Zeit wie Wasser

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3

Die Zeitung las er nach dem Frühstück von Anfang bis Ende durch, selbst, wenn ihn die Nachrichten und Berichte anödeten. Es reichte, die Artikelüberschriften von einem Tag zu lesen, um im Sessel zur Seite zu kippen, fand er, während er blätterte und dabei vor sich hin murmelte.

Startschuss für die Lesehasen

Licht von allen Seiten

Ein Tag für alle Kinder

So geht Sudoku

Einkaufen wie an der Wolga

Altersversorgung kommt teuer

CDU-Stil gescheitert

Mit Liste und Dose von Haus zu Haus

Tresorknacker unterwegs

Kinder erleben den Wald

Upps, komm Zähne putzen

Wir trauern um …

Hier stutzte er. Ein Name sprang ihm ins Gesicht. Fett gedruckte Zeilen wurden löchrig und verschwammen vor seinen Augen.

Günter Fiedler, stand da. 1949–2008. Günter Fiedler? Ja, das kam hin. Günter war der Nachbar von gegenüber. Früher war er oft stehen geblieben, bevor er in sein Auto stieg, um zum Dienst zu fahren. Er hatte sich an den Gartenzaun gelehnt, herübergegrüßt und manchmal mit der Mutter am Fenster ein Gespräch begonnen. Abends hatte Henry auch mal neben ihm am Tresen im Willi’s gestanden. Und war das nicht erst zwei Wochen her, dass Henry Günter im Supermarkt gesehen hatte?

Er dachte an den Blick, den der ihm im Eingangsbereich des Geschäfts zugeworfen hatte, als er ihn erkannte. Ein merkwürdiger Blick, unter dem sich Henry über die Haare strich. Er war doch gekämmt, das Hemd steckte in der Hose, die Hose hatte keine Flecken? Früher hatten ihm andere Blicke zugeworfen, eklige, geile Typen, die ihm auch schon mal in der Straßenbahn über den Rücken strichen und zwischen die Beine fassten. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm dämmerte, dass sie ihn für »andersherum« hielten. Ekelhaft, dachte Henry. Seitdem konnte er es nicht mehr gut aushalten, wenn er angestarrt wurde.

»Nach langer Krankheit.«

Günters Blässe war also kein Zufall gewesen. Und jetzt war er tot. Keine Abschiede, dachte Henry, keine Abschiede. Einfach so davongehen. Über die Mauer springen. So ist es richtig, so würde er es auch machen. Plötzlich spürte er wieder seinen Magen. Er hielt die Hand dagegen. Heute würde er nichts essen. Auch kein Müsli zum Frühstück und keine Gemüsesuppe zu Mittag. Ein Fastentag.

Als er im Keller die Wäsche in die Maschine stopfte, klingelte das Telefon. Er fluchte leise, ließ die Wäschestücke fallen und lief die Treppe hoch. Der Hörer war nicht an seinem Platz auf dem kleinen Tischchen im Wohnzimmer. Wo hatte er ihn hingelegt? Das dringender werdende Geräusch führte in Mutters Zimmer, zu ihrer Frisierkommode. Das Klingeln hörte auf. Auf dem Weg in die Waschküche setzte es wieder ein, Henry zog den Hörer vorsichtig aus seiner Hosentasche.

»Hallo?«, sagte er keuchend, »hallo?«

»Oh, ist da Brosche? Heinrich Brosche?«

»Ja«, sagte Henry, »und wer zum Teufel sind Sie?«

»Tobias Grün«, war die Antwort, »gut, dass ich Sie erreiche, wir machen eine Meinungsumfrage. Sie kennen doch sicher die Sender ARD und ZDF und auch RTL? Günter Jauch?«

Der Lautsprecher am Gerät war angestellt, die Stimme so durchdringend, dass Henry den Hörer vom Ohr abhalten musste.

»Hören Sie«, sagte Henry gefährlich ruhig, »Sie wissen doch, dass Werbeanrufe verboten sind?«

Der Mann machte keine Pause, er schnappte nicht nach Luft und zögerte keinen Moment, wie sie es manchmal taten, die vermeintlichen Meinungsforscher aus den Callcentern, wenn Henry seine Frage stellte.

