Buch lesen: «Flucht»
Christian Ultsch
Thomas Prior
Rainer Nowak
F L U C H T
Wie der Staat
die Kontrolle verlor
INHALT
Cover
Titel
Vorwort
Prolog: Hinter Merkels Rücken
I. DIE BALKANROUTE GEHT AUF
Flüchtlinge auf dem Fahrrad
Kurz entdeckt die Flüchtlingskrise
Merkel und das Mädchen: „Das können wir nicht schaffen!“
II. DIE AUSNAHME WIRD ZUR REGEL
Der Ausnahmetag
Willkommensstress oder: Ein Land, zwei Welten
Panik am Ballhausplatz
In Merkels Waschmaschine
Umwege
Es geht ja doch!
Die Retourkutsche
Stimmungsumschwung
Chaos
Mehr als ein Zäunchen
Der Weg zur Obergrenze
Faymanns Wende
Karriere dank Krise
III. DIE BALKANROUTE SCHLIESST SICH
Die fünf Polizeichefs
Kommunikator Kurz
Der kalkulierte Eklat
Der Türkei-Deal
IV. DIE FOLGEN
Faymanns Ende
Epilog: Was wurde aus …?
Quellenvermerk
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Impressum
VORWORT
Österreich nimmt meistens eine seiner Größe angemessene Zuschauerrolle in der Weltpolitik ein. In der Flüchtlingskrise jedoch fand sich die Republik zwischen September 2015 und März 2016 unversehens im Zentrum des Geschehens wieder, nicht nur als Transit- und Asylland, sondern auch als Akteur auf der politischen Bühne. An wesentlichen Marksteinen der Krise waren österreichische Regierungsmitglieder an Entscheidungen beteiligt, die ganz Europa bewegten und beinahe aus den Angeln hoben. In diesem Buch erzählen wir, wie Österreich und andere Staaten aus humanitären Motiven die Kontrolle verloren und danach monatelang verzweifelt darum rangen, sie wiederzuerlangen. Die Geschichte handelt von sträflicher Kurzsichtigkeit und fiebrigen Stimmungsschwankungen, von nackter Angst und unerschütterlichem Verantwortungsbewusstsein, von großer Hilfsbereitschaft und einer Ausnahmesituation, die Helfer, Staatsdiener und Politiker an ihre Grenzen brachte. Diese sechs Monate haben Europa und Österreich verändert. Das Land ist seither nach rechts gerückt. Die Krise hat politische Karrieren beschleunigt – und zerstört.
Im Fokus unserer Darstellung stehen nicht die Einzelschicksale von Flüchtlingen. Wir haben eine andere Perspektive gewählt. Auf den folgenden Seiten rekonstruieren wir die politischen Abläufe und Folgen des langen Flüchtlingssommers.
Dafür haben wir zwischen Wien, Berlin, Brüssel, Ljubljana, Budapest und Skopje mit Dutzenden Entscheidungsträgern gesprochen: mit Ministern und Staatssekretären, Kabinettsmitarbeitern und Sektionschefs, mit Beamten und Botschaftern, Logistikunternehmern und Koordinatoren, mit Helfern und Vertretern internationaler Organisationen. Manche von ihnen zogen es vor, anonym zu bleiben. Doch Auskunft gaben alle erstaunlich bereitwillig. Ihrer Offenheit verdanken wir neue Einblicke in eine Krise, die immer noch polarisiert.
Prolog
HINTER MERKELS
RÜCKEN
Ende Februar 2016: Sebastian Kurz blickt in besorgte Gesichter. Er hat im ersten Stock des Außenministeriums am Wiener Minoritenplatz 8 seine engsten Berater um sich geschart. Hinter seinem kleinen höhenverstellbaren Schreibtisch hängt eine Collage, die eine auf den Kopf gestellte Europakarte zeigt. Das Kunstwerk, Olaf Ostens „Kaleidoscope“, bringt die Stimmung ganz gut auf den Punkt. Europa steht Kopf. Fast eine Million Migranten sind in den vergangenen sechs Monaten quer durch den Kontinent gezogen. Damit soll nun Schluss sein. Fünf Staaten – Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien – wollen die Grenzen im Alleingang dichtmachen. Die Krise steuert ihrem Finale zu. Nur wie die Geschichte ausgeht, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen.
