Unerhörte Nachrichten

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Unerhörte Nachrichten
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Christian Lorenz Müller

Unerhörte Nachrichten

Roman


Die Drucklegung dieses Buches

wurde gefördert durch die Kulturabteilungen

von Stadt und Land Salzburg.


www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1281-8

eISBN 978-3-7013-6281-3

© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Umschlaggestaltung: Leopold Fellinger

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Danksagung

„Und wäre es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, dass wir auch in der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die, quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?“

W.G. Sebald, Austerlitz

1

Es gibt keine Leitungen, es gibt nur diese Kratzer über der Kreuzung. Wer an der Haltestelle steht und kurz hinauf in den Himmel schaut, sieht ein wirr zerschrammtes Blau. Allein wer die Stromabnehmer der zufahrenden Busse im Blick hat, kann die parallel verlaufenden Ritzen und Riefen erkennen, die Scharten und Schrunden. Wenn der Abend kommt, wird vieles deutlicher. Blenden die Autos ihre Scheinwerfer auf, schimmern die Kratzer plötzlich blank in der Dämmerung. Dann wird eine Ordnung erkennbar, dann wird es leichter, den Schrammen zu folgen, weg vom betriebsamen Platz, hinein in die Nacht.

Prähausner stieg in den O-Bus und setzte sich an einen Platz am Fenster, der gerade frei geworden war. Das Fahrzeug ruckte an, dann blieb es wieder stehen. Durch die Hintertür, die sich noch einmal zischend öffnete, drängelten etliche Mädchen in Franzis Alter herein. Ganz in der Nähe des Redakteurs sammelten sie sich mit Gekicher im Gang. Sie griffen nach den Halteschlaufen und schwankten übertrieben stark hin und her, als der Bus endgültig anfuhr. Parfumgeruch süßelte durch das Fahrzeug. Prähausner, der noch immer Herthas hysterische Stimme im Ohr hatte, fragte sich, ob eines der Mädchen schon einmal im Piercing-Studio gewesen war. „Nasenringe! Sie hat sich nicht die Ohrläppchen durchstechen lassen, sondern die Nasenflügel. Beide!“ Herthas Stimme war aus Prähausners Telefon geschrillt, als er auf dem Weg zur Bushaltestelle gewesen war. Die teuren Ringe, die er seiner Tochter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, silberten nun also nicht an ihren Ohren, sondern mitten in ihrem Gesicht. Er verspürte Verständnis für Hertha, das erste Mal seit Langem – trotz ihrer Überzeugung, ihn, ihn ganz allein als den Schuldigen für die Zerstörung der Stupsnase ausgemacht zu haben.

Mit einem Seufzer blickte der Journalist aus dem Fenster. Der Bus hielt eben auf dem Bahnhofsplatz, wo erst am Vortag zwei riesige Zelte zur Erstversorgung aufgebaut worden waren. Zweihundert, dreihundert vornehmlich junge Leute standen wartend davor. Viele von ihnen hatten Flip-Flops an den Füßen und trugen Tüten oder Täschchen in der Hand; sie sahen aus, als hätten sie sich nach Büroschluss spontan dazu entschieden, das ungewöhnlich warme, ja heiße Septemberwetter für einen Ausflug zu nutzen. Nein, hier wollte niemand in die Berge oder an die Seen, hier wollten alle nach Westen, nach Deutschland, doch die Grenze war für Flüchtlinge geschlossen, keine Züge fuhren mehr, keine Busse, und unten in der Tiefgarage des Bahnhofs hockten zweitausend Menschen auf Feldbetten, Isomatten, Decken oder auch nur auf dem nackten Betonboden und warteten, warteten vergeblich darauf, dass sie weiterkonnten, während mit jedem Sonderzug aus Wien ein paar hundert nachrückten.

