Was wir gewinnen, wenn wir verzichten

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Hans wusste dies intuitiv und seine Geschichte will uns auf eine bestimmte Weise wachrütteln und ermutigen, auf das zu setzen, was im Leben wirklich zählt. So möchte ich Sie einladen, sich mit den Fragen nach Zugehörigkeit und Liebe eingehend zu beschäftigen.

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Wie fühlt sich das an, geliebt zu sein und zu lieben? Wo im Körper spüren Sie das? Wann haben Sie es zuletzt erlebt?

Was hat Sie Ihr Leben bisher über die Liebe gelehrt? Welche beglückenden Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Sind Sie dabei auch in eine spirituelle Dimension vorgestoßen? Und vielleicht geht es Ihnen so wie vielen Menschen, dass Sie Liebeslieder und Liebesgedichte besonders mögen. Wenn ja, welche sind das?

1. Worauf wir verzichten können

Wenn das Glas voll ist, passt nichts mehr hinein
Verzicht auf (noch) mehr

Wo man nehmen will, muss man geben.

Laotse

Ein Professor der Philosophie aus einem westlichen Land reiste einmal nach Asien. Er traf spannende Menschen und Gelehrte. Er stellte ihnen viele Fragen. Fragen nach Meditation und Gott, nach dem Sinn des Lebens und der Unendlichkeit. Doch er fand keine Antworten. Eines Tages wanderte der Professor immer weiter hoch in die Berge. Plötzlich stand er vor dem einfachen Haus eines Zen-Meisters.

Dieser lud den westlichen Mann zu sich ein. Der Pro­fessor sprudelte nur so vor Fragen und Wissensdurst. Er zählte dem Meister seine akademischen Titel auf und klagte ihm seine Verzweiflung über all die nicht beantworteten Fragen im Leben.

Der Meister schwieg. Dann sagte er: »Ich mache dir einen Tee.« Ungeduldig wartete der Professor, bis der Meister mit einer Tasse zurückkehrte. Tee trinken?, fragte sich der weit gereiste Gast insgeheim. Ich bin doch gekommen, um Antworten zu bekommen. Ob diese Reise wohl umsonst war? Gedanken schwirrten durch seinen Kopf und als er gerade aufstehen wollte, kehrte der Zen-Meister mit einer Kanne frisch aufgebrühten Tees und einer Tasse zurück. Eine Tasse Tee nach der langen Reise schadet ja nicht, bevor ich gehe, dachte sich der Professor und blieb.

Der alte Mann begann einzuschenken. Der dampfende Tee lief in die Tasse. Immer weiter und weiter. Auch als die Tasse längst voll war und sich das heiße Getränk über den Rand auf die Untertasse ergoss, hörte er nicht auf zu gießen. Erschrocken sprang der Professor von seinem Stuhl auf. »Halt! Genug!«, rief er. »Die Tasse ist doch voll! Sehen Sie das nicht?«

Da hielt der Meister inne und schaute seinem Gast zum ersten Mal ins Gesicht. Seine faltigen Augen umspielte ein Lächeln. Plötzlich sah der Mann gar nicht mehr so gebrechlich aus. Weisheit und Lebenserfahrung strahlte jede Faser seines Körpers aus.

»Genauso wie mit dieser Tasse, ist es auch mit dir«, sprach der Meister ruhig. »Du bist vollgefüllt. Mit Fragen, mit Wissen, mit Vorurteilen. Wie kann ich dir da noch Antworten geben, wenn kein Platz mehr ist? Erst wenn du deine Tasse leerst, hast du wieder Platz. Für Neues, für Einsichten, für Antworten.«6

Als ich Herrn W. das erste Mal bei der Visite kennenlernte, dachte ich sofort: Was für ein sympathischer Mensch, der mich gleich so anstrahlt, was wird dem wohl fehlen? Als ich ihn darauf ansprach, berichtete er mir, dass das genau sein Problem sei. Immer habe er anderen geholfen, sei es beim Hausbau, bei der Arbeit oder in der Familie, er habe das gerne gemacht und gar nicht bemerkt, wie er sich selbst dabei im Laufe der Zeit aus den Augen verloren habe. Als er dann eines Tages im Rahmen von Umstrukturierungen seiner Firma die Kündigung erhalten habe, sei für ihn die Welt zusammengebrochen. Wie vom Donner gerührt sei auf einmal sämtliche Energie aus ihm gewichen, er habe sich zu nichts mehr motivieren können, nicht einmal zu an sich freudvollen Dingen. Er habe sich zurückgezogen, auch weil er sich geschämt habe. Auch sei er von seinen Freunden und Bekannten enttäuscht gewesen, die sich so gar nicht um ihn, der sonst so hilfsbereit war, gekümmert hätten. Das Gefühl von völliger Erschöpfung und Niedergestimmtheit sei auch jetzt, zwölf Monate nach der Kündigung, noch nicht ganz gewichen.