»Sicher weiß ich, dass Werbeanrufe verboten sind«, Tobias Grüns Stimme hallte im Waschkeller wider, »aber was soll ich denn machen, es ist doch mein Job!«

»Such dir was Legales, mein Guter«, sagte Henry und drückte auf den Ausknopf.

Drei bis fünf Werbeanrufe in der Woche, dazu ein heiß gelaufenes Faxgerät, das immer wieder die gleiche Werbung ausspuckte. Zettel mit Tannenbäumen darauf, jeweils zwei Tannenbäume in einer Reihe nebeneinander. Man wusste nicht einmal, wofür da geworben wurde. Ein Jagdgrundstück zu vermieten? Abtransport alter Weihnachtsbäume? Gartengestaltung?

Und dann das Türklingeln.

Mindestens an jedem vierten Tag klingelte es und es standen Leute vor der Tür. Zeugen Jehovas, dann Bundeswehrsoldaten, die für Erhaltung und Neugestaltung von Kriegsgräbern sammelten, und der Zeitschriftenwerber, der angeblich nur deshalb Zeitschriftenabonnements verkaufte, weil er mit dem Erlös obdachlose Jugendliche unterstützen wollte.

»Haben auch Sie ein Herz für unsere jungen Menschen!« Mehr noch als diese Anrufe und die Besuche an der Tür fürchtete Henry die Zeit, wenn er die Anrufe nicht mehr sofort beenden, und die Besucher nicht schon an der Schwelle fertigmachen würde. Wenn es so weit käme, dass er Zeitschriftenwerber und religiöse Extremisten ins Haus bitten würde oder einen Anruf von einem vermeintlichen Meinungsforschungsinstitut annehmen und sich mit den Werbern unterhalten, vielleicht sogar streiten würde.

Wenn sich das Mädchen im Starbucks nicht mehr zu ihm umdrehen und lächeln würde, wenn er einen seiner Sprüche losließ. Oder wenn Murat sein schmuddeliges Internetcafé schließen und nach Izmir zurückgehen würde.

»Verstehst du das, Mutter?«, fragte er auf dem Friedhof und das Grab lag ruhig da, der Boden hart, die Knochen darunter kalt.

Die Mutti ist tot, dachte er, sie ist tot. Er stieß die Schaufel kräftig in den Boden und versuchte, sie zu drehen. Vergeblich. Es hatte schon Bodenfrost gegeben, die Narzissenzwiebeln musste er im Frühjahr setzen.

Auf den Stiel gestützt, betrachtete er den Stein, dann die Kastanienbäume. Diese Bäume mochte er, das musste er zugeben. Immer demonstrierten sie, dass sie noch lebten. Im Sommer, indem sie Früchte trugen, die sie später auf die Passanten warfen oder auf den Boden knallen ließen, den ganzen Winter lang durch dicke Knospen, die selbst der größten Kälte trotzten.

Auch Mutter hatte Bäume geliebt.

Im letzten Jahr wollte sie immer wieder fotografieren. Es fing mit den Bäumen an. Die Pappeln, die die Straße säumten, dann die Kinder, die jeden Tag an ihrem Fenster vorbeigingen, die Vögel, deren Rufe sie nachahmte. Sie verlangte nach der Kamera, dieser Billigkamera, die sie behielt, weil Wilhelm sie ihr geschenkt hatte. »Eine Bessere lohnt sich ja für mich nicht mehr«, sagte sie manchmal. Henry war froh, dass sie damit zufrieden war, ihre Umgebung zu knipsen.

Manchmal, zu der Zeit, als sie noch herumlaufen konnte, wartete er besorgt auf die Worte: »Lass uns nach Coswig fahren. Du hast doch ein Auto. Wir könnten doch an die Elbe, einmal noch nach Meißen. In die Heimat.« Er legte sich viele Worte zurecht, um zu verhindern, dass er sie dorthin fahren musste.

Es ist besser, man kehrt nicht an einen Ort zurück, der einem so viel bedeutet, dass man verloren ist für den Platz, an dem man lebt, dachte er. An dieser Formulierung hatte er lange gefeilt.

