd das Hafermehl anrührte. Gertrud stand auf, räumte die Reste des Gemüses zusammen und verschwand mit dem Abfall zum Hühnerfüttern nach draußen.
Magdalene blieb reglos auf der Bank am Küchentisch sitzen. Sie fragte sich, was Else im Schilde führte, denn es gab keinen Zweifel, dass irgendetwas hinter ihrem Auftritt steckte. Es war nichts Gutes, das wusste Magdalene. Ihr Blick war wieder auf den kümmerlichen Ausblick gerichtet, als könnte sie dort ein Mittel finden, um Else in eine freundliche, gutmütige Frau zu verwandeln.
2. KAPITEL
Rosina sah Gertrud nach, die draußen das Hühnergatter öffnete. Sie rührte im Suppentopf, fuhr mit dem hölzernen Löffel einmal ringsum, zog ihn heraus und musterte ihn. Magdalene konnte erkennen, wie die Magd mit sich rang, ob sie den Löffel ablecken durfte. Deshalb warf sie ihr einen Blick zu, dass sie es lassen sollte, und Rosina verstand. Sie legte den Löffel beiseite und den Deckel auf den Topf.
Meister Georg Rehnikel trat in die Küche, verschwitzt von seinem Gang zum Markt und dort von einer zur anderen Apotheke. Bewegungen bereiteten ihm Mühe; er liebte es viel mehr, in seinem Lager zu sitzen und mit dem Vergrößerungsglas Pflanzen anzuschauen. Der Gang zu den Apotheken musste sein, denn der brachte das Geld, von dem sie lebten. Georg Rehnikel knöpfte sein schwarzes Wams auf, zog es aus und legte es über die Stuhllehne. Dann streckte er die Arme lang und gähnte.
»Ist etwas passiert, Lenchen?«, fragte er. »Gertrud hat sich quer über den Hof davongemacht, als ich reinkam. Das hat ausgesehen, als ob sie nicht mit mir reden wollte. Rosina sagt auch kein Wort.«
Rosina stand unübersehbar am Herd, und er redete über sie. Magdalene wusste, dass er das nicht aus Bosheit tat. Nein, er nahm die Magd nicht wahr. Er sah nur Magdalene an, die am Tisch saß. Seit sie verheiratet waren, seit drei Jahren, konnte sie sicher sein, dass sie im Mittelpunkt all seiner Gedanken stand. Trotzdem musste er sich anständig benehmen; sie wollte nicht, dass das Gesinde ihren Mann wegen seiner Zuneigung für einen Trottel hielt. Unter normalen Umständen hätte sie ihm ein paar Takte gesagt, aber das Erlebnis mit Else lenkte sie von allem anderen ab. Sie antwortete missmutig: »Nichts, worüber sich zu reden lohnt. Else hat uns eine Posse vorgeführt und die Mädchen glauben gleich an ein Wunder.«
»Eine Posse? Was für eine Posse? Erzähl mir davon!«
Rosina verließ die Küche, und Magdalene atmete auf. Sie konnte freier reden, wenn niemand vom Gesinde in der Nähe war. Außerdem musste sie ihren Groll gegen Else sorgfältig verbergen, und das war schwer, wenn jemand wie Rosina dabei war, die genau zuhörte.
Dass Else ihre junge Herrin nicht leiden konnte, wusste Magdalene seit dem Tag nach ihrer Hochzeit. Im gleichen Augenblick, als Else an jenem Tag ins Erkerzimmer getreten war, das Schlüsselbund in der Hand, mit dem sie die Herrschaft über den Haushalt abgab, war ihr der Hass zum ersten Mal so deutlich aus dem Blick gestiegen, dass Magdalene ihn wie einen Feuerblitz spürte. Jeder im Haus hatte die Anspannung mitbekommen, die zwischen den beiden Frauen herrschte, nur Georg Rehnikel hatte sie nicht bemerkt.
Magdalene gab wieder, was sie von Elses Posse gesehen hatte. Am Ende ihrer Erzählung hielt sie einen Moment inne und sah ihrem Mann in die Augen. »Ich weiß, was Else bezweckt. Sie will vor den Mädchen schlau dastehen und ihnen Angst einjagen.«
Georg schlug den Blick nieder und sagte nichts.
Magdalene stellte das Brett mit dem Brotlaib und dem Schinken auf den Tisch, schnitt ihrem Mann eine dicke Scheibe von beidem ab und setzte sich neben ihn. Sie sah zu, wie er abbiss und kaute.