Ich spreche ihn nochmals auf sein strahlendes Auftreten an und teile ihm mit, dass man all das bei ihm ja gar nicht vermuten würde. Nachdenklich fragt er nach, ob andere vielleicht dadurch seine Bedürfnisse gar nicht wahrnehmen würden und er auch deswegen keine Unterstützung erfahre. Diese Gedanken sind der Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung mit seinem Auftreten, dem Wahrnehmen und auch Äußern der eigenen Bedürfnisse. Herr W. merkt dabei mehr und mehr, dass er durch sein permanentes Engagement für andere bis zum Rande, bis zur Erschöpfung, voll war. Und er äußerte den Wunsch, daran etwas zu verändern.

In den folgenden Gesprächen beschäftigen wir uns zunächst mit den guten Gründen für dieses Überengagement. Denn wir eignen uns kein Verhalten ohne Grund an. Herr W. erkennt rasch, dass er durch seine Art immer viel Anerkennung erhalten habe. Schon in seiner Kindheit und Jugend sei das so gewesen, das habe ihn gefreut und sein Verhalten bestärkt. Ich erkläre ihm, dass daran nichts verkehrt sei. Dass wir uns allerdings Gedanken darüber machen sollten, woher denn bei einer Ver­haltensänderung in Zukunft Anerkennung und Wertschätzung kämen.

Schließlich stoßen wir auf die Frage von Selbstwert und Selbstmitgefühl. Herr W. bemerkt, dass er sich selbst gegenüber meist kritischer sei, als andere ihn beurteilen würden. Mit sich selbst sei er eigentlich nie oder nur kurz und vorübergehend zufrieden. Daraus ergibt sich eine Aufgabe, die ich ihm ans Herz lege: Schreiben Sie jeden Tag wenigstens eine Sache auf, die Sie an sich mögen, und finden Sie etwas, womit Sie bei sich selbst zufrieden sind. Als Fortgeschrittenenübung beginnen Sie in einem weiteren Schritt danach Ausschau zu halten, worauf Sie bei sich selbst stolz sind.

Um etwas zu verändern, muss ich zunächst bemerken, dass das Glas voll ist beziehungsweise die Teetasse wie in unserer Zen-Geschichte überläuft. Der eigene Körper kann uns dabei helfen, er gibt meist ein recht gutes Feedback. Schlafstörungen, Unwohlsein, unerklärbare Schmerzen an unterschiedlichsten Stellen des Körpers, grundloses Schwitzen, Herzrasen, Appetitverlust oder unkontrolliertes Essen können Hinweise dafür sein, dass etwas nicht stimmt. Auch Gedanken von Überforderung, Fluchttendenzen aus Beziehungen oder innere Kündigung bei der Arbeit sind Warnzeichen. Und natürlich auch zunehmende Erschöpfung verbunden mit mangelnder Erholungsfähigkeit. Herr W. bestätigte mir im Laufe unserer Gespräche eine Menge der genannten Symptome. Er hatte sie nur nicht ernst genommen.

Männer tun sich damit leider immer noch viel schwerer als Frauen. Sie meinen, um jeden Preis durchhalten zu müssen und verbuchen es als Schwäche, sich Hilfe zu holen. Das Gegenteil ist der Fall: Unterstützung annehmen können, zeugt von Kompetenz und Stärke.

Wir sind den beschriebenen »Völlegefühlen« keineswegs hilflos ausgeliefert. Welche Möglichkeiten der Gegenregulation es gibt, zeigen die folgenden Kapitel.

Damit ich etwas Neues aufnehmen kann, braucht es Platz. Das gilt für Körper, Geist und Seele. Was für den Körper am Beispiel der Ernährung zutrifft, ist auch auf Seele und Geist übertragbar. Die letzte Mahlzeit muss erst verdaut sein, damit die nächste vom Körper aufgenommen werden kann. Neue Impulse und Anregungen brauchen genauso Zeit, um sich zu setzen, und Multitasking verschlechtert erwiesenermaßen unsere Gehirnleistung. Und jeder Leistungssportler weiß, dass er nach einem intensiven Trainingsreiz regenerieren muss, um sich nicht in eine Leistungsverschlechterung hinein zu trainieren. Ein- und Ausatmen sind von jeher die natürlichen Taktgeber des Lebens. Nur einzuatmen, funktioniert nicht nur nicht, es ist auch mit dem Leben nicht vereinbar. Der Körper braucht nicht nur Sauerstoff, er muss auch das Kohlendioxid loswerden. Ohne die körperlichen Ausscheidungsprozesse kommen die Organfunktionen rasch zum Erliegen.