Er hatte Mutter nach der Wende sofort in den Westen geholt, in seine Nähe. Und dann suchte er dieses Haus für sie. Aber hier war sie immer fremd geblieben. Wie eine Touristin, die die Gegend am liebsten durch die Linse ihres Fotoapparates betrachtet.

Einmal konnte er die Kamera nicht schnell genug aus dem Schrank holen, er stand in der Küche am Herd und rührte Zwiebeln in Butter.

»Gleich, Mutter«, sagte er, »gleich nach dem Essen gebe ich dir die Kamera.«

»Nein, jetzt brauche ich sie, bitte, ich muss sie haben.«

»Aber warum denn jetzt gleich? Du hast doch so viel Zeit, die Bäume zu knipsen.«

»So viel Zeit?«, fragte sie, »so viel Zeit?«

Kurz darauf musste er sie ins Krankenhaus bringen lassen, weil sie nichts mehr zu sich nahm. Eine ganze Nacht lang spuckte sie schwarze, übel riechende Flüssigkeit in die Toilettenschüssel. Henry zögerte. Würden sich die Beschwerden nicht vielleicht doch wieder legen, ohne dass er ihr das Krankenhaus zumuten musste?

Sie sagte nicht, dass sie Schmerzen hätte, hob nur immer wieder den Kopf über der Toilette und schaute ihn geistesabwesend und verstört an, mit diesen fast blinden Augen.

Als er endlich gegen Morgen telefonierte und einen Rettungswagen bestellte, hörte er die Mutter ins Wohnzimmer gehen, Schränke öffnen und mit einem lauten Knall wieder schließen.

Mutter zog Tischtücher heraus, die sie schon lange nicht mehr benutzt hatte, und breitete sie über alle Tische im Haus.

In den nächsten Tagen ging Henry dann an den Tischen und Tischchen vorbei, alle mit sorgfältig gestärkten Tüchern bedeckt wie für eine große Feier, es dauerte Wochen, bevor er die Decken wieder einsammeln und in die Waschmaschine stecken konnte. Nachdem sie alle Tücher verteilt hatte, drückte sich Mutter in die hinterste Ecke des Wohnzimmers, mit starren, weit aufgerissenen Augen sah sie den Sanitätern entgegen. Wie ein Tier, dachte Henry, ein gejagtes Tier.

Er lehnte den Spaten an die Holzbank und setzte sich. Ihm war ein wenig übel im Magen, bestimmt übersäuert, dachte er, und dann fiel ihm auf, dass seit Langem kein Tag mehr vergangen war, an dem er nicht an sie dachte, an dem sie nicht immerzu da war in seinen Gedanken.

Näher als alle Lebenden ist die Mutti mir, dachte er. Und es ist so ärgerlich, dass sie das hier alles nicht sehen kann.

Er legte den Kopf in den Nacken. Die kleinen Knospen an den Kastanienbäumen, die erschienen waren, nachdem die letzten Blätter abfielen, würden noch lange brauchen, bis sie sichtbar größer wurden und plötzlich aufplatzten, aber dann würde alles schnell gehen.

 

Beim nächsten Blick wären schon die Blütenstände zu sehen und nicht lange danach würde ihm der Duft der Kastanien am Eingang des Friedhofs entgegenströmen.

»Wo sind eigentlich die Pappelbilder?«, fragte Henry jetzt laut und eine schwarz gekleidete Frau in der übernächsten Gräberreihe warf ihm einen erschreckten Blick zu. Er hob die Hand und winkte ihr beruhigend zu, bevor er umständlich aufstand, nach dem Spaten griff und dem Rechteck mit dem schwarzen Marmorstein den Rücken kehrte.

4

»Hast du Backpulver da?«, Hella Schulze stand in der Tür, Bernds Frau, daneben der Hund namens Daisy, der unruhige Kreise um sie zog. Henry hatte aus dem Fenster geguckt und sich die Haare gekämmt, als er das Klingeln hörte.

An manchen Tagen zog er sich jetzt erst spät an, Hosen und Jacken aus Sweatshirtstoff, das ersparte ihm das Bügeln.

