Magdalene und die Saaleweiber

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Wenn sie so traurig redete, antwortete Magdalene auf Französisch, um sie zu trösten. Magdalene sprach flüssig Französisch, und sie tat es gern. Die Dinge wurden dann klarer, vielleicht, weil sie, wenn sie nach dem richtigen Wort suchte, auf eine gründlichere Weise nachdenken musste. »Ich bin auch lutherisch. Es sind nicht alle feindlich gegen euch. Sieh mich an. Ich zähle mich zu den Pietisten, und die sind von allen Lutheranern die mit dem tiefsten Glauben.«

Isabeau zuckte die Schultern. »Wodurch sollten sie auserwählt sein, eure Pietisten?«

»Sie haben herausgefunden, dass man die Liebe Gottes weitertragen muss«, erklärte Magdalene nachsichtig. »Barmherzigkeit ist eine der Aufgaben, die mir mein Glauben stellt. Ich bringe denjenigen von euch Brot, die sich keins leisten können.«

Isabeau seufzte und die kleine Marthe an ihrem Rockzipfel fuchtelte unruhig mit der freien Hand. »Frédéric sagt, dass die Pietisterei schädlich ist. Sie legen die Bibel allein aus, ohne einen Priester.« Sie gab Marthe, die nach den Äpfeln in den Verkaufskörben grapschte, einen Klaps und hielt die Kleine an der Hand fest. Als sie wieder in Magdalenes Gesicht sah, war ihr Blick verdunkelt, hellte sich aber beim Anblick der Freundin auf. »Schlechte Menschen könnt ihr Pietisten aber nicht sein, wenn ihr uns Brot bringt.«

Die beiden Frauen wandten ihre Aufmerksamkeit Marthe zu, die am Kleid ihrer Mutter zerrte. Isabeau gab ihrer Tochter einen erneuten Klaps und hob ihren Blick zu Magdalene. »Du musst die Liebe Gottes auch in deiner eigenen Familie weitertragen. Es wird Zeit, dass du ein zweites Kind bekommst. Wieso dauert das bei dir so lange?«

Isabeau meinte es gut. Magdalene wusste das, sie kannte ihre Freundin. Es quälte sie, dass Isabeau nichts über die Sache mit Hans wissen durfte. Vielleicht konnte Magdalene ein Geheimnis mit einem anderen gutmachen, wenn sie über das Amulett unter ihrem Hemd redete. Sie trug es auf der bloßen Haut, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihre Amme Anna hatte es ihr vor vielen Jahren geschenkt; Magdalene hielt es sonst sorgfältig verborgen.

»Dies hier«, sie zog an der Lederschnur und nestelte das Schmuckstück heraus, »wird mir helfen. Es hilft mir immer, wenn ich mir etwas dringend wünsche.« Das Amulett war ein Oval aus Silber und Elfenbein, ein wertvolles Stück, das Wertvollste, was Anna je besessen hatte. »Das ist das Schutzzeichen der Guten Lubbe.« Sie öffnete den winzigen Verschluss und klappte das Deckelchen auf. Kleine weiße Knochenstücke lagen darin.

Isabeau ließ den Mund offenstehen und berührte mit der Fingerspitze einen der Splitter. »Was ist das?«

Magdalene klappte das Amulett zu und steckte es zurück an seinen Platz unter ihrem Hemd. »Es sind Knochen. Als ich klein war, hat meine Amme der Guten Lubbe ein Huhn geopfert. An den Knochen hat sie das Zeichen der Lubbe erkannt, dass ich mein Leben lang geschützt sein werde und dass die Lubbe mir in jeder Not beistehen wird.«

»Das ist Aberglauben«, flüsterte Isabeau.

»Das ist kein Aberglauben. Man kann nicht gleichzeitig an Gott glauben und abergläubisch sein. Das mit meinem Amulett ist etwas anderes als Aberglauben. Die Gute Lubbe gibt es wirklich. Sie hat mir immer geholfen und wird es auch dieses Mal tun. Sie wird dafür sorgen, dass ich noch mehr Kinder bekomme.«

Isabeau schüttelte zweifelnd den Kopf. »Gebete werden dir helfen. Gott wird dir ein Mittel schicken, das gegen Kinderlosigkeit hilft. Wer weiß, warum die erste Frau Rehnikel unfruchtbar war. Vielleicht ist sie auch so abergläubisch gewesen und das war ihre Strafe.«

Nicht immer war Magdalene klug genug, um vor dem Reden zu denken. »Wer sagt denn, dass es an der Unfruchtbarkeit der verstorbenen Frau Rehnikel gelegen hat? Die Ursache kann genauso mein Mann sein.« Sie bemerkte ihren Fehler, hob die Hand und fügte eilig hinzu: »Ich meine, bevor Hans da war, könnte man das vermutet haben, nicht wahr?«

Was für eine Dummheit war ihr entschlüpft! Mit einem Lächeln wollte Magdalene von ihrem unbedachten Geplapper ablenken.