Ein Transporter des Roten Kreuzes, der mitten auf der Straße hielt, blockierte die Weiterfahrt des Busses. Zwei Männer in warnroten Uniformen stiegen aus. Sie öffneten die Ladetüren, klappten eine Rampe auf den Asphalt und bugsierten mehrere Wägelchen voller großer Kartons ins Freie. Eine der Schachteln stürzte zu Boden. Fächerförmig platzten unzählige weiße Plastiklöffel auf die Straße. Zweitausend Menschen! Ein Artikel über die Einsatzzentralen der Hilfsorganisationen war gewiss keine schlechte Idee, ein Artikel über jene Frauen und Männer, die mit ihrer Logistik dafür sorgten, dass die Flüchtlinge satt wurden und nicht auf den Gehsteigen schlafen mussten.

Prähausner schaute wieder auf die Mädchen, die allesamt ihre blau spiegelnden Smartphones hervorgezogen hatten. Vergeblich versuchte er, einen Blick auf eine der digitalen Pfützen zu werfen in der irrigen Hoffnung, dort die kürzlich online gegangene App der Neuesten Grätzelnachrichten zu sehen, den „regionalen Mehrwert“, wie Hubert die passgenaue Werbung genannt hatte, inklusive. Zum Beispiel jetzt, im Herbst, einen Artikel über die wohltuende Kraft des warmen Wassers. Öffnete jemand den Beitrag, poppte unaufdringlich Thermenwerbung auf. Was Wellness-Anwendungen betraf, war die Grenze nicht geschlossen, man konnte für ein paar Saunagänge hinüber nach Deutschland fahren, aber wer wollte bei diesen Temperaturen schon zusätzlich schwitzen?

Ein paar Passanten eilten herbei und bückten sich nach den Löffeln. Binnen weniger Minuten lagen sie wieder in der Schachtel. Die warnroten Männer stiegen in ihren Transporter, wendeten und fuhren davon. Summend setzte sich der O-Bus in Bewegung.

 

Der Redakteur stieg zwei Stationen früher aus dem Bus als sonst. Er umrundete eine flussnahe Kreuzung, nein, das war keine Kreuzung mehr, sondern ein riesiger Kreisverkehr mit einem Berg aus Blumen und trocken werdenden Schilfgräsern mittendrin, und er erinnerte sich an den Chef des Gartenamts, den er vor ein paar Jahren auf den Roten Klappstuhl gesetzt und fotografiert hatte. Ein Beitrag über das Gartenamt! Wirklich ruhige Zeiten waren das damals gewesen, derart ruhige Zeiten, dass er fast schon verzweifelt nach griffigen Storys gesucht hatte. Und nun gab es nur noch ein einziges Thema, nun war das Interview mit dem Polizeisprecher bereits im Druck, und morgen landeten die neuen Gratiszeitungen in den Briefkästen, auch die App wurde gerade neu befüllt, aber wie war das eigentlich mit Huberts passgenauer Werbung? Hatte das Rote Kreuz, hatten die Diakonie oder der Samariterbund Inserate geschaltet, in denen um Spenden gebeten wurde? Alleine die Hilfsorganisation ohne Namen, die auf den Bahnsteigen belegte Brote und heißen Tee verteilte, hatte um eine Anzeige gebeten – um eine unbezahlte natürlich. Dass sich das Werbegeschäft so flau entwickelte, war eigentlich kein Wunder: Wer inserierte schon auf einer App namens Grätzel-News? Hubert hatte diesen unmöglichen Namen durchgesetzt, Hubert, der nach beinahe eineinhalb Jahrzehnten in Deutschland plötzlich bei mir in der Redaktion steht, mit einem Gesicht, das mich tief erschreckt, weil es rund um die Augen regelrecht zerknittert ist, zerknittert wie Papier, das jemand voller Wut zerknüllt und nachher wieder glattzustreichen versucht hat, und ich klopfe ihm auf die Schulter und sage, dass er sich überhaupt nicht verändert hat, dass er immer noch so dauerwellenblond ist wie früher, obwohl sich längst Reif in seine Mähne geschlichen hat. Ich überspiele meine Befangenheit und gehe mit ihm auf einen Kaffee, und über einer Mehlspeise und einem Verlängerten beginnt er mir von seiner App zu erzählen, so lange zu erzählen, bis ich das Gefühl habe, dass es ohne nicht mehr geht, nein, bis ich bereit bin, mich „auf die Zukunft einzulassen“, wie er das ausdrückt, während er die Tassen beiseiteschiebt und seinen Laptop aufklappt, um mir die Vorteile seiner Tools zu demonstrieren. Aber eigentlich weiß ich vom ersten Moment an, dass es nicht die Zukunft ist, auf die ich mich einlasse, sondern die Vergangenheit.