Diese Trainingsanzüge allerdings waren ein Abstieg, dachte er. Nicht einmal in der Zeit, als er noch den Wodka trank, hatte er sich ein unkorrektes Aussehen durchgehen lassen. Jedenfalls nicht tagsüber.

»Backpulver? Ja«, er ging zerstreut in die Küche. Hella blieb vor der Türe stehen und rührte sich nicht, bis er wiederkam.

»Ich habe gar kein Backpulver, ich backe ja nicht.«

Sein Ton war schroffer als beabsichtigt. Als er ihren Blick auffing, legte er den Kopf schief und grinste versöhnlich.

»Ist was mit dir?«, fragte sie.

»Was soll sein?«, er stellte den Kopf wieder gerade und musterte sie.

Sie sah so aus wie immer, wenn sie zur Arbeit ging. Eine dunkle Hose und ein T-Shirt unter einer Steppweste, die wohl die kräftigen Oberschenkel kaschieren sollte.

Damals bei dieser Tanzveranstaltung im Stadtteilpark trug sie ein Kleid in einem dunklen Blauton, in der Taille eng, der Rock locker und bis zum Knie.

Bernds Hella kleidet sich wie Mutter, hatte er gedacht. Nein, nicht wie Mutter. Wie Mutter früher. Sie hatte Ähnlichkeit mit der Frau, der er als Kind hinterhergesehen hatte, wenn sie sich durch den Flur zur Haustür bewegte und ihr Parfüm für kurze Zeit im Raum zurückblieb.

»Ach, Henry«, Hella bewegte plötzlich den Arm und er befürchtete schon, dass der bei ihm ankommen und auf seinem Arm landen würde. Aber nein, der Arm beschrieb eine Kurve und die Hand landete auf ihrem Bauch unter der Weste, als müsse sie irgendwo untergebracht werden.

Hella redete weiter, als ob sie selbst nicht wüsste, welchen Anblick sie nun bot.

»Unser Hund, die Daisy«, sie fing an, mit der anderen Hand im weißen Fell des Hundes herumzuwühlen, »könntest du vielleicht mal mit ihr rausgehen, ich meine, sie ist so oft alleine, weil ich doch Schichtdienst habe im Krankenhaus und …«

Nein, dachte Henry. Was soll das werden? Beschäftigungstherapie für den trauernden Hinterbliebenen?

»Ich bin allergisch gegen Hunde, weißt du, du Gute«, sagte er, bewegte den Blick von Hella zu Daisy und fing an, sich den Ellenbogen zu kratzen. Hella beugte sich zu dem weißen Zottelfell hinunter und sprach auf den Hund ein, als habe Henrys Bemerkung ihm tiefe Verletzungen zugefügt, streichelte ihn, nickte ihm zu, die Weste ging auf, der Stoff ihrer Bluse, auf dem gerade noch ihre Hand gelegen hatte, spannte. Henry wandte seinen Blick wieder ab und klopfte rhythmisch auf den Türrahmen.

»Danke«, sagte Hella und drehte sich um.

Henry schloss die Tür und ging in die Küche. Das Basilikum auf der Fensterbank sah so schlaff aus wie nach einer Dürreperiode mit nachfolgendem Sturzregen.

Er warf den Topf in den Mülleimer.

Heute würde er kochen, und zwar so wie für Mutter in der Zeit, als er ihr das Essen auf einem Tablett ins Zimmer gebracht hatte. Rouladen mit Rotkohl, ihr Lieblingsessen. Schinken brauchte er, Senf und zartes, abgehangenes Rindfleisch. An der Garderobe griff er nach einer Jacke. Erst als er sie anhatte, bemerkte er, dass es eine Sommerjacke war, die schon seit den Fahrten zum See hier hing. Sachen nicht ordentlich wegzuhängen, war eigentlich nicht seine Art. Er fasste in die Jackentaschen und befühlte den Inhalt. Ein gefaltetes, weißes Taschentuch, ein verpacktes Hustenbonbon und – das Buch, das er in dem Buchladen in der Stadt am See gekauft hatte.