Alles hängt jetzt von den mazedonischen Sicherheitskräften ab. Es steht viel auf dem Spiel, vielleicht sogar die Karriere des ÖVP-Überfliegers. Sebastian Kurz hat volles Risiko genommen und hinter dem Rücken der mächtigsten Frau Europas eine Allianz geschmiedet, um die Balkanroute für Flüchtlinge an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland zu schließen. Er ist keineswegs allein am Werk gewesen. Die Slowenen hatten als Erste die Idee aufgebracht und über Monate die Polizeikooperation entlang des Flüchtlingstrecks im ehemaligen Jugoslawien vorangetrieben. Ungarn hat den Mazedoniern Tausende Rollen Nato-Stacheldrahtzaun und – ebenso wie Slowenien, Kroatien, die Slowakei, Tschechien und Polen – Polizisten zur Verstärkung an der Grenze geschickt. Doch Kurz ist spätestens seit der Westbalkan-Konferenz am 24. Februar 2016 in Wien für alle sichtbar zur Galionsfigur der Grenzschließer geworden.
Deshalb kann er jetzt auch alles verlieren, wenn etwas schiefläuft. Und genau so sieht es im Moment aus. Immer mehr Menschen drängen sich im Flüchtlingslager Idomeni an der griechischen Nordgrenze. Über 7000 sind es vier Tage nach der Wiener Konferenz bereits. Tausende irren durch Griechenland, gehen zu Fuß auf der Autobahn Richtung Norden. Und immer noch setzen täglich 3000 Menschen in Schlauchbooten von der türkischen Küste auf griechische Inseln über. Doch die Mazedonier lassen nur noch ein paar Dutzend Syrer und Iraker über die Grenze, manchmal auch gar niemanden. Die Regierung in Athen stellt dramatische Hochrechnungen auf: Bis zum Sommer könnten 200 000 Flüchtlinge in Griechenland gestrandet sein. Die Griechen präsentieren auch einen Schuldigen für ihr Dilemma: Für sie ist Österreich der Drahtzieher hinter der dichten Grenze in Mazedonien. Hunderte Demonstranten protestieren vor der österreichischen Vertretung in Athen.
Die Republik sitzt auf der internationalen Anklagebank. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat die Grenzschließung als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention gebrandmarkt. Und auch die deutsche Kanzlerin macht Stimmung gegen die von Österreich orchestrierte Politik auf der Balkanroute. „Das ist genau das, wovor ich Angst habe. Wenn der eine seine Grenze definiert, muss der andere leiden“, sagt sie in der ARD-Talkshow von Anne Will. Ihre verdammte Pflicht sei es, einen europäischen Weg zu finden. Und damit meint Angela Merkel ihr Abkommen mit der Türkei, das noch immer nicht unterschrieben ist. Der Außenminister aus Wien hat sie ausmanövriert, und das bekommt er jetzt zu spüren.
Am 29. Februar setzen ein paar Hundert Migranten in Idomeni zum Sturm auf die mazedonische Grenze an. Sie verwenden eine lange Metallstange als Rammbock und rennen damit gegen den Stacheldrahtzaun an. Mit Zangen schneiden sie Löcher hinein. Doch der Durchbruchversuch scheitert. Die mazedonische Polizei treibt die Flüchtlinge mit Tränengas zurück. Die Bilder seien ein Beleg dafür, dass nationale Wege nicht zur Lösung führen, sagt der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier am nächsten Tag in Washington. Im Kabinett von Sebastian Kurz setzt das große Nervenflattern ein. Seine Entourage rechnet mit dem Schlimmsten. Was, wenn sich bei einem Sturm auf die mazedonische Grenze ein Kind im Stacheldraht verfängt? Kann Kurz solche hässlichen Bilder politisch überleben? Ein Mitarbeiter des Außenministers setzt vorsorglich eine Erklärung auf, um im Ernstfall mit den richtigen Worten gewappnet zu sein.