Und nun war Huberts Werk endlich online, nun hingen die Neuesten Grätzelnachrichten auf Gedeih und Verderb an einer teuren App, die nur fünf oder sechs Mal am Tag heruntergeladen wurde. Hatte er, Ingo Prähausner, sich wirklich für die Zukunft entschieden, oder war er dabei, seine Zeitung zu ruinieren?

Der Journalist bog in den angenehm kühlen Uferpark ein. Er knisterte durch herabgefallenes Platanenlaub in Richtung Fluss. Ein Kind von drei oder vier Jahren wühlte in den modrig riechenden Blättern; es füllte den Eimer, den seine Mutter hinter ihm hertrug, mit Kastanien, mit Augen, die nassbraun zu Prähausner heraufglotzten, als er nahe an den beiden vorüberging und einen Blick in den Kübel tat.

„Gell, Mama, die Tiere freuen sich. Wenn es kalt ist.“ Der kleine Bub hatte rote Wangen, ob vor Eifer oder wegen seines viel zu dicken Mützchens, ließ sich nicht sagen. Unentwegt bückte er sich, und selten war seine Mühe vergebens.

„Ja, Leopold, wenn es kalt wird, gehen wir in den Wald und bringen sie den Tieren“, sagte die junge Mutter gelangweilt. Sie mochte Mitte dreißig sein und hatte große grüne Augen, mit denen sie Prähausner, der halb schon vorbei war, voll trägen Interesses musterte, alleinerziehend und einsam, überfordert mit ihrer Arbeit und ihrem Buben, der eben heftig auf die Stachelschale einer Kastanie trat, um die Frucht herauszulösen; oder frustriert von der Ereignislosigkeit einer Ehe in einer der nahen Villen. „Es macht mich wahnsinnig, dass du dir dauernd vorstellst, wie etwas sein könnte. Du lebst doch bloß im Konjunktiv“, hörte Prähausner Hertha so deutlich sagen, als stünde sie direkt neben ihm.

Er nickte der jungen Mutter zu. Sie lupfte ihre Mundwinkel zu einem Lächeln, dann fing der Kastaniensammler zu plärren an und Prähausner machte, dass er davonkam. Was stand schon dagegen, sich die Dinge einfach nur auszumalen? Sich zum Beispiel vorzustellen, den Buben in der Minigolfanlage, die in einem verwunschenen Winkel des Parks vor sich hindämmert, mit Ball und Schläger zu versorgen und mit seiner Mutter im Gebüsch zu verschwinden. Aufgehäuftes Laub umknistert ihre Schenkel, als sie sich auf die Erde setzt; die rote Flamme der Erregung im Gesicht, wühlt sie sich in die Blätter, begierig, ihren Buben einmal für zehn Minuten zu vergessen, begierig, sich von mir, einem vollkommen Fremden, mit glührotem Laub überhäufen zu lassen, aufgezehrt zu werden von der Hitze des Augenblicks.

Was stand dagegen, sich auch andere Sachen lediglich vorzustellen, Mord und Totschlag zum Beispiel, Kriege und Genozide oder ganze Völkerschaften, die auf der Flucht waren? Nur wer nicht genug Phantasie, genug Anschauungskraft und Einfühlungsvermögen besaß, war in der Lage, einen Krieg vom Zaun zu brechen, einen Krieg, der hunderttausende von Menschen nach Norden getrieben hatte. Zweitausend von ihnen waren nun am Bahnhof, hier in Prähausners Stadt, und es wurden täglich mehr.