In die gleiche Richtung weisen aktuelle Erkenntnisse der Ernährungs- und Fastenforschung. Während über die gesamte Entwicklungsgeschichte der Menschheit seit zwei- bis dreihunderttausend Jahren mehr oder weniger lange Essenspausen unfreiwillig die natürliche Regel waren, nehmen wir heute sieben bis neun und manchmal noch mehr Mahlzeiten inklusive aller Snacks und Knabbereien pro Tag zu uns. Die Konsequenzen sind schon heute sichtbar: eine enorme Zunahme der sogenannten Zivilisations­krank­heiten.

Wenn wir unseren Körper bei der Ernährung nicht mehr in Ruhe lassen, gerät er nicht nur aus dem Takt, sondern reagiert mit einer Stressantwort, die sich in einer messbaren Erhöhung von Entzündungsparametern abbildet. Das Gegenteil geschieht in Fastenintervallen, die vermutlich zwischen 14 bis 16 Stunden liegen müssen: Körperzellen bauen schadhafte Zellbestandteile ab und recyceln sie wieder. Dieser geniale Mechanismus heißt Autophagie. Für seine Entdeckung erhielt der Japaner Yoshinori Ohsumi im Jahr 2016 den Medizin-Nobelpreis.7

Es gehört zu unserem evolutionsbiologischen Erbe zwischen den Mahlzeiten nichts zu essen. Intuitiv wussten das auch noch unsere Eltern. Erst in den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich daran etwas grundlegend geändert. Vergleicht man die Gesamtzeit der Menschheitsgeschichte, dann entspricht dies ungefähr der letzten Sekunde von 24 Stunden. Unser Genom (die genetische Grundausstattung) und vor allem unser Mikrobiom (die mit uns in engster Wechselwirkung lebenden Darmbewohner – Bakterien, Viren, Pilze und Einzeller) werden sich so schnell nicht auf diese Veränderungen einstellen, mit Sicherheit nicht zu unseren Lebzeiten.

 

Das müssen wir schon selbst tun, wenn wir aktiv zu mehr Gesundheit beitragen wollen, und zwar in umgekehrte Richtung, sozusagen zurück zu unseren (evolutionsbiologischen) Wurzeln.

Es braucht also Raum und Zeit, damit Bestehendes verdaut und integriert werden kann und damit Neues seinen Platz findet und sich entwickeln kann. Wir existieren überhaupt nur, weil es Raum gibt – in mir und um mich herum. Körper, Seele und Geist brauchen diesen Raum, sonst droht Krankheit. In der gegenwärtigen Welt, in der alles jederzeit verfügbar ist, müssen wir aktiv für diesen Raum sorgen. Von selbst entsteht er nicht. Körperlich führt Raumnot zum Beispiel zu Völlegefühlen, Verstopfung, Anhäufen von Giftstoffen oder Atemnot. Seelisch drohen Erschöpfung und Ausbrennen, die zu Burn-out, Ängsten und Depressionen führen können. Geistig-mental zeigen sich grübelndes Auf-der-Stelle-Treten, innere Kündigung und paradoxerweise trotz aller Fülle auch Leere- und Sinnlosigkeitsgefühle.

So formuliert Pierre Stutz treffend: »Wir brauchen Leer-Räume, um nicht gelebt zu werden, sondern voll Hoffnung und Widerstandskraft uns dem Leben in seiner ganzen Faszination und Widersprüchlichkeit stellen zu können. Wir brauchen Schweige-Räume, um Distanz zu schaffen zu den Ereignissen: die Augen schließen, um klarer zu sehen.«8 Das klingt wie ein Rezept gegen das Zuviel der westlichen Welt, in der wir alle leben. Gegen das Völlegefühl empfiehlt Stutz Leer-Räume, die es uns dann ermöglichen, wieder mit frischem Blick und neuem Mut zurückzukehren in unseren jeweiligen Alltag. Das ist das Gegenteil von Weltflucht. Es ist Lebens-Zugewandtheit, die durch das zwischenzeitliche Weniger, durch Pause und Rückzug immer wieder neu entsteht. Verzicht ist, so verstanden, keine radikale Abkehr von der Welt, sondern viel eher eine radikale Hinwendung zu ihr – mit einem klareren Blick!