Idomeni, das überfüllte Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze, ist zu einer Arena geworden, die Aktivisten, Helfer und Journalisten aus aller Welt anzieht. Sie berichten in Echtzeit, sie fangen das Elend ein und schüren die Empörung. Die Diplomaten im Wiener Außenamt eilen mit besorgniserregenden nachrichtendienstlichen Berichten über die Flure: Vor dem gesperrten Grenzübergang zu Mazedonien seien an vorderster Front auch ehemalige Elitesoldaten aus dem Irak und Syrien gesichtet worden, die sich unter die Flüchtlinge gemischt hätten. Und die griechischen Behörden seien nun wieder dazu übergegangen, massenhaft Migranten nach Norden zu karren.
Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Damm bricht. Zwei Mal schon, in der letzten Augustwoche und Anfang Dezember 2015, hatte Mazedonien vergeblich versucht, seine Grenze abzuriegeln. Kann es beim dritten Mal gelingen? Kurz und seine Einflüsterer glauben zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Schließung der Balkanroute an der mazedonischen Grenze wirklich funktioniert. Es ist für sie von Anfang an nur ein Versuch gewesen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Mehr nicht. Was sich im Nachhinein wie eine weitsichtige Strategie ausnehmen wird, ist nichts weiter als ein waghalsiges Experiment mit ungewissem Ausgang. Fünf oder sechs Tage werde der Zaun in Mazedonien halten. Länger nicht. So erwarten es die Berater von Sebastian Kurz zunächst. Und danach werde ein Stein nach dem anderen fallen, erst in Serbien, dann in Kroatien und Slowenien. Und am Ende, so glaubt man noch Anfang März 2016 im Außenamt, werden Zehntausende Flüchtlinge vor Spielfeld stehen. Und was dann? Soll dann etwa geschossen werden? Das kommt nicht infrage. In den Schubladen des Innenministeriums liegen Einsatzpläne, um im Fall des Falles gemeinsam mit dem Bundesheer den Grenzschutz zu verstärken. Doch wie lange könnte es Österreich politisch durchstehen, massenhaft Flüchtlinge von der Einreise abzuhalten?
Es sind aufwühlende Stunden und Tage. Der mazedonische Außenminister ruft mehrmals täglich bei Kurz an. „Wir halten das nicht mehr lange durch“, sagt Nikola Poposki immer wieder. Der Druck auf ihn und seine Regierung ist enorm: aus Brüssel, Berlin und aus Washington. Hochrangige US-Amerikaner intervenieren. Am 3. März 2016 sitzt ihm in seinem Außenministerium in Skopje der „Mr. Balkan“ des State Department gegenüber: Hoyt Brian Yee, der Unterstaatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten. Und dessen Sorge gilt nicht nur der Staatskrise, in die Nikola Gruevski, der zwielichtige Expremier und Parteichef Poposkis, Mazedonien mit seinem korrupten und autoritären Regierungsstil manövriert hat. Die USA sehen in diesen Tagen auch die Stabilität ihres Nato-Verbündeten Griechenland unter der Last der Flüchtlingsmassen in akuter Gefahr. Und deshalb empfehlen sie dringend, die Grenzen offen zu halten. „Wie viele Flüchtlinge nehmt ihr? 15 000 täglich?“, fragt Poposki seine US-Gesprächspartner zurück und trifft einen wunden Punkt. Die Supermacht hat bisher nur wenige Schutzsuchende aus Syrien aufgenommen.