Isabeau winkte ab und lächelte verschwörerisch zurück. »An deinem Mann liegt es nicht, der kann zeugen. Das weiß spätestens seit der Sache mit der Magd jeder. Das hat sich sogar bis zu uns herumgesprochen!«

Magdalenes Lächeln verschwand aus ihren Mundwinkeln. »Welche Sache mit welcher Magd?« Innerhalb eines einzigen Augenblicks war die Luft auf dem Markt stickig geworden. Ihr brannte die Kehle, als würde Galle hinablaufen.

Isabeau sah das erstarrte Gesicht der Freundin und zögerte. Ihre dunklen Augen blinzelten. »Du weißt nichts davon?« Sie zupfte befangen an Marthes Kleid und fuhr fort: »Die Leute sagen, dein Mann hätte einer Magd ein Kind gemacht. Es soll lange her sein, lange vor eurer Hochzeit. Man sagt auch, er hätte das Kind nach der Geburt beseitigt, aber das glaube ich nicht. Das haben die Leute hinzugefügt, damit sie wieder eine Schauergeschichte haben. Sonst wäre dein Mann doch vors Gericht gekommen.«

Magdalene brannten die Wangen rot. »Wann soll das gewesen sein?«

»Keine Ahnung.« Isabeau zwinkerte verlegen und ergänzte: »Auf jeden Fall ist es lange her. Es war schon längst passiert, als wir vor sechs Jahren in die Stadt gekommen sind.« Sie streichelte Magdalenes Arm und beschäftigte sich mit Marthe. Ihr war anzusehen, dass sie sich für ihr Geplauder am liebsten selbst geohrfeigt hätte. Isabeau zwinkerte nervös und verabschiedete sich Augenblicke später.

Ein Wind fuhr über den Platz. In einer Vorahnung von Herbst zog er an den Röcken und wirbelte Schmutz auf, der kurz in die Höhe flog und sich wieder auf das Pflaster senkte. Magdalene sah Isabeau nach, die mit Marthe auf dem Arm zwischen den Verkaufsständen verschwand. Sie atmete tief ein.

Als wäre Elses Aufsässigkeit nicht genug, worüber sie sich ärgern musste, setzte sich dieses dumme Gerücht wie Fliegen im Sommer auf ihren Gedanken nieder. Georg und ein Kind umbringen! Unfassbar, was für blödsinniges Geschwätz mancher breittratschte!

Von der anderen Seite des Platzes waren lautes Pfeifen und Beifall zu hören. Der erinnerte sie an die Komödie, wegen der sie auf den Markt gegangen war. Die Aufheiterung hatte sie dringend nötig. Magdalene wischte sich den Staub aus den Augen und schlenderte zu den Komödianten. Rings um eine Stelle seitlich des Corps du Garde, des Wachhauses der Soldaten neben dem Roten Turm, drängte die dichte Menge der Zuschauer. Seit Tagen erzählten die Leute über den Aushang der Schauspieler, ein auf grobes Papier gedrucktes Pamphlet, in dem sie die »Moritat von der Schwartzin und was ihr gar furchtbar widerfahren« ankündigten. In einer Stadt am Rand des großen Kurfürstentums Brandenburg gab es wenig Abwechslung. Aus diesem Grund war die Neuigkeit schnell durch die Gassen gelaufen und hatte viele Leute angezogen. Das Spiel wurde direkt vor dem Wagen der Schauspieler, einem hölzernen Fuhrwerk mit einer geflickten Plane, aufgeführt. Der Wagen musste für alles herhalten, als Bühne, Garderobe und Schlafplatz. Der magere Gaul stand in seinem Geschirr, weil die Komödianten nach der Aufführung den Platz bis zur nächsten Vorstellung räumen würden. Eine Menge Gaffer aus allen Teilen der Stadt und den Vorstädten hatte sich eingefunden, Kinder saßen auf dem staubigen Boden. Das Pfeifen zeigte, dass die Komödie schon im Gang war.