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Welcher Verzicht hat Sie in letzter Zeit glücklich gemacht?

Wann haben Sie das bemerkt: unmittelbar oder zeitversetzt? Kennen Sie Leer-Räume in Ihrem Leben? Wie oft nutzen Sie sie? Was hindert Sie eventuell daran, diese Räume zu nutzen und sich Zeit für das Weniger zu nehmen?

Lieber ankommen als hinterherjagen
Verzicht auf Vergleich und Selbstoptimierung

Es gibt Wichtigeres im Leben,

als beständig seine Geschwindigkeit

zu erhöhen.

Mahatma Gandhi

In einem eindrucksvollen, nachdenklich stimmenden Experiment mit zwei Kapuzineraffen geht es um Folgendes: Zwei Affen stehen in zwei getrennten Käfigen mit Sichtkontakt nebeneinander. Sie werden für ihr Verhalten mit Gurkenstücken belohnt, die sie normalerweise sehr mögen. Immer wenn sie der Versuchsleiterin etwas aus dem Käfig herausreichen, erhalten sie ein Gurkenstück zur Belohnung. So weit so gut und unauffällig. Doch im Laufe des Experimentes verändert die Versuchsleiterin das Vorgehen, indem sie einem Affen weiterhin Gurkenstücke reicht, während der andere Affe Trauben erhält. Es dauert nur Sekunden, bis der vermeintlich benachteiligte Affe die Ungerechtigkeit wahrnimmt. Ungläubig rüttelt er an den Stäben des Käfigs. Obwohl er nach wie vor seine leckeren Gurkenstückchen erhält, verschmäht er diese nun. Im Gegenteil, er beginnt damit, wahllos Gegenstände aus dem Käfig zu schmeißen, gerät dabei sichtlich immer mehr in Rage und führt sich auf wie ein trotziges Kind.

Dieses eindrucksvolle Experiment lässt sich auf YouTube finden. Was zunächst belustigend erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinschauen als ein sehr bekanntes Phänomen, das uns allen alles andere als fremd ist. Wir vergleichen uns um Kopf und Kragen, oder zumindest verbannen wir Glück und Zufriedenheit aus unserem Leben, wenn wir die Brille des Vergleichens aufsetzen.

Heben wir das Ganze auf eine typisch menschliche Alltagsebene. Vielleicht haben wir gerade einen zehntägigen Urlaub in den Bergen gebucht, wir freuen uns auf eine erholsame Zeit fernab von Alltagshektik und Lärm. In dieser Stimmung erzählen wir unserem Nachbarn von der bevorstehenden Reise. Dieser lächelt anteilnehmend und berichtet in gleichem Atemzug, dass er demnächst auch für drei Wochen auf die Kanaren verreise. Schlagartig kippt die eben noch vorhandene Vorfreude ins Gegenteil. Sie beginnen darüber nachzudenken, warum ihr Nachbar schon wieder drei Wochen frei hat und dann auch noch das Geld, um auf die Kanaren zu fliegen. War er nicht erst kürzlich zwei Wochen im Urlaub? Das ist ja wohl eine ziemliche Ungerechtigkeit, dass jemand so viel Urlaub hat und dann auch noch derartige Reisen unternehmen kann.

Und so geschieht innerhalb kurzer Zeit etwas sehr Ähnliches wie mit dem Kapuzineraffen in dem beschriebenen Experiment. Der Vergleich mit jemandem, der vermeintlich mehr hat, vermiest uns die Stimmung, im schlimmsten Fall sogar den Urlaub, im allerschlimmsten das ganze Leben. Und das, obwohl wir bereits zufrieden waren. In­teressant ist nur, dass all dies nicht durch äußere Einflüsse, sondern durch innere Bewertungen geschehen ist. Dieses »Aufwärtsvergleichen« bietet nicht nur den Stoff für schlechte Träume, sondern auch für ein unzufriedenes Leben. Es hat das Zeug, uns zu einem »Mehr« anzutreiben, damit wir auch die Trauben bekommen, die der andere gerade isst.