Bei Kurz beklagt sich Poposki auch über massiven Gegenwind aus Deutschland. Frank-Walter Steinmeier habe mehrere Diskussionen mit ihm geführt und sich dabei entsetzt über die humanitären Zustände im griechischen Grenzort Idomeni gezeigt. Wie lange können die Mazedonier noch Kurs halten und ihre Grenzen abschotten? „Ich kann das nicht gegen den Wunsch Deutschlands und der USA machen“, sagt Poposki. Kurz beruhigt seinen mazedonischen Amtskollegen. Denn er weiß, dass die Regierung in Berlin gespalten ist. Für Realpolitiker ist klar: Deutschland profitiert von der Balkan-Aktion, es kommen nun deutlich weniger Flüchtlinge ins Land. Steinmeier und Merkel geißeln die Grenzschließung zwar öffentlich, doch im Lager der Kanzlerin, sogar in ihrem engeren Umfeld, sind viele dafür. Und sie zählen zu Verbündeten von Kurz. Besonders gut ist sein Draht zu Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Er bittet sie und auch Innenminister Thomas de Maizière, ihre wohlwollende Haltung in Skopje zu deponieren und der mazedonischen Regierung bei der Grenzschließung den Rücken zu stärken. Ein Husarenstück: Der österreichische Außenminister organisiert Anrufe deutscher Minister in Mazedonien, damit sie dort auf informellem Weg die öffentliche Position ihrer Kanzlerin unterlaufen.
Seit Monaten hat Kurz auf der Suche nach Alliierten seine Fäden nach Deutschland gesponnen. Anfang Jänner 2016 schon weiht er auch das Umfeld Merkels vorzeitig in die österreichischen Pläne ein, eine Obergrenze für Flüchtlinge einzuführen und die Balkanroute zuzudrehen. Er spricht darüber mit Innenminister de Maizière, CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder und mit Kanzleramtsminister Peter Altmaier. Doch man glaubt ihm in Berlin anfangs nicht, denn vom österreichischen Regierungskoordinator Josef Ostermayer hat man zu diesem Zeitpunkt noch anderes gehört.
Mit den Bayern ist Kurz ohnehin seit Beginn der Flüchtlingskrise auf einer Linie. Besonders enge Kontakte pflegt er mit der jungen Garde, mit CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer oder CDU-Finanzstaatssekretär Jens Spahn. Zu seinen Freunden gehört auch der ehemalige CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, den Kurz bei jeder Gelegenheit in den USA oder in München trifft. Die Fühler des Freiherrn reichen noch immer tief in die Union hinein. Kurz sucht zudem die Nähe zu Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. „Hat sich Merkel schon bedankt?“, wird ihn der alte Haudegen ein paar Wochen nach Schließung der Balkanroute fragen. Sie alle helfen dem jungen Außenminister, den Zorn der deutschen Kanzlerin abzufedern.
Oder ist es Merkel am Ende insgeheim ohnehin recht gewesen, dass die Mazedonier die Flüchtlinge aufgehalten haben? Hat sie ein doppeltes Spiel getrieben? Das glauben bis zum heutigen Tag viele österreichische Minister und Regierungsbeamte. Weder im Bundeskanzleramt noch im Außenamt in Wien sind deutsche Interventionsversuche erinnerlich. „Sie wollten uns nicht stoppen. Sie wollten nur nicht selbst als diejenigen gelten, die schließen“, sagt ein hochrangiger Diplomat. Im Rückblick tendiert auch der damalige mazedonische Außenminister Nikola Poposki zu diesem Deutungsmodell. „Es gab eine stille Zustimmung Deutschlands zur Schließung der Balkanroute. Die deutschen Politiker wünschten, dass wir es tun, aber sie änderten ihr Vokabular nicht.“ Auf offener Bühne aber kennt Angela Merkel nur ihren Plan A, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Alles andere sind für sie Scheinlösungen, die dem europäischen Geist widersprechen, weil sie zulasten eines Mitgliedstaats gehen: Griechenland.