Monatelang war es an diesem Platz gewesen, und wann immer er im Sommer eine Jacke anziehen musste, hatte er nachgefühlt, ob es noch da sei. Aber nie hatte er es aus der Tasche genommen und aufgeschlagen.

Henry brachte die Jacke in den Keller und setzte sich ins Wohnzimmer.

»Der Clown: Der, den der Hund beißt. Nummern und Bilder aus hundert Jahren«, las Henry und drehte das blaue Buch in seinen Händen.

Es war kein Zufall, dass er es gekauft hatte. Als Kind hatte er ein ähnliches besessen, ein Bilderbuch über einen Clown. Jemand hatte es ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt. Nicht die Eltern natürlich. Es war ein verbotenes Buch, eins aus dem Westen.

Er zögerte. Immer noch hatte er Hemmungen, die Seiten aufzuschlagen. So, als könnte ein Buch sein gesamtes Leben verändern, alles auf den Kopf stellen. Ein solches Buch musste man sich aufsparen wie Münzen oder Murmeln oder wie … Lachsschinken oder … ach, was weiß ich, dachte er.

Endlich fing er an zu blättern.

Der Clown saß vor einem Bühnenvorhang, seine Augen verträumt an den Zelthimmel gerichtet. Er war von kleiner Statur, auf den Kopf hatte er sich die Glatze mit einem krausen Haarkranz gezwängt, die Backen waren bemalt, und er trug eine farbige, eckige Pappnase. In den Händen hielt er ein riesiges Instrument, in das er hingebungsvoll blies. Es war eine Art schmale, lange Tuba. Ein Susafon, vielleicht, dachte Henry. Während er blies, warf der Clown dem Fotografen einen verschmitzten Blick zu. Die Augen lächelten.

Henry betrachtete das Foto lange, ließ das Buch sinken und sah in den Garten. Seltsam. Dieser Clown sah aus wie der aus dem Kinderbuch, der ihn damals bis in seine Träume verfolgt hatte.

Er schloss die Augen. Da war das Bild eines Wagens. Ein alter, schäbiger Zirkuswagen, zwei kleine, zwei große Räder, der schwarze Schornstein, ein eher schmales Ofenrohr, das sich durch das Dach bohrte, vorne ein Sitz für den Kutscher. Mit diesem Gefährt kam niemand schnell voran, man zockelte die Landstraße entlang und hatte alles bei sich, was man besaß. Innen gab es Pritschen zum Schlafen, an der Schmalseite übereinandergebaut, einen Tisch, drei Stühle und einen Ofen. An den Fenstern standen kleine Blumentöpfe. Ein solcher Zigeunerwagen mit Blumentöpfchen an den Fenstern wirkte wie die Plastehäuschen seiner Modelleisenbahn. Gemalte Blumentöpfe auf Fensterplaste.

Mit einem solchen wackligen Gefährt war der spanische Artist, um den es in dem Kinderbuch ging, mit seiner Familie durch die Lande gezogen. Bilder aus dem Buch kamen vor Henrys innerem Auge hoch, sie zeigten die Kindheit und vor allem die Arbeit der Artistenkinder.

Auf einem sah man eine riesige rote Tulpe in geschlossenem Zustand, auf dem nächsten Bild hatte sie sich geöffnet. Der Artist jonglierte die Tulpe, in der sich sein zweijähriger Sohn befand. Gegen Ende der Nummer öffnete der Kleine die Tulpe von innen und winkte mit seinen Fähnchen.

Die zweite Serie Bilder zeigte den kleinen Jungen mit bloßem Oberkörper und weiten Shorts, nur durch einen Gürtel in der Hüfte gehalten, genau wie damals die Gewichtheber im Zirkus. Der schmächtige Dreikäsehoch ließ seine Muskeln spielen, er wies auf seinen Bizeps unter dem Hemd, das an dieser Stelle offensichtlich ausgepolstert war wie ein Schalenbüstenhalter. Neben dem Kleinen lagen mächtige Eisenkugeln, mit schwarzen Ziffern beschriftet: 1000 Kilogramm, 2000 Kilogramm. Mit einer Grimasse und mit Gesten seiner Arme demonstrierte der Junge seine Konzentration und auch Angst und Respekt vor den schweren Gewichten.