Magdalene näherte sich und ein paar Leute von niederem Rang machten ihr Platz. Sie gelangte nach vorn in die Nähe des Wagens, zwischen eine Fleischersfrau aus der Kuhgasse und einen fremden Burschen mit fransigem Haar. Vor ihren Füßen saßen ein paar vor Schmutz starrende Kinder. Die Komödianten waren zu dritt, einer von ihnen hatte sich als Frau verkleidet. Sein Gesicht war mit roten Apfelbäckchen und einem riesigen Mund bemalt. »Ja«, schrie er gerade mit einer verstellten hohen Stimme, »habt Ihr es denn nicht vernommen, den Lichtstrahl hab’ ich abbekommen!«

Ein zweiter Schauspieler, ein grellbuntes Wams am Leib und eine zerzauste Perücke auf dem Kopf, verbeugte sich. »Gute Frau, wer seid denn Ihr?«

»Die allererleuchtetste Frau bin ich hier! Adelheid Schwartz, das ist mein Name. Ich selbst bin eine große Dame.«

Hinter ihr tauchte ein Lichtkranz auf, ein an einer Stange befestigtes bemaltes Holz, das der dritte Schauspieler trug. Die Leute johlten, Gelächter wogte durch die wachsende Menschenmenge.

»Ich sprech’ selbst mit dem Höchsten Herrn. Er salbt und segnet mich sehr gern.«

Der bunte Mann hockte sich vor die Frau und gaffte sie mit aufgerissenen Augen an. »Und wie, sagt an, kommt er Euch nah?«

Sie hob ihre Hände hoch und sah gegen den Himmel. »’s ist nicht lang her, dass ich ihn sah!« Danach murmelte sie ein Kauderwelsch, das an Latein erinnerte. Sie wurde schriller und schrie alle Augenblicke »Puh!«, worauf der hockende Mann Schreckensrufe von sich gab und umfiel.

Schon johlten und lachten die Leute wieder. Die Frau säuselte: »Er sagt, ein Apfel täte mir sehr gut!«

Der Buntgekleidete stand auf und zog einen grünen Apfel aus seiner Rocktasche. Er ließ die Frau einige Male danach schnappen, bis sie ihn griff, so tat, als ob sie hineinbiss und das Gesicht zu einer Grimasse verzog.

Die Leute lachten.

»Den Herrn verspotten ist Übermut«, kreischte die bemalte Person.

»Nein, nein, ich dachte an das Paradies.« Der Mann wandte sich an das Publikum. »Nicht dass sie mich jetzt Schlange hieß!«

Die Leute klatschten vor Begeisterung.

»Die Schlange will ich anders reichen!«, kreischte die Frau und versohlte ihm mit einem Strick aus ihrer Tasche den Hintern. Das Johlen der Leute hörte gar nicht auf, sie bogen sich vor Lachen. »Wenn ich das will, gibt Gott ein Zeichen!« Sie hob die Hände hoch und zeigte ihre Handflächen, von denen auf einmal rote Farbe lief.

 

Abrupt brach das Lärmen ab, das Lachen erstarb. Noch ein paar Pfiffe tauchten aus dem Raunen, dann war es still. In den Gesichtern rings um Magdalene stand erschrockenes Blinzeln.

Die beiden Männer auf dem freien Platz hielten inne und tauschten einen verunsicherten Blick. Magdalene begriff, dass sie keine Ahnung von Anna Maria Schuchardt hatten und nicht wussten, was mit ihr in Halle passiert war.

Der Bursche neben Magdalene, ein Nichtsnutz von Mitte zwanzig, schaute genauso verständnislos wie die Schauspieler. Sein zotteliges, schief und schräg geschnittenes rotbraunes Haar fiel in den Blick. Das geflickte Wams musste früher in reicheren Händen gewesen sein; man konnte noch die Stellen an Ärmeln und Kragen sehen, an denen der Spitzenbesatz abgeschnitten worden war. Die blaue Farbe seiner Kleider war verblichen, am stärksten auf den Schultern. Risse ließen das grobe Hemd darunter hervorlugen.

Dieser Nichtsnutz war ein Bettler, und solchen war alles zuzutrauen. Magdalene legte die Hand auf ihren Gürtel, unter dem der Geldbeutel steckte, und trat nach hinten, bis er zu der Fleischersfrau rückte. Sie sah ihn die großen grauen Augen aufschlagen. »Was meinen die?«, fragte er die Fleischerin. Er kam nicht von hier, sonst hätte er über solche Frauen wie die Schuchardt Bescheid gewusst. Jeder hier wusste von der Angelegenheit.