Erst dann raffte er sich zu einer Erwiderung auf. »Diese Sache darfst du nicht ohne Weiteres abtun, Lenchen«, antwortete er mit vollem Mund. »Wer weiß, vielleicht war es wirklich eine Offenbarung. So etwas soll es geben.«
»Du meinst die extraordinären Weiber.«
Eifrig nickte er, kaute, schluckte, redete wieder deutlich. »Manche Menschen besitzen eine Gabe, sie können beim Gebet in Verzückung geraten, meistens Weiber. Sie haben vielleicht das zartere Gemüt? Wir haben in unserem Zirkel darüber geredet, was die Ursache der Verzückung sein kann. Wir halten es für möglich, dass tatsächlich die Stimme Gottes aus ihnen spricht.«
»Das ist Unsinn. Wieso sollte Gott seine Stimme ausgerechnet Mägden leihen?«
»Warum nicht? Schließlich ist Gott auch in Jesu Gestalt unter die Armen gegangen und hat sich erniedrigt.«
Magdalene seufzte. Georgs nächste pathetische Rede war nicht mehr aufzuhalten. Erst am Abend zuvor hatte ihr Mann beim Essen aus seinem Pietistenzirkel berichtet, langatmig und mit jeder denkbaren Ausschmückung. Seine Stimme hatte vor Begeisterung vibriert. Es war um Adelheid Schwartz gegangen, eines der extraordinären Weiber. Er hatte geredet, als ob er die Frau selbst erlebt hätte, und hörte gar nicht wieder damit auf.
»Georg, das hier ist etwas anderes«, beschwor sie ihn. »Else war nicht bei sich. Du hättest sie sehen sollen.«
»Gerade das ist ein guter Beweis! Außerdem ist es nicht unsere Aufgabe, die Erleuchtung zu begutachten. Das können gelehrte Männer übernehmen.«
»Glaube mir, Weiber wissen, was anderen Weibern im Kopf herumgeht.«
»Weiber sind ihresgleichen gegenüber härter im Urteil als Männer.«
Sein Tonfall war schärfer geworden. Das hieß, er wollte sich von seiner Frau nicht dreinreden lassen. Selten redete er in diesem Befehlston mit ihr.
Magdalene wusste, dass ihr Mann freundlich war, freundlicher als die meisten anderen, aber sie durfte es nicht übertreiben. Anderswo gab es Schläge und unfreundliche Worte für Ehefrau, Gesinde und Kinder. Hier nicht, hier war der Ton des Hausherrn liebevoll, außer wenn jemand versuchte, ihm bei seinen Glaubenssachen ins Handwerk zu pfuschen. Darin fühlte er sich im Haus als Einziger zum Lehrer berufen.
Magdalene lenkte ein. »Ich glaube, die Extraordinären lügen nicht absichtlich. Sie glauben, was sie sagen.«
»Natürlich tun sie das. Sogar Pfarrer Francke glaubt ihnen.«
»Der Pfarrer aus Glaucha?«
»Du weißt doch, der Neue. Er ist kaum ein paar Monate im Amt, da hat er sich schon Feinde gemacht. Man nimmt ihm den Kontakt zu Adelheid Schwartz übel, weil die sich nicht an die Regeln des Kirchenlebens hält. Es ist wirklich schwer zu unterscheiden, ob die Weiber tiefgläubig oder Scharlatane sind. Stell dir vor, im Harz gibt es welche, die raten davon ab, den Gottesdienst zu besuchen und am Abendmahl teilzunehmen.«
»Warum? Geben sie einen Grund an?«
»Sie sagen, es würde davon ablenken, ein echtes Glaubensbekenntnis abzugeben.«
»Da siehst du, mit welchen Vorstellungen diese Weiber daherkommen. Vielleicht wollen sie damit etwas bezwecken? Wenn man Else für ihresgleichen hält, kann sie dir eine Menge Ärger einbrocken.«
Das hätte Magdalene nicht sagen dürfen. Georg runzelte die Stirn und wandte seinen Blick in die andere Ecke der Küche. »Ich sehe, du sprichst in Vorurteilen.«
Er sagte kein Wort mehr. In der Küche war es still, man hörte nur die leisen Geräusche des Essens, sein Kauen und das Scharren seines Messers auf dem Brett. Als er mit dem Abendbrot fertig war, erhob er sich von seinem Platz am Tisch, durchquerte den Korridor und stiefelte die Treppe hinauf. Er ging jeden Abend einmal durch alle Zimmer bis zu ihrem Sohn Hans, der schon im Bett lag. Magdalene, das Licht in der Hand, folgte ihrem Mann hinauf und ging ins Schlafzimmer vor, zog ihre Kleider aus und machte sich zum Schlafen bereit. Sie rollte sich unter dem dicken Deckbett ein und wartete auf ihren Mann.
Georg kam nicht.