2

Zum vierten Mal hintereinander Mozzarella und Weißbrot. Eigentlich war es an der Zeit, auch einmal etwas anderes einzukaufen, ein Roggensemmerl und Schinken zum Beispiel, und dazu vielleicht Tomaten für einen Salat. Aber Prähausner stand schon zu weit vorne in der Schlange, seine Einkäufe fiepten gerade über den Scanner der Kassa.

Er zahlte und verließ mit den Lebensmitteln in der Hand den Laden. Eben sank die Sonne hinter die Wohnblocks der nahen Siedlung. Eine scharfe Schattenklinge zerschnitt die Zufahrtsstraße, die am Supermarkt vorbeiführte, in zwei beleuchtete Hälften. Die Spitze des dunklen Messers stach in etwas Grellrotes, das vor jenem Altglascontainer lag, in dem er stets seine Flaschen und Marmeladengläser entsorgte – in etwas Grellrotes, wohl in ein Tuch, das neben einer grauen Decke zu Boden gefallen war. Wer nur war in Zeiten wie diesen so nachlässig, eine Decke wegzuwerfen? Seit zwei Wochen durchkramte jeder, der etwas auf sich hielt, seinen Keller, seinen Speicher nach alten Schlafsäcken, Camping- oder Yogamatten, nach Federbetten.

So eine Decke wie sie da drüben lag, sagte sich Prähausner, war gerade gefragt, also würde es gut sein, sie mit in die Wohnung zu nehmen, zu waschen und zu einer Sammelstelle oder gleich zum Bahnhof zu bringen. Kalt blähte sich der Mozzarellabeutel in seiner Hand. Ein leichter Schauder schlich sich über den Rücken des Redakteurs. Nein, dort drüben waren nicht nur eine Decke und ein Tuch, dort war auch noch etwas anderes, etwas unangenehm anderes, etwas, das nicht zwischen diese Wohnblocks passt, zwischen die sauber sanierten Fassaden, die respektvoll Abstand voneinander halten; zwischen die weißen Stämme der Buchen und zwischen die Hecken, die akkurat um die Grundstücksgrenzen ecken. Dort ist etwas, an dem es sich schnell und leicht vorbeigehen lässt; ich kann binnen Minuten Brot und Mozzarella hinter meiner Wohnungstüre in Sicherheit bringen und mir mit einem kühlen Bier in der Hand einen ruhigen Abend gönnen, kann die Füße, die von der Schreibtischfron schon seit Stunden drücken, erleichtert hochlegen und versuchen, nicht daran zu denken, dass dieses Etwas vielleicht irgendwann in der Nacht ans Flussufer kriecht oder in den Park, ich kann mir sagen, dass es nicht von betrunkenen Jugendlichen belästigt, dass es nicht in ein Auto mit getönten Scheiben gezerrt wird, sondern seinen Weg in die Bahnhofsgarage oder in eine andere Notschlafstelle finden wird.

Ich rucke ein paar Schritte in Richtung Decke und Tuch, dann hält es mich wieder an. Mitten auf der Zufahrtsstraße vereinsame ich in Erinnerungen. Ein Gedanke nach dem anderen zögert durch mein Hirn, ohne dass er zu einer Entscheidung wird.

„Das … ich glaube, das war noch nicht da, als ich zum Einkaufen gegangen bin“, tönte es plötzlich vom Supermarkteingang her. Dort stand Frau Hirscher, die grauduttige Nachbarin aus dem dritten Stock, über ihren Einkaufskorb gebeugt, und Prähausner machte plötzlich die nötigen Schritte in Richtung Decke. Unter ihrem Saum drängte dunkel eine Haarsträhne hervor.