»Habt Ihr noch nie von den hysterischen Weibern gehört?«

Der Nichtsnutz schüttelte den Kopf.

»Hier in Halle hatten wir eins, die Schuchardt. Manche sagen hysterische Weiber zu ihnen, andere, die es gut meinen, nennen sie extraordinäre Weiber.« Der junge Mann sah sie fragend an, und sie fügte bissig hinzu: »Die Schuchardt haben sie letzten Winter aus Halle verjagt, aber die Leute waren uneins wegen ihr. Wenn Ihr mich fragt, ich halte sie für eine gewöhnliche Magd. Die ist nichts Besonderes, die spielt sich bloß auf. Die ist schon aus Erfurt ausgewiesen worden und hat gedacht, in Halle würde es ihr besser gehen. Raffiniert ist sie aber schon. Zuerst versenkt sie sich ins Gebet, als Nächstes wird sie starr, als ob sie entrückt wäre, und danach soll sie singen. Die Leute reden von Visionen, richtigen Prophezeiungen, aber das ist Blödsinn. Die Wahrsagungen treten nämlich nie ein oder sind allgemeiner Kram. Aber eine Sache gibt es, wegen der wissen wir alle nicht so recht, ob es mit der Schuchardt nicht doch stimmt. Im Haus des Sekretärs Ringhammer hat eine Andacht stattgefunden, da ist der Frau, ohne dass sie verletzt war, blutiger Schweiß von ihren Händen gelaufen. Es sieht aus, als wollten sich die Schauspieler da vorn über die Schuchardt lustig machen.«

Ehe der Mann etwas erwidern konnte, hatten sich die Komödianten gefasst und versuchten das Theaterstück wieder aufzunehmen. Der mit der roten Farbe an den Händen schrie: »Na, willst du endlich für mich springen und mir schöne Speisen bringen!« Und den Leuten zugewandt: »Ich würde einen Besen fressen, brächt er mir jetzt nicht feines Essen.« Der Buntgekleidete kniete sich auf den Boden und tat, als würde er beten.

Nur noch wenige Leute lachten. Einige hatten die Brauen verärgert zusammengezogen, andere die Arme in die Hüften gestemmt. Ein dunkel gekleideter, flaumbärtiger Student drängte sich nach vorn. »Was ist das für eine Schmierenkomödie?«, rief er mit dünner Stimme den Schauspielern entgegen.

»Jawohl, jawohl«, hörte Magdalene rings um sich, wo die Leute eben noch gejohlt hatten.

»Ihr seid in Halle. Das ist keine gewöhnliche Stadt, wenn es um die Stimme unseres Herrn geht. Hier hat Gott aus dem Mund von Menschen gesprochen. Die extraordinären Weiber mögen über Euren Horizont steigen, über sie spotten dürft Ihr deshalb noch lange nicht.«

Die Schauspieler unterbrachen ihr Spiel zum zweiten Mal. Die lachend nach oben geschminkten Lippen des als Weib Angezogenen standen in einem grotesken Gegensatz zu seinen fragend erhobenen Augenbrauen.

»Ach was«, tönte es vor Magdalene, »lasst sie weiterspielen und stört den Spaß nicht.« Die Fleischerin schob sich nach vorn zu dem Studenten. »Es war richtig, dass man die Schuchardt aus der Stadt geworfen hat. Die konnte genauso gut schauspielern wie die Komödianten hier. Ich würde gern wissen, wie sie das mit den blutigen Malen auf den Händen angestellt hat. Ihr glaubt wohl an diesen Spuk?«

Der Student reckte sich zu seiner ganzen Größe auf. »Ich verkehre im Haus des königlich-schwedischen Legations-Sekretärs Ringhammer.« Zwischen den Leuten setzte vorsichtiges Gemurmel ein. »Während ihrer Ekstase hat die Schuchardt Hochdeutsch geredet, wo sie sonst Thüringisch spricht. Das war keine Komödie, die Frau war verwandelt. Ich habe es selbst gesehen.«

Die Fleischerin stemmte die Hände in die Seiten und maß den Studenten mit Blicken. »Wenn es um die Qualitäten der Schuchardt geht, da weiß ich mehr. Ich habe sie auch selbst erlebt. Sie hat sich jeden Tag im Leben so angenehm wie möglich zu machen versucht. Mit Arbeit hatte die nicht viel am Hut. Eine Menge Leute findet es richtig vom Salzgrafen, sie aus der Stadt zu weisen.«