Sie hörte ihn in seinem Kontor rumoren. Das war der Raum neben dem Schlafzimmer. Er hatte seine Öllampe auf dem Pult stehen, ihr warmer Schein leuchtete, da die Tür einen Spalt offenstand, bis an den Rand des Bettes. Die Türen des Bücherschranks klappten, die Schublade unterm Pult wurde herausgezogen und hineingeschoben, die Feder kratzte.
Magdalene schlief ein.
Sie hörte nicht, wie ihr Mann zurückging und die Treppe hinabstieg. Er schlurfte durch den Laden ins Lager, wo er sich am liebsten aufhielt, wenn er mit niemandem reden wollte. Er kramte herum, putzte den Destillierapparat und murmelte vor sich hin. Sie hörte auch nicht, dass Else die Treppe aus dem obersten Stock herunterkam, leise, so leise, wie man mit Holzschuhen gehen konnte.
Magdalene träumte in dieser Nacht von Else. Es war ein merkwürdiger Traum, einer, in dem Else eine junge Frau war, was man sich nicht vorstellen kann, wenn man selbst jung ist und die anderen alt. In diesem Traum lachte Else, sie sah so fröhlich und gelöst aus, wie es ihre Herrin in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte.
Als Magdalene Rehnikel am Morgen aufstand, war ihr unwohl. Es fühlte sich an, als hätte sie sich den Magen verdorben oder als wäre mit der Luft in der Stube etwas nicht in Ordnung. Sie sah sich um, als sie das Schlafzimmer verließ. Alles sah aus wie immer, die dicken Federbetten lagen aufgeschüttelt an ihrem Platz, die Truhe, der Schrank, die leere Wiege standen an derselben Stelle wie jeden Morgen, seit sie hier wohnte. Georg war schon vor ihr aufgestanden. Er hielt sich an seinem Pult im Kontor fest, die Nase über dem Buch mit den Eintragungen und die Feder in der Hand.
Magdalene ging nach unten und fand auch in der Küche alles wie gewohnt. Else stand am Herd und wärmte die Suppe auf, die jungen Mägde hielten den Mund und senkten die Köpfe, solange die Meisterin im Zimmer war. Magdalene trug Rosina auf, sich um den kleinen Hans zu kümmern, verzichtete auf die Morgensuppe und ging hinaus.
Sie brauchte frische Luft, um das Unwohlsein zu vertreiben. Auf dem Markt sollte eine Komödie gegeben werden, die Ankündigung hing seit Tagen aus. Eine Abwechslung war jetzt genau das Richtige, Magdalene würde die erste Vorstellung des Tages besuchen. Sie zog ihr leichtes Mantelet über, das Mäntelchen, das nur bis über die Schultern reichte, hängte den Korb an den Arm und verließ das Haus.
Es war Septembermarkt.
Jedes Jahr im September fand in Halle der größte Markt des Jahres statt. Alle Bewohner der Stadt kamen dorthin, die Bauern aus den Dörfern ringsum, die Leute von den Gütern und Domänen der Umgebung. Es war der Markt, der den Bauern ihr wichtigstes Einkommen verschaffte, der Markt, auf dem jeder die Vorräte für den langen Winter kaufte. Es war der Beweis von Gottes Gnade, das große Aufatmen, die Freude über Ernte und Gewinn nach der langen Mühsal des Frühjahrs und Sommers. Was bis jetzt nicht für die dürren Zeiten vorbereitet war, schuf man in diesem Jahr nicht mehr.
Ein Markttag liebt die Sonne. Die Früchte strahlen bunter, die Stoffe leuchten heller, die Käufer sind besserer Laune, wenn die Sonne scheint. An diesem Tag tauchte sie den Platz in ein goldgelbes Licht. Der Markplatz, zwischen dem Rathaus, dem roten Turm und der viertürmigen Marktkirche gelegen, war voller Männer, Frauen und Kinder, voller Körbe, Kiepen, Wagen, Buden und Stände. Zum Septembermarkt zogen die Verkäufer nicht nur in die hölzernen Buden rings um den Roten Turm und unter den Arkaden der Marktkirche, sondern sie standen über den ganzen Platz verteilt hinter Bündeln und Kisten.
Magdalene liebte den Septembermarkt, wo alles auf einem Fleck zusammenkam, was die Ackerkrume den Menschen nach diesem warmen Sommer schenkte. Den Korb am Arm, schlenderte sie über den Platz, auf dem sich die Ernten der umliegenden Gärten und Felder versammelt hatten. Da gab es Rettiche und Bohnen in großen Körben und feinen Mangold, solchen wie den, vor dem daheim Gertrud ein weiteres Mal saß. Auf dem Boden standen Säcke mit frischem Getreide, Weizen und Hafer, Gerste und Roggen, fertig gemahlenes weißes und braunes Mehl. Für das Kleinvieh der Stadt verkauften die Bauern Klee und Luzerne. Frisch gefangene Fische zappelten in den Auslagen, Karpfen und Zander, Hechte und Aale. Es gab Geflügel, das in Käfigen gackerte. Kohl war aufgetürmt, rote und weiße Bälle auf Haufen wie Kanonenkugeln. Proben von Linsen und Erbsen lagen in flachen Schalen, Rapünzchen und Pilze wurden feilgeboten. Es gab Honig und Milch, Käse und Butter, Rüben und Zwiebeln. Bäcker verkauften Brote und Weckmänner, süße Kringel und Salzgebäck. An der Nordostecke standen die Töpfer und Krämer, Scherenschleifer und Schuhmacher, und an der Westseite des Marktes gab es viele Sorten Obst.