Am Ende wird der Flüchtlingsstrom versiegen. Der Wall an der Grenze zu Griechenland hält. Vier Wochen nach der Wiener Balkankonferenz tritt auch das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei in Kraft. Die Westbalkanroute schließt sich. Und eine Ausnahmesituation, die Europa ein halbes Jahr lang in Atem gehalten hat, findet ihren Abschluss.
I.
DIE BALKANROUTE
GEHT AUF
FLÜCHTLINGE
AUF DEM FAHRRAD
Peter Kitzberger traut seinen Augen nicht, als er Anfang Juni 2015 in seinem Audi von einer Sicherheitsinspektion des neuen österreichischen Konsulats in Bitula zurück in die mazedonische Hauptstadt Skopje fährt: Auf der Autobahn kommen ihm auf den Pannenstreifen beider Fahrtrichtungen Flüchtlinge auf Fahrrädern entgegen. Bei 288 hört er auf zu zählen. Der österreichische Polizeiattaché beschließt, sich die Situation an der griechisch-mazedonischen Grenze in Gevgelija genauer anzusehen.
„Las Vegas des Balkan“ nennt sich das schmucklose, staubige 15 000-Seelen-Städtchen kokett. Seine glitzernden Attraktionen heißen Princess, Flamingo und Senator. Mit Kasinos und Zahnarztpraxen lockt Gevgelija Griechen aus dem Nachbarland; die Hafenstadt Thessaloniki ist nur 70 Kilometer entfernt, weniger als eine Autostunde. Doch in diesem Frühsommer suchen hier andere ihr Glück. Sie stechen dem österreichischen Polizeiattaché sofort ins Auge. In kleinen Gruppen streifen Flüchtlinge mit Rucksäcken umher. Noch dürfen sie die Züge der Staatsbahn nicht besteigen, noch müssen sie sich irgendwie weiter in Richtung Norden nach Serbien durchschlagen. Wer Geld hat, nimmt ein Taxi zu maßlos übertriebenen Preisen. Andere gehen bei Nacht zu Fuß über Landstraßen und Bahntrassen, immer der Gefahr ausgesetzt, überrollt oder von Räuberbanden überfallen zu werden. Und manche kaufen sich in Gevgelija für 300 Euro alte Fahrräder, die sie am Ende ihrer Autobahntour in Tabanovce an der serbischen Grenze für höchstens 30 Euro wieder verscherbeln können oder einfach liegen lassen. Von dort bringen Wucherer die Gefährte wieder zurück nach Gevgelija. Ein einträgliches Geschäft. Doch das ist erst der Anfang. Die mazedonische Gemeinde an der Grenze zu Griechenland wird zu einem Markt- und Umschlagplatz der Flüchtlingskrise. Händler bieten Getränke, Essen, Zigaretten und Handy-Ladekabel, verlangen für einen Laib Brot bis zu 16 Euro.
Kitzberger hat den Exodus schon länger auf seinem Radar. Seit April sickern Migranten in großer Zahl aus Griechenland ein. Im Frühsommer wird der Strom breiter, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht sich die Zahl der illegalen Migranten. 1000 pro Tag überschreiten nun die Grenze zu Mazedonien. Es hält sie niemand mehr auf. Die Balkanroute ist aufgegangen: In Kos, Lesbos, Leros, Samos und Chios, den griechischen Inseln nahe der türkischen Küste, landen jeden Tag Hunderte Flüchtlinge in überladenen Schlauchbooten, manchmal direkt vor den Augen der badenden Touristen. Weggeworfene orange Schwimmwesten made in China säumen die Strände. Die nächste Etappe auf dieser Reise der Hoffnung ist weit weniger riskant. Fähren bringen die Gestrandeten nach Athen oder Thessaloniki, und von dort geht es gen Norden nach Mazedonien, dann über Serbien und Ungarn bis nach Österreich und nach Deutschland und Schweden. Auf sozialen Medien kursieren detaillierte Reiseführer für Flüchtlinge – mit konkreten Tipps und Warnungen. Auf WhatsApp und Viber haben sich Selbsthilfegruppen gebildet. Für einen Teil des Trips, auf jeden Fall bis an die ungarische Grenze, sind schon im Juni 2015 keine Schlepper mehr nötig.