Der Student trotzte. »Das ist doch der Beweis für den göttlichen Ursprung der Geschehnisse. Der Allmächtige hat den Charakter dieses Weibs verwandelt. Wisst Ihr überhaupt, was seitdem passiert ist? Noch mehr Frauen haben Visionen, die Tochter des Sekretärs Ringhammer und zwei Töchter des Herrn von Wolff, Christiane und Sophie. Sie sind bei Herrn Francke im katechetischen Unterricht. Der glaubt ihren Entzückungen.«

Die Fleischerin winkte ab. »Mir ist der Spaß sowieso verdorben. Die reichen Weiber können mir gestohlen bleiben.«

Der Student nickte zufrieden. Er drehte sich zum Publikum und hob die Hände. »Geht nach Hause, liebe Leute! Die Komödie ist zu Ende. Wir kommen wieder, wenn es etwas Gescheiteres zu sehen gibt als Spott über Gottes Gnade.«

Das Raunen wurde stärker. Unentschlossen standen die Komödianten auf dem freien Platz, flüsterten miteinander und verschwanden einer nach dem anderen in ihrem Wagen. Der Nichtsnutz vor Magdalene nickte. »Die haben Erfahrung, die wissen Bescheid, wann sie besser unsichtbar werden.« Er drehte sich um und drängte durch die Leute nach hinten. Die Menschentraube, die sich um den Wagen gebildet hatte, löste sich auf, einer nach dem anderen ging fort.

Magdalene blieb stehen. Um sie herum strebten alle vom Platz weg, bald rollte auch der Wagen der Komödianten in Richtung Rannisches Tor. Sie stand einsam an der eben noch bevölkerten Stelle beim Corps du Garde. Spätestens morgen würde die ganze Stadt wissen, dass die Komödianten in diesem Jahr mit ihrem schlechten Schauspiel am tiefen Glauben der Hiesigen gescheitert waren. Das war für die Truppe Grund genug, die Vorstellungen abzubrechen und an einen anderen Ort zu ziehen. In solchen Dingen waren sich die Leute schneller einig, als Fremden lieb sein konnte.

Neue Nachrichten durchliefen die Stadt nach der Art eines Feuers im frischen Herbstwind. Kaum etwas konnte man vor anderen geheim halten. Ein Wunder, dass man den Rehnikels die Geschichte von Georgs Vaterschaft am kleinen Hans abgenommen hatte! Vielleicht hatten die Leute sie nur ernst genommen, weil sie einen wunderbaren Tratsch abgab. Ohne sich zu bewegen, stand Magdalene auf dem leeren Platz. Der Wind blähte ihre Röcke, bis die Vorbeigehenden sie aus den Augenwinkeln musterten.

»Ist Euch nicht gut?«, eine alte Frau blieb stehen und wollte ihr die Hand auf den Arm legen. Mit einem Kopfschütteln wehrte Magdalene sie ab.

Es gab noch eine andere Schicht von Gerede. Es war eine, die wie klebriger Honig unter dem Geplätscher aus den Mäulern der Bürgerinnen lag. Es war das Gespräch zwischen den Mägden, die abergläubischer redeten und weniger belehrbar waren, wenn es um die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Geschehnissen ging. Die Gerüchte unter Bürgerinnen und Mägden vermischten sich nicht immer; derjenige, der ein Wunder bezeugen kann, lässt sich das ungern von einem Neunmalklugen ausreden. Dieser Abstand war es, der Gerüchte unter den Mägden bewahrte, wenn sie unter den Bürgerinnen längst zu Staub zerfallen waren. Aberglauben und Dummheit waren der Grund. Georg war Opfer eines dummen Geredes geworden. Magdalene ärgerte sich, dass Isabeau einem Gerücht auf den Leim gegangen war. Gleich darauf ärgerte sie sich darüber, dass sie sich überhaupt ärgerte. Ihre Schritte klopften wütend auf das Pflaster, als sie heimging.


3. KAPITEL


Magdalene war zur Mittagszeit zu Hause. Das Haus der Rehnikels stand dreihundert Schritte vom Markt entfernt am Saaleufer, dicht bei der Halle, wo die Salzkoten rauchten. Im Haus hatte alles seine beruhigende Ordnung. Die beiden jungen Mägde schenkten ihr einen Knicks und ein angemessenes Lächeln. Vor dem Verkaufstisch des Gesellen Lichtenberg stand ein schwergewichtiger Bürger im gefütterten Mantel, ein Innungsmeister der Wollkrämer. Der Geselle erklärte etwas zu dem roten und braunen Pulver, das vor ihm in zwei tönernen Schalen glitzerte, gemahlene Metalle, als gute Farbe für Wolle zu verwenden. Lichtenberg verbeugte sich, als er Magdalene im Hausflur erkannte.