Im nächsten Bild hob er eines der Gewichte vorsichtig auf, sein Bizeps schwoll, im dritten Bild hielt er die Hantel fast bis in Augenhöhe. Im vierten dann konnte man sehen, dass das Gewicht aus Pappe bestand. Der kleine Artist hielt es locker mit einem Finger und ließ es dann auf den Boden plumpsen. Die Zuschauer, hinter ihm im Bild, bogen sich vor Lachen.

Damals hatte Henry vorgehabt, es ihm gleichzutun, eine Hantel aus Pappe herzustellen und alle mit seinen Künsten als Gewichtheber zu beeindrucken. Er lächelte, als er daran dachte.

Als Clown wird man geboren, dachte Henry, und wenn man einer ist, hat man auch die Verpflichtung, einer zu sein. Er ließ das Buch sinken und schaute aus dem Fenster.

Der Clown aus seinem Bilderbuch war eigentlich ein Artist, ein fantastischer Turner gewesen. Aber nachdem er einmal einen komischen Auftritt hatte, wollte man ihn nie mehr ausschließlich als Artisten sehen. Immer musste er der Clown sein. »Aber erst das Publikum macht dich zum Clown«, sagte Henry halblaut und blätterte zur Einführung zurück.

»Der Clown ist klug und lebhaft, anmutig und schamlos, vielseitig und einfallsreich, mitleidig und schadenfroh. Er beobachtet scharf und reagiert unerwartet. Er zeigt spontan, wie ihm zumute ist. Ein Clown wird wieder das Kind, das er mal war. Er kehrt zurück zu den extremen Reaktionen der Kinder, Lachen und Weinen, Freudenschreie und Schmerzenslaute.

Wie ein Kind scheitert der Clown. Während alle bemüht sind, das Scheitern zu verbergen, obwohl es jeden Tag jedem zustößt, ob im Kleinen oder im Großen, scheitert der Clown bei allem, was er tut. Er führt dieses Scheitern vor. Die Zuschauer lachen über ihn und über sich selbst. Einer, der stellvertretend und schöner scheitert als sie, das ist der Clown.

Ein Clown erzählt eine Geschichte. Er ist ein Dichter, der seinen Blick auf die Welt vorführt. Niemals lernt der Clown aus dem, was er auf der Bühne erlebt. Immer wird er auf seiner Überzeugung beharren und ohne Selbstkritik weiterkämpfen. Dabei wird er kleine Siege erringen und am Ende doch verlieren. Der Clown öffnet sich, zeigt seinen Schmerz, drückt ihn mit dem Gesicht und dem Körper aus. Er behält die Qual, das Leiden nicht für sich. Das Publikum, das seinen eigenen Schmerz verbirgt, erlebt den Schmerz des Clowns. Manchmal lacht es und stutzt dann, weil es über das Leid und vielleicht über seinen eigenen Tod gelacht hat.

Aus Tragik wird Komik. Als Spötter überschreitet der Clown die Grenzen der Moral, die Tabus und stellt sich den menschlichen Schwächen.

Letzten Endes ist der Clown eine Symbolfigur der Gesellschaft: Er ist der Letzte, der, den der Hund beißt.«

Ja, dachte Henry. Genau so ist es. Er ist der Letzte, der, den der Hund beißt.

Er blieb nachdenklich in seinem Sessel sitzen. Als Kind hatte ihn am meisten die Vorstellung beschäftigt, herumzuziehen und niemals irgendwo zu bleiben. Alles, was man besaß, dabei zu haben und jede Woche an einem anderen Ort zu Hause zu sein, die Welt ständig neu, aus einem anderen Blickwinkel zu erleben. Für diesen Traum habe ich in dem richtigen Staat gelebt, dachte er jetzt, ausgerechnet hinter einer Zonengrenze. Aber zurückgehalten haben die mich nicht. Er drehte das Buch in den Händen.

Es hatte ihn an etwas erinnert, das erst ein paar Jahre zurücklag. Henry fing an, die Schubladen von Mutters Wohnzimmerschrank aufzuziehen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?