Der Journalist ließ seinen Rucksack vom Rücken rutschen, stellte ihn auf den Asphalt und legte Brot und Mozzarella darauf. Das Haar tentakelte wild auf die Straße, als er die Decke ein wenig lüftete, und dann durchsäuert ein Geruch nach zu lange getragener Kleidung die Luft, ein Straßengeruch, der gleichzeitig etwas eigenartig Intimes hat, etwas, was mich dazu verführt, noch einmal indiskret zu schnuppern. Es riecht nach Nächten im Freien, Nächten in irgendwelchen zugigen, feuchten Ecken, nach Angst und nach Anstrengung. Es riecht nach Erlebnissen, die als Schweiß über Brust und Rücken geronnen sind, die sich in den Achselhöhlen, den Kniekehlen, dem Schritt gesammelt haben und dort sauer geworden sind. Zwei, drei Tage ohne Kleiderwechsel, ohne Waschen, wie damals in der Fabrikhalle, im Wald, und man gehört nicht mehr in die Welt der Deos, der Seifen, Duschgels und Parfums. Nicht mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Verwaltung, nicht mit der Zerstörung der Elektrizitätsversorgung wird einst der Untergang der menschlichen Zivilisation beginnen, sondern mit den fehlenden Düften, den fehlenden Höflichkeiten für die Nasen der anderen. Wir werden uns gegenseitig ansäuern, anstinken werden wir uns, und das so lange, bis wir einander nicht mehr ertragen.

Prähausner zog die Decke weg. Die Frau hatte sich auf dem Bauch ausgestreckt. Ihre Beine waren nackt, weil sie nur eine Art von langer Bluse trug, weiß und mit fremdländisch aussehenden rosa Rüschen geschmückt. Der hintere linke Oberschenkel war blauviolett verschwollen. Direkt daneben verrenkte sich eine Jeans.

Der Redakteur blickte in bittender Hilflosigkeit zu Frau Hirscher hinüber. Sie stellte ihren Korb, aus dem zwei Lauchstangen ragten, ab, machte aber keine Anstalten, dem Journalisten zu Hilfe zu kommen.

Der Rücken der Fremden hob und senkte sich gleichmäßig. Die Arme lagen nicht neben dem Körper, sondern waren unter die Brust gewinkelt, wohl um das Gesicht, von dem wegen des Quellhaars nichts zu sehen war, in die Hände betten zu können.

Endlich nahm Frau Hirscher ihren Korb auf und trippelte herüber. „Eine Zigeunerin wahrscheinlich“, sagte sie missbilligend, als sie sich über die Schlafende beugte. „Fehlt Ihnen was? He, Sie! Tun Sie nicht so, als wären Sie taub!“ Die Lauchstangen im Korb standen wie zwei grüne Ausrufezeichen hinter ihrem letzten Satz, zwei Ausrufezeichen, die in Bewegung gerieten, als die Nachbarin den Korb nach hinten schwingen ließ, um ihn dann mit seiner Kante leicht gegen die Schulter der Schlafenden stoßen zu lassen und sofort schnellt die Fremde hoch, aus ihrem Augendunkel wirren Blicke, die mich nicht erfassen; auf ihren Wangen schmieren Wimperntusche und abgeriebener Kajal, durchzogen von Tränenbahnen, die längst trocken geworden sind. Ihr Körper schwankt leicht nach, wie der Zeiger einer Küchenwaage, die gerade belastet worden ist, belastet mit Angst, mit Überforderung, und jetzt öffnet die Frau den Mund, aber sie sagt nichts, sie knurrt nur, es ist ein Knurren, das mich einen Schritt zurückdrängt, weg von der schmutzigen Süße ihres Geruchs ins Abständige, in eine Distanz, die Besorgnis zulässt, Freundlichkeit, Zuwendung, alles, was in einer solchen Situation gefragt ist.

„Alles in Ordnung?“ Prähausner, der in die Knie gegangen war, lächelte ihr zu. Weil er keine Reaktion erhielt, versuchte er es erneut. „Geht es Ihnen gut?“

„Wird schon gehen“, ließ sich Frau Hirscher hören. „Die Zigeunerinnen sind oft geschminkt, ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Das ist gut fürs Betteln. Dann geben die Männer mehr.“

Das Augenweiß der Fremden schreckte hell in ihrem Gesicht, als sie an sich hinunterschaute. Rasch zog sie sich die Decke über ihre Beine, ihren Schoß, dann hastete ihr Blick suchend über den Asphalt, offenbar vergebens, denn sie drehte Kopf und Oberkörper rasch nach hinten und ließ ihre Linke über den Boden vor dem Glascontainer fahren.