Georg Rehnikel bezog seine Handelswaren von weither. Es gab niemanden sonst im Umkreis von vielen Meilen, der arabischen Gummi, Teer oder Indigo anbieten konnte. Die französischen Moden brachten dem Geschäft einen sanften Aufwind, und Gottes Gnade hatte den modernen Luxus und die Spezereien miteinander verknüpft. Der protestantische Glaube ließ wenig Luxus zu, aber das Wenige konnte einen deutlichen Unterschied ausmachen: Locken in Weiberhaaren, neue Farben für die Wolle, ein besonderes Siegelwachs, ein Tässchen Kakao am Sonntagnachmittag. Je verrückter es war, umso mehr Gewinn warf es ab. Rehnikels verkauften wunderliche, exotische Sachen. Wenn die Leute mit ihrem Wohlstand protzen oder die Handwerker etwas Besonderes machen wollten, brauchten sie Zutaten aus dem Spezereienhandel.

Das Geschäft bestand aus drei Teilen. Erstens gab es den kleinen Handel im Laden, zweitens den Großhandel mit bedeutenden Mengen an Hölzern, Fasern und speziellen Waren im Austausch mit Händlern und Handwerkern und drittens die Herstellung von einfachen Waren, Ölen zum Beispiel, die aus exotischen Früchten gepresst wurden. Rehnikels mussten sich mit den Apotheken gut stellen, damit man sie dort nicht als Konkurrenz ansah. Die Apotheker waren ihre wichtigsten Kunden, ihnen lieferte Georg Rehnikel viele Waren, vor allem solche, die auf langen und verschlungenen Wegen nach Halle kamen. Magdalene nickte dem Wollkrämer und dem Gesellen Lichtenberg höflich zu, als sie an der offenen Ladentür vorbeiging, und betrat die Küche.

Die Familie aß zu Mittag ein paar kalte Häppchen in der Küche. Gekocht wurde nur für den Morgen und die Festtage, weil es teures Holz verbrauchte. Manchmal gab es abends zusätzlich einen Eintopf, ein Luxus, den sich arme Leute nicht leisten konnten. Magdalene hatte Mühe, ihre alberne Einbildung von der stickigen Luft zu verdrängen. Sie stellte den Schmalztopf und das Brotbrett auf den Tisch und bereitete ein paar Scheiben Brot für alle vor. Die Mägde, der kleine Hans und Lichtenberg griffen zu, auch Georg kam vorbei und nahm sich ein Stück. Else ließ ihrer Herrin durch die jungen Mägde ausrichten, sie käme später.

Das wäre Magdalene gleich gewesen, solange Else ihre Arbeit tat. Aber so war es nicht. Magdalene vermisste sie eine Stunde nach dem Mittag immer noch. Sie sagte sich, dass Abwesenheit allein keinen Tadel wert war, weil es genügend harmlose Gründe gab, sich zu entfernen. Aber Elses Hände fehlten, Magdalene musste sich selbst sich an den Tisch stellen und das Fleisch für das Pökeln vorbereiten. Gertrud scheuerte emsig die Schüsseln, die sie dafür brauchte. Magdalene schickte sie ins Lager, um die Säckchen mit dem Salz zu holen und gleichzeitig Ausschau nach Else zu halten.

Gertrud, ein dünnes Geschöpf mit Haaren von der Farbe nassen Strohs, ließ ihren Mund zwischen den blassen Lippen offenstehen. »Suchen soll ich die Else?«, fragte sie. Flüsternd setzte sie fort: »Man hat letztens Wassergeister gesehen. Sie holen Menschen, bei helllichtem Tage! Vielleicht hat ein Wassergeist die Else …«

 

Magdalene brauchte nur die Miene zu verziehen, dann wusste Gertrud Bescheid. Sie duckte sich, nickte und sagte: »Ich geh schon, Frau Rehnikel.«

Wäre Else halb so folgsam, hätte Magdalene zufrieden sein wollen. Gertrud lief im Haus herum, Magdalene hörte ihre Holzpantinen über den oberen Gang klappern. Nach einiger Zeit tauchte sie auf, murmelte kläglich: »Ich habe sie nicht gefunden« und schlug sich erschrocken mit der Hand auf den Mund. »Das Salz! Das habe ich vergessen!«

In der Zwischenzeit wendete Magdalene das Obst, das zum Dörren über dem Herd auf einer Platte lag, und fing an, Kraut zu schneiden. Gertrud kam mit den leinenen Säckchen zurück. Magdalene schüttete eine dicke Schicht Salz in die Schüsseln, bis das Fleisch darunter verschwunden war.