Die mazedonische Polizei wird der Lage nicht mehr Herr, sie stellt die Grenzkontrollen ein. Es kommen einfach zu viele. Am 20. Juni kapituliert die ehemalige jugoslawische Teilrepublik offiziell. Das Parlament in Skopje verabschiedet ein neues Gesetz: Fortan hat jeder Einreisende 72 Stunden Zeit, Asyl zu beantragen oder das Land zu durchqueren und zu verlassen. Asyl in Mazedonien will niemand, alle wollen in den Norden. Jetzt dürfen die Flüchtlinge auch in Zügen und Bussen weiterreisen. Serbien verfügt bereits über ähnliche Regelungen. Der staatlich organisierte Weitertransport auf der Balkanroute hat begonnen. Mazedonien winkt durch. Das spricht sich herum und zieht noch mehr Flüchtlinge an. Auf dem Provinzbahnhof von Gevgelija spielen sich chaotische Szenen ab. Zwei Züge fahren pro Tag nach Serbien. Doch das ist zu wenig. Regelmäßig bricht Panik auf dem Bahnsteig aus.
Ungarn schlägt eine komplett andere Richtung ein. Es will einen Zaun hochziehen. Das hat die Regierung in Budapest am 17. Juni, nur drei Tage vor der mazedonischen Öffnung, bekanntgegeben. Ministerpräsident Viktor Orbán muss dafür heftige Schelte einstecken. Europa ist tief zerrissen und damit in der Flüchtlingsfrage gelähmt. Chaos breitet sich aus. Die Kombination aus offenen Grenzen, Taktiken des Durchwinkens und einsetzender Torschlusspanik nach den angekündigten Abschottungsversuchen löst eine gewaltige Dynamik auf der Balkanroute aus. Auf dem Flüchtlingstreck setzt ein regelrechter Run ein. Im Juni wagen 31 000 Menschen ihr Glück, im Juli 63 000, im August 108 000 und im Oktober dann 208 000. Griechenland, Mazedonien und Serbien sind nur die ersten Staaten, die die Kontrolle verlieren. Weitere werden im Sommer, Herbst und Winter 2015 noch folgen.
Der perfekte Sturm
Peter Kitzberger, Österreichs Polizeiattaché in Skopje, hält seine Beobachtungen in Berichten an das Bundesinnenministerium fest. Er meldet bereits im Juni, dass die Einführung der 72-Stunden-Regeln in Mazedonien und Serbien zu einem nicht mehr bewältigbaren Strom von Migranten an die Schengen-Außengrenze in Ungarn führe. Wien ist vorgewarnt. Nicht erst seit jetzt. Das Heeresnachrichtenamt hat die Krisenregionen in Europas Nachbarschaft von Nordafrika über Syrien bis Afghanistan schon lange im Blick. Die Analytiker hinter den dicken Mauern der Theodor-Körner-Kaserne in Wien-Penzing sehen bereits im März 2011 in einem Bericht höchste Belastungen für die Grenzsicherheit heraufdämmern.
Kriege und Armut lösen Migrationsströme aus. Das ist keine große Erkenntnis. Doch man nimmt sie erst wahr, sobald die Flüchtlinge vor der eigenen Haustür stehen. Ob in politischen, polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Runden: Seit Jahren beklagen sich Italien, Griechenland, Spanien oder auch Bulgarien, die Länder an Europas südlicher Außengrenze, über den Andrang von Migranten. Doch die Vertreter der anderen Staaten hören meist weg. Sie sind nicht betroffen. Das ändert sich dramatisch im Flüchtlingssommer 2015. Auf einmal drängen die Flüchtlinge massiv in den Fokus. Eine verdrängte Realität wird sichtbar. Und mit den Bildern kommen auch die Emotionen, mitfühlende und abweisende.