Vielleicht halten wir mit diesem Ziel vor Augen nach weiteren Möglichkeiten des Geldverdienens Ausschau und streben rasche Karriereschritte an, die in der Regel mit einem Mehr an Arbeitszeit und einem Weniger an Freizeit und Erholung verbunden sind. Aber auch der Wunsch nach mehr Geltung und Anerkennung kann dieselbe Tretmühle aktivieren. Beides kostet Kraft und bindet Energie. Die allerdings stehen uns nicht unbegrenzt zur Verfügung, auch wenn wir gerade das oft ausblenden. Das Leben ist endlich. Wie will ich am Ende auf mein Leben zurückschauen?

Übrigens zeigen Untersuchungen zur weltweiten Lebenszufriedenheit, dass diese zwar vom Einkommen abhängt, aber nicht unendlich steigerbar ist. So hat sich in der westlichen Welt seit den 1980er-Jahren trotz eines weiteren Anstiegs des Bruttoinlandsprodukts, mit anderen Worten des Reichtums, die Lebenszufriedenheit nicht verändert. Mehr Geld und Besitz machen also keinesfalls glücklicher! Vielleicht lässt das die nächste Anschaffung in einem anderen Licht erscheinen. Der Homo Oeconomicus ist eine Erfindung der Wirtschaft. Es gibt zahlreiche psychologische Untersuchungen, die belegen, dass wir Menschen gerne mit anderen teilen, dass für uns Gerechtigkeit ein wichtiger Wert ist, dass wir von Natur aus hilfsbereit sind und dass deswegen ehrenamtliches Engagement für andere zufrieden macht.

Materielle Belohnung allerdings verdirbt tatsächlich unseren Charakter. Sie stimuliert unser Belohnungssystem, das dann rasch nach mehr verlangt. Wurden Kleinkinder in einem Experiment für ihre zunächst selbstlose Hilfsbereitschaft mit materiellen Dingen entlohnt, verlangten sie auch beim nächsten Mal diese Gegenleistung für ihre Hilfe. Das wirft ein brisantes Licht auf unser Wirtschaftssystem.

Auf das gleiche Phänomen stoßen wir in all den Bereichen des Lebens, die sich um Selbstoptimierung drehen, hiervon leben zahlreiche Werbebranchen und Influencer in den sogenannten sozialen Medien. Die besorgniserregende Zunahme an Schönheitsoperationen, die mittlerweile sogar von den Schönheitschirurgen selbst als kritisch angesehen werden, ist ein erschreckendes Zeugnis dieser Entwicklung. Zunehmend verändern Menschen ihre Porträts oder sonstigen Fotos mit einer Fotosoftware, bevor sie sie hochladen, um nur ja einem bestimmten Ideal zu entsprechen, das sich dadurch fatalerweise immer weiter verschärft. Denn selbst wenn wir schließlich besser aussehen als der Durchschnitt, mehr Geld verdienen als die meisten anderen, bessere sportliche Leistungen erbringen als die Peergroup oder weitere Urlaubsreisen vorweisen können als die meisten im persönlichen Umfeld, so wird unser rastloser Geist doch stets diejenigen ausfindig machen, die uns erneut voraus sind. Ähnlich wie dem berühmten Esel, der einer an einem Stab befestigten Möhre hinterherläuft und gar nicht merkt, dass er sie nicht erreichen kann, wird es uns mit dieser Philosophie niemals gelingen, satt zu werden.

Frau B., eine 28-jährige Patientin, erzählte mir bei Aufnahme in unsere Klinik, dass sie nun schon zum dritten Mal in eine Depression gerutscht sei. Angefangen habe das mit 15 Jahren. Damals habe sie sich von ihrem Umfeld ausgeschlossen und gemobbt gefühlt. Andere hätten sich über sie lustig gemacht. Sie habe den Eindruck bekommen, dass etwas mit ihr nicht stimme. So habe sie zum ersten Mal eine Diät gemacht, die schließlich in eine Magersucht gemündet sei. Mit 18 Jahren habe sie diese endlich überwunden, doch das Vergleichen mit anderen und vor allem die permanente Beschäftigung mit dem Essen sei geblieben. Ihre Stimmung kippe dadurch sehr leicht ins Negative, wenn sie ihre Essensziele nicht erreiche oder zu wenig Sport gemacht habe. Sie habe den Wunsch, endlich mit sich selbst ins Reine zu kommen und unabhängiger von der Meinung anderer zu werden, auf die sie bis zum heutigen Tage viel Wert lege, selbst wenn es sich nur um wenig vertraute Arbeitskolleginnen handelt.