„Nicht!“, rief der Redakteur, der Franzi in früheren Jahren öfters daran hatte hindern müssen, mit den glitzernden Scherben, die dort immer auf der Erde lagen, zu spielen.

 

Die Fremde ließ ein aufgeregtes Brummen hören, dann drehte sie sich wieder Prähausner zu. Ihr Zeigefinger stach mehrmals in seine Richtung, bevor sie die Arme am Kopf vorbei nach hinten zog. Ihre Hände buckelten ihr etwas auf den Rücken, eine Last aus Luft, die der Journalist deutlich vor sich sehen konnte, als sie sich gleich darauf mit Daumen und Zeigefinger schmale Riemen auf die Schultern zeichnete – alles ging so rasch und gleichzeitig so präzise vor sich, dass Prähausner ins Staunen geriet. Als ihre Hand wieder in seine Richtung schnellte und sie ihn fragend ansah, glaubte er verstanden zu haben.

„Nein, ich habe Ihr Gepäck nicht gesehen!“ Mit einem deutlichen Kopfschütteln bemühte er sich darum, ihre Rucksackpantomime zu wiederholen, und da weicht aus ihren eben noch so lebhaft sprechenden Händen alle Bewegung, sie sinken in ihren Schoß, wo sie schweigend liegenbleiben. Es ist das lauteste Verstummen, das ich je gehört habe, es ist eine vollkommene Stille um sie, der ich mich nicht entziehen kann. Wie kümmerlich dagegen doch mein Körper spricht, ich murmle vor mich hin, wenn meine Hände Gesten formen, ich grummle etwas Unverständliches mit Kopf und Körper, und mein Gesicht bringt ein lalliges Ja hervor oder lispelt ein Nein. Wenn ich verstumme, merkt das niemand, Hertha hat es nicht gemerkt und Franzi merkt es meistens nicht, weil ich rede und rede, ohne etwas zu sagen.

„Oje! Jemand muss sie bestohlen haben.“ Frau Hirschers Stimme hörte sich das erste Mal mitfühlend an. „Vielleicht ihr Mann. Er hat sie wahrscheinlich getreten. Haben Sie den Bluterguss gesehen?“

„Ja. Aber möglicherweise ist sie auch nur auf einen Randstein gefallen.“ Prähausner bemühte sich um einen nüchternen Ton. Was war nun zu tun? Sollte er die Polizei benachrichtigen, das Rote Kreuz oder die Diakonie?

Die junge Frau saß jetzt mit hängendem Kopf am Boden, ihr Haar filzte schwarz vor ihrem Gesicht. Die vollkommen überlasteten karitativen Organisationen würden gerade gar keine Freude mit einem Anruf haben.

Frau Hirscher beugte sich vor und tippte der Fremden auf die Schulter, bis diese fragend aufschaute. „Ziehen Sie sich erst mal an! Anziehen!“, rief die Nachbarin des Redakteurs bestimmend laut. Sie brauchte nur auf die Jeans zu deuten, damit die junge Frau begriff. Langsam stand sie auf und zog dabei die Decke zwischen sich und den Journalisten. Er nahm ihr den muffig riechenden Stoff aus der Hand, dann spannte er ihn als Vorhang vor die Szene. Zwei weiß bekittelte Verkäuferinnen lehnten jetzt in der Eingangstüre des Supermarkts, sie ziehen eine Gardine aus Zigarettenqualm vor ihre Gesichter, eine Gardine, hinter der sie sich mit glotziger Selbstverständlichkeit verbergen können, mit Augen, die alles gierig inhalieren. Sie sind süchtig nach solchen Sensationen, sie werden nervös, wenn sie für ein, zwei Stunden nicht vor die Türe können, genauso süchtig nach Aufregung sind sie wie ihre Kundinnen und Kunden aus der Siedlung, die nichts lieber tun, als in der Redaktion der Grätzelnachrichten anzurufen, wenn sie irgendwo einen umgekippten Mülleimer oder eine angekratzte Zaunlatte entdeckt haben, „Missstände“, sagen sie dann, „berichten Sie über diese Missstände, diese unhaltbaren Zustände, das ist Ihre Aufgabe, Herr Prähausner. Wenn Sie es nicht tun, dann lese ich Ihr Blatt nicht mehr!“