Bis zum Anfang des Sommers prägen noch Flüchtlingsboote vor der italienischen Küste das öffentliche Bewusstsein. Am 18. April kentert 200 Kilometer vor der Insel Lampedusa ein mit Flüchtlingen vollgepferchter Fischkutter. Anfangs geschätzte Opferzahl: 700 bis 800 Tote (14 Monate später wird die Zahl nach Bergung des Wracks auf 500 korrigiert). Europa ist bestürzt. Die Regierungschefs der EU eilen vier Tage später zu einem Sondergipfel. Sie beschließen einen Zehnpunkteplan, verdreifachen die Mittel für Seenotrettung und sagen wieder einmal den Schleppern den Kampf an. Auch von einer fairen Verteilung von Flüchtlingen ist die Rede. Auf dem Reißbrett der EU-Kommission nimmt sich alles ganz schlüssig aus. Künftig soll es sogenannte Hotspots geben. Und von diesen Erstaufnahmezentren auf italienischen und später auch griechischen Inseln aus sollen die Flüchtlinge zugeteilt werden. Niemand denkt daran, dass sich die Flüchtlinge dort nicht aufhalten lassen und die Kapazitäten dieser Einrichtungen binnen kürzester Zeit sprengen werden. Vor allem aber vergessen die Idealisten und Bürokraten, dass Solidarität auch in dieser Krise nur ein Wort ist.
Brüssel arbeitet einen Plan für verpflichtende Quoten aus; der Vorschlag fällt bei einem Gipfel Ende Juni durch. Die osteuropäischen Staaten stemmen sich gegen zwangsweise Zuteilungen, die Briten klinken sich aus. Und so bleibt es vorerst bei freiwilligen Willensbekundungen, binnen zwei Jahren 60 000 Flüchtlinge aufzunehmen, davon 40 000, die sich schon in Griechenland und Italien aufhalten. Eine lächerlich kleine Zahl, ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts dessen, was in den kommenden Monaten auf Europa zukommen wird. Der schöne Verteilungsschlüssel, den Experten der EU-Kommission mit allerlei wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Indikatoren gewichtet haben, wird von der Wirklichkeit weggespült. Doch der Streit um mangelnde Solidarität und ungleiche Lastenverteilung, um Regeln und ihre Ausnahmen, um die richtige Herangehensweise in dieser Flüchtlingskrise wird bleiben und eine immer tiefere Kluft ins Gefüge der Union reißen. Bei einer ihrer schwersten Herausforderungen lähmt sich die EU selbst. Die Zeit nationaler Alleingänge bricht an.
Spätestens im Juli 2015 ist klar: In diesem Jahr kommen erstmals mehr Migranten über den Balkan als über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien. Oberst Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität und des Menschenhandels im Bundeskriminalamt, schlägt am 1. Juli in einer Pressekonferenz Alarm. Mehr als 20 224 Personen hätten bis Mai 2015 illegal die ungarisch-österreichische Grenze passiert, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Doch das ist nur ein kleiner Vorgeschmack. Neun Tage später warnt der türkische Europaminister Volkan Bozkir die EU eindringlich vor einer neuen Flüchtlingswelle aus Syrien. Die Aufnahmekapazität seines Landes sei erschöpft. Zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt das Land. Lediglich 70 Millionen Euro Flüchtlingshilfe hat die EU der Türkei zugesagt. Und auch dieses Geld kommt nicht an.
