© 2021 Christian Jesch
http://www.cetianjesch.de
"Was haben sie in dem Hover gefunden?", erkundigte sich Tebeel neugierig, als die Gruppe zurückkehrte.
"Haben Sie gewusst, dass Ysana und ihr Bruder Ihnen einen Besuch abstatten wollten?"
"Nein", Stieß der Mann erschreckt hervor. "Wie kommen Sie den auf so etwas?"
"Demnach sieht es so aus, als wollte die Mutantenhexe bei Ihnen unangemeldet erscheinen und Sie wahrscheinlich unter Druck setzen, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wie gut, dass Tandra", Kaziir deutete auf ihre Lebensgefährtin, "mit an Bord war und die Gelegenheit nutzen konnte."
"Genaugenommen", mischte sich jetzt Tandra ein, "wollte sie herausfinden, inwieweit Sie eine Gefahr für ihre Pläne waren. Hätten Sie zu viel gewusst, hätte das Mädchen sie einfach umgebracht und die Ordensburg vernichtet."
"Naja", stöhnte Tebeel auf. "Das hat jetzt schon Mår-quell geschafft. Ich verstehe nicht, wie sie uns gefunden hat."
"Das war nicht Mår-quell", widersprach Kaziir. "Erstens besitzt die Bundessenatorin kein Militär und zweitens werden diese Plasmaraketen nur von einer Spezialeinheit der ProTeq verwendet, die mit der Regierung nichts zu tun hat. Sie agiert nur auf Befehle der Firma. Also konnte Mår-quell gar nicht den Beschuss anordnen, solange die ProTeq es nicht selber wollte."
"Dann frage ich mich aber erst recht, woher diese Sicherheitsfirma unseren Aufenthalt kannte", empörte sich Tebeel.
"Diese Sicherheitsfirma, wie sie es nennen, ist alles andere als der kleine Laden in einer Seitenstraße, welcher bei Ihnen zu Hause Panzerglas in die Fenster einsetzt oder eine Alarmanlage installiert. Diese Firma ist bundesweit für die Sicherheit, das Militär und den Geheimdienst verantwortlich. Dass bedeutet, sie stellen jeden Sicherheitsbeamten, jeden Polizisten, jeden Soldaten und natürlich auch jeden Agenten in diesem Land. Die ProTeq weiß im Prinzip über alles Bescheid."
"Aber die Templar und Navigatoren lebten doch vollkommen autark in dieser Einöde", warf Misuk ein.
"Woher haben Sie all die Informationen bekommen, die Ihre Spezialisten verarbeitet haben?"
"Von unseren Agenten. Die sind überall zu finden."
"Da haben Sie Ihre Schwachstelle", kommentierte Kaziir nüchtern.
"Nein", rief Tebeel aus. "Niemals. Das kann ich nicht glauben."
"Ich kann mir das hingegen sehr gut vorstellen", widersprach die Suprimekommandantin. Tebeel schaute sie ungläubig an, musste sich aber eingestehen, dass die Renegatin möglicherweise nicht ganz Unrecht haben könnte. "Wie sind Ihre weiteren Pläne? Misuk erwähnte eine Bibliothek in der Kopien Ihrer Dokumentationen lagern."
"Ja. Das Antiquar. Wir werden uns dorthin zurückziehen und unsere Arbeit erneut aufnehmen. Sie können uns begleiten, wenn Sie möchten."
"Tandra und ich müssen nach Çapitis. Dort warten einige Aufgaben auf uns. Ich weiß nicht, wie das mit Thevog ist. Willst du mit uns oder Misuk gehen?"
"Ich denke, ich bleibe bei Misuk. Sie ist die Einzige, die weiß, wo wir Shilané finden können", antwortete der Junge bedrückt.
"Shilané?", wiederholte Tebeel nachdenklich und langgezogen.
"Kennst du sie?", fragte Misuk ihren Vater neugierig.
"Ja, ja. Ich denke, ich kenne das Mädchen, von dem ihr sprecht. Ja."
"Kommt sie in euren Berechnungen vor oder woher kennst du sie?"
"Ich kenne das Kind noch aus alten Tagen", begann ihr Vater zu erzählen, "als ein gewisser Leto einen Jungen zu uns brachte, den wir vor der Regierung und ihren Häschern schützen sollten. Der Mann blieb etwas mehr als drei Jahre, dabei verliebte er sich in eine der Unseren und Shilané kam zur Welt."
"Was geschah dann?", fragte Tandra fast lautlos.
"Leto erkannte, dass er uns mit dem Jungen lange genug in Gefahr gebracht hatte. Er geleitete ihn wieder zurück in die Hauptstadt. Seit dem haben wir nichts mehr von ihm gehört."