Es dauerte nicht lange, bis die Fremde in Hosen vor dem Journalisten und Frau Hirscher stand, in Hosen, aber wo waren ihre Schuhe? Sogleich nahm sie die Decke wieder aus Prähausners Hand. Wohlgefallen fältelte sich rund um Frau Hirschers Mund, als sie sie sorgfältig zusammenlegte. „Gut erzogen, das Mädchen! Und jetzt bedankt es sich sogar!“ Die junge Frau hielt die Decke in der linken Hand, die rechte legte sie sich auf die Herzgegend und verneigte sich leicht vor ihren Helfern, bevor sie das Tuch vom Boden aufhob. Die Bewegungen glucksten durch ihre Glieder, flossen für einen Augenblick als Dankbarkeit durch ihr Gesicht. Dann zeigte sie auf sich selbst, um gleich darauf die freie Hand auf ihren Bauch zu pressen.

„Hat sie Hunger?“, fragte der Journalist.

„Aber nein! Hören Sie denn nicht ihr drängendes Brummen? Sehen Sie nicht, wie sie ihr Gesicht verzieht?“, korrigierte Frau Hirscher. „Ihre Hand liegt nicht auf ihrem Magen, sondern weiter unten. Sie muss dringend auf die Toilette. Sehr anständig! Es fällt ihr nicht ein, einfach hinter den nächsten Busch zu machen!“ Prähausners Nachbarin presste sich nun ihrerseits eine Hand auf den Unterleib und deutete dann in Richtung Siedlung. „Toilette!“, sagte sie langsam und deutlich. „Kommen Sie mit! Ich wohne dort.“

Die junge Frau schien zu verstehen. Nickend zeigte sie auf die nahen Wohnblocks.

Frau Hirscher nahm ihren Einkaufskorb wieder auf. „Sie braucht etwas zum Anziehen. Einen Pullover und Schuhe. Vielleicht passen ihr ja Sachen von Ihrer Tochter?“

„Ja, da wird sich schon etwas finden“, antwortete er. Franzis Kleiderschrank war übervoll. Auch an Schuhen wird es nicht fehlen. Schon seit Monaten stehen zwei Paar Sneakers, von denen sie sich nicht und nicht zu trennen vermag, in ihrem Zimmer. Sie läuft ständig mit zu kleinen Schuhen herum, weil sie sich unter keinen Umständen die schrecklichen fünf bis sechs Millimeter, um die ihre Füße pro Halbjahr wachsen, eingestehen will. Traumatische Erfahrung: Der Verkäufer im Schuhladen, der ihr Sandalen in Größe 39 bringt, Größe 39 mit dreizehn Jahren! Tagelanges tiefes Entsetzen über die Vorstellung, die Füße könnten nicht mit dem Wachsen aufhören und Spezialanfertigungen nötig machen, Größe 45 mit fünfzehn, Größe 52 mit siebzehn Jahren; der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Teenager ist dann nur noch mit einer Operation, die allein ein teurer japanischer Spezialist für Lilienfüße durchführen kann, rückgängig zu machen.

„Gut. Gehen wir. Vergessen Sie Ihren Rucksack und Ihren Käse nicht, Herr Prähausner!“

Die Blicke der Fremden glitten schnell zwischen Frau Hirscher und dem Redakteur hin und her, bevor sie von seiner Nachbarin an der Hand genommen und in Richtung Siedlung gezogen wurde.