Als Else nach einer weiteren Stunde noch nicht aufgetaucht war, wurde es Magdalene zu bunt. Sie stieg selbst nach oben und sah sich um. Am Ende der schmalen und steilen Treppe stand die Tür zum Erkerzimmer offen.

Else hatte dicht am Fenster in Magdalenes schönem Armlehnstuhl gesessen. Sie war beim Klang der Schritte auf den Treppenstufen aufgesprungen und strich sich die Röcke glatt, aber man sah im ledernen Polster noch die Delle von ihrem Hintern. Sie trug ihr wollenes Mägdekleid mit grauer Schürze, darüber in eigenwilliger Zusammenstellung eine Haube aus zartem Leinen mit einer Spitzenkante, wie die Kleiderordnung sie vielleicht für eine Bürgerin, aber bestimmt nicht für eine Magd zuließ.

Elses Blick heftete sich feindlich und unerschrocken auf ihre junge Herrin. Sie kniff die Lippen zusammen und sagte keinen Ton.

»Seit wann wirst du fürs Faulenzen bezahlt?«, warf Magdalene ihr entgegen. Else zog die Mundwinkel nach unten und wollte sich wortlos an ihr vorbeidrücken, da packte Magdalene die Magd am Ärmel. »Scher dich in die Küche und kümmere dich um die Suppe. Wenn ich dich noch mal beim Faulenzen erwische, sorge ich dafür, dass mein Mann dich hinauswirft!«

Elses Mundwinkel schoben sich nach oben. Es entstand ein unverschämtes Grinsen. »Versucht’s ruhig!«, antwortete sie und polterte in ihren Holzschuhen die Treppe hinunter.

Magdalene ballte ihre Hände zu Fäusten und blieb tief atmend stehen. Ihr Gesicht war dunkelrot geworden, sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Langsam ging sie zum Tisch, legte ihre Schürze ab und faltete sie drei Mal so sorgfältig wie sonst. Von nebenan hörte sie ihren kleinen Sohn rufen, der in seinem Zimmer spielte, von Rosina behütet.

Hänschen war eine Insel des Glücks, ein kleiner Engel. Er war drei Jahre und vier Monate alt und brauchte eine ständige Begleiterin, weil er unentwegt kletterte, hinauslief und alles probierte, was ihm vor die Nase kam. Vor etwas über einem Jahr hatte Georg Rehnikel auf Magdalenes Wunsch Rosina ins Haus geholt, um auf ihn aufzupassen. Rosina hatte sich bei ihrem früheren Dienstherrn in der Kinderbetreuung bewährt, ein gescheites, etwas vorlautes Ding, das fleißig seine Arbeit tat. Sie war gerade zwanzig, nur wenig jünger als Magdalene selbst, und in den sechs Jahren, bevor sie zu Rehnikels kam, bei verschiedenen Handwerkern und Stadtbürgern im Dienst gewesen. Magdalene öffnete die Tür von Hänschens Zimmer und trat ein. Rosina saß auf einem Stuhl am Fenster, über eine Flickarbeit gebeugt, und hob beim Geräusch der Tür den Blick ihrer braunen Augen. Eine Locke ihres Haars war ihr in die Stirn gerutscht. Hans lief auf seine Mutter zu, einen Knopf in der Hand, den er ihr stolz entgegenstreckte.

Magdalene konnte sich nicht mehr vorstellen, wie sie früher ohne ihr Hänschen gelebt hatte. Ihr Tag war erfüllt von den Gedanken an ihn, wie er wuchs, wie schön er war und wie klug. Hans war ein prächtiges Kind mit geraden Gliedern, gesunden Zähnen und dunklen Locken. Er konnte so schnell laufen, dass ihr beim Hinterherrennen manchmal die Luft ausging, besonders auf dem Hof, wo er die Hühner jagte oder ähnlichen Unfug anstellte. Er liebte Pferde und zog seine Mutter oft an der Hand hinüber in den Stall. Sie war sehr jung gewesen, als sie ihn bekommen hatte, aber in den vergangenen drei Jahren war ihr das Kind jeden Tag mehr ins Herz hineingewachsen. Eine Mutter konnte nicht anders als ihr Kind lieben, das war sicher.