Um innerlich wirklich satt zu werden, ist es notwendig, aus diesem Kreislauf des Vergleichens auszusteigen. Damit ist nicht gemeint, das Vergleichen ganz abzustellen. Das wird vermutlich den wenigsten Menschen gelingen. Es geht allerdings darum, möglichst rasch zu bemerken, welcher Film im eigenen Kopf schon wieder läuft, um ihm dann etwas anderes entgegenzusetzen. Frei nach Aristoteles bedeutet das, nicht den Wind beeinflussen zu wollen, sondern die Segel anders zu setzen. Dies kann beispielsweise auf folgende Weise geschehen: Ich bemerke meine durch das Vergleichen einsetzende Unzufriedenheit und die Suche nach Optimierungspotenzialen. Ich beginne meinen Blickwinkel auf das zu richten, was ich bereits bin und habe.

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Wie sehr hat mich das Erreichen eines Ziels erfüllt und zufrieden gemacht? Machte es einen Unterschied, ob es sich dabei um ein materielles Ziel oder einen immateriellen Wert handelte? Bei welchem Vergleich habe ich mich in letzter Zeit unglücklicher gemacht? Ist es mir schon mal gelungen, aus der Spirale des Vergleichens auszusteigen? Wie habe ich das geschafft? Wer oder was hat mich dabei unterstützt?

Wo erlebe ich Wertschätzung in meinem Leben und wofür? Was mögen andere an mir? Spielt Materielles dabei eine Rolle? Gab es eine Zeit in meinem Leben, in der ich mehr Zugang zu meinen Fähigkeiten und Stärken hatte? Wenn ja, welche waren das? Wie könnte ich heute meine Fähigkeiten und Stärken nutzen?

Bei all dem kann die Haltung der Dankbarkeit, auf die ich noch ausführlich eingehen werde, behilflich sein, weil sie auf das Ist und nicht auf das Soll schaut. Darüber hinaus kann ich immer wieder einmal das Gedankenexperiment dahingehend erweitern, dass ich mich mit all jenen vergleiche, denen es mit Sicherheit schlechter geht als mir. Dass derartige Gedankenexperimente tatsächlich Einfluss auf unser gegenwärtiges Befinden haben, zeigen zahlreiche psychologische Experimente. Eines beispielsweise fordert die Versuchsteilnehmer dazu auf, drei belastende, aber bewältigte Erfahrungen aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen, was dazu führt, dass die Gegenwart positiver abschneidet und man mit dieser zufriedener wird.

Andersherum geht es auch: Man fragt Menschen, die man zufällig in zwei Gruppen aufteilt, nach der Gesamtzufriedenheit mit ihrem bisherigen Leben. Die zwei befragten Gruppen unterscheiden sich lediglich in einer vermeint­lichen Winzigkeit. Während die eine Gruppe direkt befragt wird, lassen die Versuchsleiter die anderen, vermeintlich zufällig, zehn Cent vor der Befragung finden. Kaum zu glauben, aber wahr: Die soeben gefundenen zehn Cent heben die Stimmung offensichtlich derart, dass die Frage nach der gesamten Lebenszufriedenheit signifikant positiver ausfällt als in der Vergleichsgruppe. Offensichtlich ist es so, dass das gegenwärtige Befinden, in diesem Fall ausgelöst durch das Finden eines kleinen Zehn-Cent-Stücks, das innere Bewertungssystem in diesem Moment auf bedeutsame Weise beeinflusst.

Vergleichen hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Lebenszufriedenheit. Unser Gehirn tut dies in seiner Grundeinstellung immer in Richtung Defizit und Problem. Wenn unsere Vorfahren vor zehntausend Jahren morgens aus ihrer Höhle traten, hätten sie den Tag vermutlich nicht überlebt, wenn sie sich zunächst mal in die Sonne gelegt hätten, um deren Wärme zu genießen. Vielmehr musste der Blick auf die möglichen Herausforderungen und Gefahren, eben auf die Probleme, gerichtet sein: Wo lauert ein gefährliches Tier, wie bekomme ich heute die Nahrung zum Überleben etc. Das hat sich tief in die Matrix unseres Gehirns eingeprägt.