Die ersten blauen Pflaumen waren im Angebot. Das Wasser lief Magdalene bei der Vorstellung von frischem Pflaumenmus im Mund zusammen. Sie ließ sich von einer drallen Bäuerin eine saftige Pflaume geben und kostete. Einen Augenblick lang überlegte sie, einen Korb voll mitzunehmen, aber das würde mindestens sechs Pfennige kosten. Das war zu teuer. Magdalene war in der Lage, mit ihrem Geld hauszuhalten. Noch während die Bäuerin einen neuen Preis nannte, wandte sich Magdalene ab. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer anderen Person angezogen.
Vor einem Korb mit Äpfeln stand eine zierliche Frau in einem abgetragenen blauseidenen Kleid, das an mehreren Stellen sorgsam geflickt war. Es war Isabeau Baret, ihre Freundin aus der französischen Kolonie. Die junge Frau hob den Kopf und erkannte Magdalene. Ihre dunklen Locken quollen unter der Haube hervor, die rabenschwarzen Augen lachten.
»Madeleine, comment ça va?« Sie winkte und zog Magdalene für einen Wangenkuss an sich.
»Was macht das Kleine?«, fragte Magdalene der Höflichkeit halber, obwohl sie sich diese Frage lieber verkniffen hätte. Es war Neid, gestand sie sich ein. Purer Neid beherrschte ihr klopfendes Herz. Isabeau konnte nichts dafür. Sie war gutherzig und leichtgläubig, und das war nichts, was Magdalene ihr vorwerfen durfte, ihre Schwangerschaft erst recht nicht.
In das Gesicht der Freundin zauberte diese Frage ein entzücktes Lächeln. Sie legte die Hand auf ihren vorgewölbten Bauch. »Es bewegt sich munter wie ein Fisch im Wasser, am meisten, wenn ich schlafen will.« Sie sah sich um und rief mahnend: »Marthe!« Die pausbäckige Marthe auf ihren kurzen Beinen sah zu ihrer Mutter auf.
»Und bei dir?«, fragte Isabeau. »Immer noch kein Geschwisterchen für Hans unterwegs?«
Das war die Frage, die Magdalene erwartet und befürchtet hatte. Obwohl Isabeau diese Frage jedes Mal stellte, wenn sie sich trafen, tat Magdalenes Herz einen schmerzenden Schlag. Isabeau meinte es nicht böse. Sie sprach aus, was alle Leute dachten. Georg Rehnikel hatte Magdalene Bertram vor drei Jahren geheiratet, und langsam wurde es Zeit für Nachwuchs. Die Leute in der Stadt glaubten, der kleine Hans wäre Georg Rehnikels Sohn, der erste der Geschwisterreihe, die folgen würde. Die einzigen Menschen, die wussten, dass nicht Georg ihn gezeugt hatte, waren Magdalene, ihr Onkel Conrad und Georg Rehnikel selbst. Ein weiteres Kind wäre der Beweis ihrer guten Ehe, nicht nur den anderen Leuten gegenüber. Sie war zwar zweimal schwanger gewesen, aber sie hatte beide Kinder verloren, einmal nach vier Monaten, das andere Mal kaum, dass sie die Schwangerschaft bemerkt hatte. Ihrer Freundin davon zu erzählen, schämte sie sich.
Magdalene schüttelte den Kopf.
»Nein, noch kein Geschwisterchen für Hans. Und dein Mann«, wechselte sie eilig das Thema, und es war gemein, dass sie jetzt den Kummer ihrer Freundin anschnitt, aber es war nur der gerechte Ausgleich, »hat Frédéric inzwischen Arbeit?«
Isabeau seufzte. »Die Walkmühle an der Saale wird einfach nicht fertig. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass die Manufaktur auf die Beine kommt. Keiner will Tuch von uns Franzosen kaufen.«
Magdalene legte ihr die Hand auf den Arm. »Ihr werdet euch eines Tages hier wohlfühlen, das weiß ich.«
Isabeau senkte den Blick. »Es ist eine Stadt voller Lutheraner.« Sie verfiel in die französische Sprache, wenn ihr etwas naheging.