Seine braunen Augen blitzten, als er vor ihr stand. Er redete zwar nicht viel, aber wenn, dann besaßen seine Worte Gewicht.

»Ein blauer Knopf«, erklärte er, streckte das Ärmchen mit seinem Fundstück aus und sah sie erwartungsvoll an. Magdalene strich ihrem Sohn über den Kopf und erklärte, dass Knöpfe rund sind, damit sie besser durch die Knopflöcher passen.

Der Junge lief zu Rosina zurück, zog sie am Ärmel, bis die Kindermagd aufstand und ihm zu seiner Mutter folgte. Er zeigte, was ihn bewegte: Rosinas Kleid besaß Knebel als Verschlüsse. »Gar nicht alle rund!«, erklärte er.

Was kann eine Mutter anderes als stolz auf ihr kluges Kind sein? Magdalene öffnete die Tür und wollte gerade das Zimmer verlassen, da erkannte sie draußen eine Bewegung.

Else schritt vorbei. Die Tür stand offen, und sogar Rosina hinter ihrer Herrin konnte sehen, wie die Altmagd über den Gang stolzierte, der außen an den Kammern vorbeiführte. Else trug einen Stapel Wäsche im Arm, feines weißes Leinen mit gerafften Spitzen, teures Zeug. Magdalene stand verblüfft in der Tür, einen Moment zu lange, denn es wäre an Else gewesen, ihrer Herrin Platz zu machen. Else tat es nicht. Sie ging ungerührt an Magdalene vorbei zur Treppe, die nach oben führte, zu den Mägdekammern.

»Else!«, rief Magdalene. »Komm auf der Stelle her!«

Else stockte, drehte sich gemächlich um und kam zurück. Gute drei Schritte von ihrer Herrin entfernt blieb sie stehen.

Magdalene presste mit unterdrückter Wut hervor: »Warum bist du nicht in der Küche?«

»Die Suppe ist fertig«, erwiderte Else spitz.

»Wo willst du hin?«

»In meine Kammer.«

»Was hast du da?«

»Leinen, das seht Ihr. Ihr seid doch nicht blind.«

»Was willst du damit in deiner Kammer?«

Else holte tief Luft, lächelte breit und, wie es schien, gehässig. »Es ist mein Leinen.« Sie betonte das Wort ›mein‹, obwohl es nicht falsch zu verstehen gewesen war. Die beiden Frauen standen einander gegenüber und sahen sich gerade in die Augen, nur, dass Else ein Stück größer war als ihre Herrin. Else fuhr fort: »Ist es recht, dass ich mein Leinen in meine Kammer bringe?«

»Wo hast du das her?«

»Ich spare meine Pfennige«, erwiderte Else mit gerecktem Kinn. Als Magdalene einen Moment lang nichts erwiderte – was hätte sie auch erwidern sollen außer einer Ohrfeige – fügte Else hinzu: »Gute Arbeit gibt herrlichen Lohn, sagt König Salomo«, und schritt ohne Erlaubnis davon, die Treppe ins Dachgeschoss hinauf, wie es ihre Absicht gewesen war.

Magdalene presste die Hand auf die Türklinke, dass ihre Knöchel weiß leuchteten. Der Bibelspruch war reiner Hohn gewesen. Sie musste mit Georg reden. Wer sich so aufsässig benahm, gehörte hinausgeworfen.

Im Kontor war niemand. Georgs Platz an seinem Schreibpult war leer, das Tintenfass verschlossen, die Feder weggeräumt.

Aus dem Innenhof drang das Rumpeln von Wagenrädern. Magdalene lief in den Korridor und öffnete die Tür zum Außengang, von wo man über das Geländer auf den Hof sehen konnte. Ein Wagen war gekommen, und wie in solchen Fällen üblich stand ihr Mann bei der Fuhre und entlud gemeinsam mit dem Fuhrmann Kisten und Fässchen. Bis das Geschäft abgeschlossen war, würde es noch einige Zeit dauern. Else bekam einen Aufschub, aber das würde am Ergebnis nichts ändern.

Magdalene ging zurück zu Rosina, um Hänschen zu holen. Sie nahm ihn in die Arme, das war der beste Trost, den man haben konnte. Mit dem Kind stieg sie nach unten und betrat den Hof, und dort war alles wie gewohnt, Georg Rehnikel lächelte seiner Frau quer über das Pflaster arglos zu. Er ahnte noch nicht, welche unangenehme Aufgabe sie ihm zugedacht hatte.

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