 

Genauso einprägsam sind biografische Erfahrungen, die mit unerfüllten Bedürfnissen einhergingen. Auch das kann uns sehr rasch in die Tretmühle des Optimierens treiben. So kann es hilfreich sein, unterscheiden zu lernen, wer in mir sich gerade so anstrengt, anders werden zu wollen, und dafür einen hohen Preis zahlt. Wir sind nämlich nicht alleine unterwegs, sondern begleitet von unterschiedlichen inneren Anteilen, deren Bedürfnisse in der frühen Entwicklung unserer Kindheit mehr oder weniger gut erfüllt wurden. Blieben sie unerfüllt, resultiert daraus oft eine dauerhafte Sehnsucht, den Mangel zu beheben. Musste ich mich beispielsweise stets besonders anstrengen, um die Aufmerksamkeit meiner Eltern zu bekommen, so liegt es nahe, dass sich ein »Antreiber-Anteil« entwickelte, der mich stets zu noch mehr Leistung bringen will, auch wenn das heute gar nicht mehr nötig ist, um wahrgenommen und anerkannt zu werden.

Die Crux dabei: Durch Selbstoptimierung und Leistungssteigerung lässt sich dieser Mangel nicht beheben. Was kann stattdessen helfen? Freundlichkeit und Trost nach innen! Das bedeutet einerseits anzuerkennen, dass ein Anteil in mir damals in der Kindheit einen Mangel erlebt hat, andererseits darauf heute mit Zuwendung und Trost zu reagieren und das Antreiben und Optimieren zu beenden. Wenn ein Kind sich wehgetan hat, findet es am schnellsten zum Spielen zurück, wenn es in den Arm genommen wird und der Schmerz anerkannt wird. Genauso kann ich mich als Erwachsener um mich selbst kümmern.

Das alles müssen wir berücksichtigen, um die Richtung des permanenten Vergleichens und Optimierens zu beeinflussen und dabei gleichzeitig wohlwollend mit uns zu bleiben. Denn: Für die Grundeinstellung können wir nichts! Gelingt uns ein Richtungswechsel, steigern wir damit nicht nur unser Wohlbefinden, wir gewinnen auch auf anderer Ebene. Weniger Geld verdienen müssen, lässt Freiraum für das Leben selbst. Weniger an sich selbst optimieren und verbessern müssen, kann Zeit und Energie für das freisetzen, was ich als wesentlich und wirklich sinnvoll für mich erkenne. Statt permanenter Anspannung und Anstrengung entsteht so Raum für Gelassenheit und Entspannung. Dies sorgt mit Sicherheit für einen Gewinn an körperlicher und seelischer Gesundheit.

Machen Sie sich bewusst, dass unser Gehirn die Misserfolge der Vergangenheit ebenso überbewertet wie die Sorge vor der Zukunft.9 Es lässt die Zukunft so erscheinen, als wäre sie bereits real. Dabei wird sie nie so werden, wie ich mir das gerade vorstelle. Die Auswirkungen dessen spüre ich allerdings jetzt: Unzufriedenheit, Sorge, Ängste. Unser Gehirn neigt dazu, das Gute im Augenblick genauso wie unsere bisherigen Erfolge zu übersehen oder zumindest unterzubewerten. Verrückterweise sehnen wir uns später oft nach dem zurück, was wir früher einmal erlebt haben, obwohl wir uns in der damaligen Gegenwart gar nicht so glücklich gefühlt haben.

Evolutionsgeschichtlich war über die gesamte Menschheitsentwicklung der Blick auf die Gefahren überlebenswichtig, das hat unser Gehirn perfektioniert. Heute ist es für die eigene Gesundheit und, wie ich glaube, auch für das Überleben der Menschheit notwendig, auch auf das Erreichte, das Gute, den Augenblick zu schauen.

Dort, wo uns das gelingt, kommen wir an und müssen nichts weiter erreichen. Wir befinden uns im »grünen Bereich« und genau das befreit uns aus der Spirale von Stress und Getriebensein, dem orange-roten Bereich in unserem Leben. Negatives Stresserleben treibt uns an und aktiviert Reaktionen von Kampf, Flucht oder gar Erstarrung. All das führt damit weg von dem, was jetzt gerade gut ist. Interessanterweise gelingt diese Haltung des Ankommens Menschen ab etwa Mitte 50 viel besser, sie müssen nicht mehr allem hinterherjagen und haben oft die sogenannte Rushhour des Lebens schon hinter sich. Dadurch sind sie wesentlich zufriedener und glücklicher mit ihrem Leben.10

Noch etwas gilt es zu berücksichtigen. Selbstoptimierung zeigt dem anderen nur eine Seite von mir und tut so, als gäbe es keine anderen: keine Schwächen, keine Zweifel und keine Unsicherheiten. Das schafft keine Nähe, sondern Distanz und macht in letzter Konsequenz einsam, wie der amerikanische Mediziner Dean Ornish feststellt.11 Damit untergräbt Selbstoptimierung das überlebenswichtige Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit. Die Geschichte von Michael Jackson entfaltet vor diesem Hintergrund eine nochmals andere Perspektive und zeigt, wie ich finde, eine tiefe menschliche Tragik. Einer der erfolgreichsten, berühmtesten und reichsten Musiker der Popgeschichte vereinsamte mit zunehmender Selbstoptimierung, unter anderem in Form zahlloser Schönheitsoperationen, immer mehr. Ob ihn diese Einsamkeit möglicherweise auch zu sexueller Gewalt an Kindern trieb, vermag ich nicht zu entscheiden, es würde aber durchaus passen.