"Ich weiß nicht, wer dieser Leto ist", sagte Tandra, nachdem sie sich kräftig geräuspert hatte, um ihre trockene Kehle freizubekommen, "aber Shilanés Vater ist tot. Er starb bei einer Explosion in einem Dorf, das nur ein paar hundert Kilometer entfernt liegt."
"Wo war er die ganze Zeit?", fragte Tebeel verträumt, nachdenklich.
"Zuletzt war er in Akeḿ, wo er eine Gegenregierung zu Mår-quell etablieren sollte", begann Misuk ihren Vater zu unterrichten, bevor der sie heftig unterbrach.
"Nein", rief er aus und packte seine Tochter am Unterarm. "Nein, das kann unmöglich sein."
"Doch", widersprachen ihm Tandra und Kaziir gleichzeitig.
"Jachwey war Leto?", entfuhr es dem entsetzen Mann. "Und er ist tot?"
"Haben Ihre Agenten Sie denn nicht darüber in Kenntnis gesetzt?" Der Mann schaute seine Tochter durchdringend an, die verzweifelt das Gesicht verzog.
"Offensichtlich nicht", beantwortet er die Frage. "Aber ich denke die widrigen Umstände der letzten Monate müssen das wohl entschuldigen."
"Es tut mir sehr leid, Vater", sagte Misuk traurig.
"Ist schon gut, mein Kind. Du hattest mit Sicherheit keine leichte Zeit gehabt."
"Das ist allerdings richtig", stimmte Thevog Tebeel zu. "Nachdem das Dorf zerstört wurde, mussten wir alle ums Überleben kämpfen und das war alles andere als einfach in den Dædlænds."
"Du brauchst weder dich noch Misuk zu entschuldigen", beruhigte der Mann die beiden Kinder.
"Im Übrigen muss ich sagen", schaltete sich jetzt Tandra ein, "dass die Behauptung, Jachwey ist tot, nicht so ganz stimmt."
"Wie darf ich das verstehen, junge Frau?" Tebeel wurde mit einem Mal sehr neugierig.
"Es stimmt schon, dass sein Körper gestorben ist. Dafür existiert jedoch noch sein Geist.
"Jetzt irritieren Sie mich aber."
"Es ist auch verwirrend. Während Jachwey in Akeḿ regierte, arbeitete er an einer Technik, die es den normalen Menschen ermöglichen sollte, Zugang zu den Quellen des Metanetzwerks zu erlangen, um ebenfalls Mutantenfertigkeiten anwenden zu können."
"Moment, Moment, Moment", unterbrach der oberste Templar erneut. "Das ist mir doch jetzt ein wenig zu hoch. Bitte erklären Sie das so, dass es selbst ein einfacher Mann, wie ich, verstehe."
"Dann muss ich etwas weiter ausholen. Wir Mutanten erhalten unsere Fähigkeit aus einer höheren Energieebene, genannt das Metanetzwerk. Dort befinden sich als Quellen bezeichnete Energieansammlungen, welche die jeweilige Fertigkeit repräsentieren. Als Mutant schließe ich mich an eine solche Quelle an, um meine Fähigkeit zu aktivieren und anzuwenden."
"Können sie sich an jede x-beliebige anschließen?", unterbrach Tebeel.
"Nein. Nur an die, welche sozusagen auf meiner Frequenz liegt. Und eben diese Frequenz hat Jachwey ausgenutzt, um seine Meta-Neuronen-Netze zu konstruieren, die sich dann mit den Neuronen des Gehirns verbinden. Somit kommen wir jetzt zu seinem Geist. Als eine Mutantin ihn in Brand gesetzt hat, trug der Gottkaiser ein solches Meta-Neuronen-Netz, das sich dann bei ihm einbrannte, was zur Folge hatte, dass er geringfügig den Verstand verloren hat. Als Jachwey nun durch die Explosion ums Leben kam, ist die Energie, die in einem menschlichen Gehirn existiert und für das Denken verantwortlich ist, über das Meta-Neuronen-Netz in das Metanetzwerk geflüchtet. Somit existiert dieser Mann dort immer noch als eine Art Energiewesen oder auch Geist."
"Ah, ich verstehe. Der alte physikalische Grundsatz, dass Energie nie verloren geht, sondern sich immer in eine andere Form umwandelt. Das ist interessant. Aber woher wissen sie das alles."
"Weil ich mit ihm kommunizieren kann", gab Tandra wenig erfreut zu.