Die Regierungen zwischen Athen, Wien und Brüssel erkennen die Zeichen nicht. Sie stecken die Köpfe in den Sand, anstatt sich vorzubereiten. Kaum jemand rechnet jedoch zu diesem Zeitpunkt auch nur annähernd mit der Dimension dessen, was auf Europa in der zweiten Jahreshälfte zurollt, weder die Spezialisten vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) noch der österreichische Auslandsnachrichtendienst, der im Juni eine Taskforce zur Balkanroute einrichtet. Das Heeresnachrichtenamt (HNA) übernimmt eine Aufgabe, die in den kommenden Monaten unerlässlich sein wird. Es versorgt die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Äußeres sowie das Bundeskanzleramt mit Zahlen und Fakten, mit einem Aviso, welche Migrationsströme in den nächsten 48 bis 72 Stunden zu erwarten sind. Das Ausmaß wird die kühnsten Prognosen sprengen.
Ein perfekter Sturm hat sich zusammengebraut, eine Mischung aus massivem Migrationsdruck und außer Kontrolle geratenen Sogwirkungen. Nach vier Jahren Krieg in Syrien haben viele Flüchtlinge die Hoffnung aufgegeben, bald in ihre Heimat zurückzukehren. Aus Aleppo, das syrische und russische Kampfflugzeuge bombardieren, strömen weitere Schutzsuchende außer Landes. In den Nachbarstaaten hat sich die Situation verschlechtert. Der Libanon hat die Grenzen dichtgemacht. 1,2 Millionen Syrer tummeln sich in dem Fünf-Millionen-Einwohner-Land. Wer es in den Zedernstaat geschafft hat, muss um teure Aufenthaltsgenehmigungen ansuchen. Die Gastfreundschaft neigt sich dem Ende zu. Flüchtlingslager gestattet die Regierung in Beirut nicht, sie hat die palästinensischen Camps noch in schlechter Erinnerung. Im Libanon hausen die Schutzsuchenden in Garagen oder auch unter Plastikplanen zwischen Gewächshäusern im Bekaa-Tal. Die internationale Gemeinschaft lässt sie im Stich. Dramatische Appelle sind verhallt, Hilfsorganisationen haben aus Geldmangel Lebensmittelrationen im Libanon und in Jordanien kürzen müssen. Auch Österreich leistet nur unterdurchschnittliche Beiträge. Viele kommen nun mit dem Flugzeug oder per Bus aus dem Libanon in die Türkei. Noch brauchen sie dort keine Visa.
In der Türkei selbst sind die Flüchtlinge nicht als solche anerkannt. Anfangs haben sie keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, Kinder dürfen nicht in die Schule. Das soll sich ändern, aber erst später. Zu spät. Immer mehr erkennen keine Perspektive mehr für sich und ihre Nachkommen. Außer in Europa. In Griechenland hat sich eine Lücke geöffnet, die nun Tag für Tag größer wird. Die Chancen, auf den gelobten Kontinent zu gelangen, steigen. Die Schlepperpreise sind gesunken. Und die Türkei lässt die Zügel locker, in Izmir treiben die Menschenschmuggler ihre Geschäfte ganz offen, in den Schaufenstern werden Schwimmwesten feilgeboten. Die türkischen Behörden wollen oder können die Migranten nicht aufhalten. Die Türkei wird zum Durchhaus. Und es strömen immer mehr auf die griechischen Inseln. Sie sehen nun: Der Weg ist frei. Freunde und Verwandte schicken erste Bilder aus Deutschland, Schweden oder Österreich. Die Masse macht die Migranten stark. Es kommen immer mehr. 56 Prozent der illegalen Ankömmlinge in Griechenland stammen aus Syrien, 24 Prozent aus Afghanistan, zehn Prozent aus dem Irak, rechnet die Internationale Organisation für Migration am Ende des Jahres vor. Ein ungefährer Richtwert. Denn Unzählige führen gar keine Ausweise mit sich. Viele versuchen nun ihr Glück, auch Pakistaner, Iraner und andere. Es ist leicht, in der Menge unterzutauchen. Es wird kaum noch registriert.