In unserer Klinik machen wir die gegenteilige Erfahrung. Immer wieder beschreiben Patienten es als entlastend und beziehungsstiftend, Gefühle und damit vermeintliche Schwäche zeigen zu können und dabei festzustellen, dass sie all das mit den meisten anderen teilen. So ist denn auch die sogenannte Universalität von leidvollen Erfahrun­gen eines der entscheidenden Wirkprinzipien von Gruppenpsychotherapie.

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Habe ich schon mal erlebt, dass es wohlwollend aufgenommen wurde, wenn ich meine »Schwächen« gezeigt habe, und dass mich dies erleichterte? Mit wem habe ich diese Erfahrung geteilt? Wem gegenüber könnte ich mir heute vorstellen, meine Masken einmal ein wenig zu lüften? Und wie fühle und verhalte ich mich, wenn andere mir ihre Schwächen offen­baren?

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Gerne darf der Blick auch auf die andere Seite gerichtet werden: Was mag ich an mir? Womit in meinem Leben bin ich zufrieden? Was darf gerne so bleiben, wie es ist? Und vor allem: Was sind denn eigentlich meine Fähigkeiten und Stärken? Wem nichts einfällt, den lade ich zu einer kleinen Reise in die eigene Vergangenheit ein.

Was konnten Sie als 8-Jährige, als 18-Jähriger, als 28-Jährige besonders gut? Welche Stärken haben andere damals in Ihnen gesehen? Wo waren Sie mutig, kreativ, neugierig, bescheiden, mitfühlend, gerecht, fair, liebevoll, demütig? An was haben Sie damals geglaubt und worüber gelacht?

Das alles und noch viel mehr sind nämlich Stärken und Fähigkeiten. Auf sie zu blicken, macht das Leben reich. Die positive Psychologie hat sich ausführlich damit beschäftigt und festgestellt, dass über alle Kontinente, Religionen und Weltanschauungen hinweg ganz Ähnliches als Stärke und Tugend beschrieben wird.

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Und dann können Sie, wenn Sie mögen, noch einen Schritt weiter gehen, indem Sie sich fragen: Was würde sich verändern, wenn ich mich mit meinen »Macken« versöhnte? Und nur mal angenommen, ich könnte bestimmte Begrenzungen und Einschränkungen an mir freundlich anschauen, welchen Unterschied würde das machen? Könnte ich diese Begrenzungen und »Macken« vielleicht sogar nutzen? Wie könnte das aussehen?

Diese ungewöhnlichen und lohnenden Fragen bergen ein enormes Potenzial. Sie können dem Selbstoptimierungswahn etwas Entscheidendes entgegensetzen, etwas, was Sie längst schon besitzen! Und Sie gewinnen eine Menge: Zeit, Geld, Gelassenheit, Zufriedenheit und vieles mehr.

Das Versprechen, alles erreichen zu können, wenn man sich nur genug anstrengt und optimiert, ist eine Anleitung zum Unglücklichsein! Es ist eine Tretmühle: Egal wie schnell und erfolgreich man tritt, man landet in aller Regel dort, wo man gestartet ist. Warum? Weil sich unsere Vergleichspunkte genauso schnell drehen wie unsere Erfolge. Es ist wie mit einem schnellen Auto, das neben einem genauso schnellen fährt – man bemerkt das Tempo nicht und hat den Eindruck, dass man im Vergleich mit dem anderen an der gleichen Stelle ist wie zuvor. In der Sozialpsychologie nennt man dieses Phänomen »shifting baselines«. Die Bezugspunkte entwickeln sich immer mit und mit ihnen unsere Ansprüche. Deswegen möchten die meisten Befragten eines Experimentes auch lieber in einer Gesellschaft leben, in der sie mehr als der Durchschnitt verdienen, selbst wenn sie das Doppelte erhalten könnten, dafür aber im Lohn-Mittelfeld landeten.12

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