"Dann kann er dir doch auch sagen, wo sich Jikav befindet", stieß Kaziir aufgeregt hervor.
"Nein, das kann er nicht. Jikav ist ein besonderer Mutant, ebenso wie Ysana es war. Beide benötigen die Quellen im Metanetzwerk nicht. Sie tragen ihre Quellen mehr oder weniger in sich. Daher kommen sie nie in diese höhere Energieebene. Naja, fast nie. Jachwey hat mir einmal gesagt, er habe Jikav am äußersten Rand der endlosen Ebene gesehen. Was auch immer das heißen soll."
"Das sind viel zu viele Informationen für meine kleines Gehirn", gab Tebeel überfordert zu. "Haben Sie das alles mitbekommen und können es weitergeben", sagte er und wendete sich dabei einem Navigator zu, der sich unbemerkt hinter der kleinen Gruppe in Stellung gebracht hatte.
"Ja, das habe ich. Ich werde es sofort weiterreichen", erklang die seltsame Stimme. Die drei drehten sich um und sahen einen Mann, der von der Statur her normal wirkte, jedoch ein wenig kränklich.
"Ich weiß schon, was ihr denkt", unterbrach Tebeel die Gruppe in ihren Beobachtungen. "Jeder von ihnen wusste sehr wohl, was auf ihn oder sie wartete, wenn sie erst einmal einige Jahre das Rempa Luak eingenommen haben. Sie verbringen vierundzwanzig Stunden am Tag in einer ergonomisch angepassten Sitzschale, werden dauerhaft mit Nahrung versorgt und ihre Muskeln werden durch leichte Stromstöße stimuliert, damit sie nicht abbauen und verkümmern. Mir ist klar, es fehlt ihnen das Sonnenlicht und einige andere Dinge, die für den menschlichen Körper von Bedeutung sind. Doch trotz alledem, haben diese Männer und Frauen sich dem Wohl der Allgemeinheit verschrieben und versuchen mit ihrer Fähigkeit die Welt um uns herum zu verbessern. Ununterbrochen, auch während sie schlafen, werden sie mit den neuesten Informationen aus ihrer Region versorgt, damit sie die Zukunft berechnen können. Natürlich fragt ihr euch, wie es unter diesen Umständen zu so einer Regierung wie der von Mår-quell kommen konnte. Leider muss ich dazu sagen, dass wir nur auf das reagieren können, über das wir auch Bescheid wissen. Und die plötzliche Veränderung bei dieser Frau war selbst ihrem Mann entgangen. Die Bundessenatorin hatte alles im Geheimen mit einigen wenigen anderen Politikern geplant und in einem einzigen Tag in die Tat umgesetzt. Das konnten wir nicht vorhersehen." Tebeel machte eine Pause, bevor er fortfuhr. "Wie sieht es aus? Wer begleitet uns denn nun?", wechselte der jetzt deprimiert wirkende Mann das Thema.
"Wie ich schon sagte", begann Kaziir, "Tandra und ich müssen zur Hauptstadt. Ich vermute mal, dass Thevog Sie und Misuk begleiten wird. Schließlich ist er ja auf der Suche nach seiner Freundin. Und du weißt, wo man die Magus findet?", wendete sie sich an das Mädchen.
"Ich habe einige Hinweise, denen wir folgen können."
"Hinweise?", wiederholte Tandra.
"Eher grobe Landschaftsbeschreibungen", antwortete Thevog.
"Wir werden mal sehen, was wir im Antiquar über die Magus finden können", ermunterte Misuks Vater den Jungen. "Irgendwie wirst du Shilané schon wieder treffen. Und was Sie angeht, Kaziir, kommen sie am besten auch mit uns. Bis nach Çapitis ist es weit. Wir können Ihnen eines unserer Fahrzeuge zur Verfügung stellen."
"Wie weit ist es denn bis zu diesem Antiquar?"
"Wenn wir nicht trödeln sind es weniger als zwei Tage."
"Glauben sie das wirklich?", fragte Kaziir befremdet, mit einem Blick auf die Navigatoren, die sich versammelt hatten.
"Wir werden das schaffen", antwortete Tebeel voller Zuversicht. "Wenn Sie jetzt direkt in Richtung der Hauptstadt losstiefeln, werden Sie auch nicht eher dort sein, als wenn Sie erst zu uns kommen und dann mit einem Fahrzeug den Rest des Weges zurücklegen."
"Und Sie machen sich keine Gedanken darüber, dass wir den Standort Ihrer geheimen Bibliothek erfahren?" Tebeel schaute die beiden Frauen kritisch von Oben bis Unten an und schüttelte dann lachend den Kopf.