Ein unerwartetes Geständnis

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3

Meine Eltern brachten mich im Oktober 1966, am Sonntag, bevor ich meinen Job antreten sollte, in unserem VW Käfer nach Würzburg. Es war nur eine knappe Stunde Fahrt mit dem Auto.

Tante Alice hatte sich für unseren Empfang tüchtig ins Zeug gelegt. Sie hatte einen Kuchen gebacken und einen echten Bohnenkaffee aufgebrüht. Sogar eine Schale mit Schlagsahne stand auf der sorgfältig gedeckten Kaffeetafel.

Mutter und ich machten ihr Komplimente, und selbst Vater rang sich zu einer löblichen Erwähnung der Mühen seiner Schwester durch.

Wir ließen es uns schmecken und plauderten in einer angenehmen Atmosphäre.

Später trug Vater meinen Koffer in das kleinste Zimmer der Wohnung, ein Raum vom Zuschnitt einer Schuhschachtel, doch hell mit einem bequem aussehenden, frisch bezogenen Bett, einem kleinen Nachttisch mit Lämpchen, einem schmalen Schrank und sogar einem Waschbecken. So brauchte ich nur für Dusche und Toilette das Bad der Tante mitzubenutzen. Man konnte dank eines Elektroboilers jederzeit duschen; bei uns zu Hause musste der Badeofen erst mit Reisig und Holz mühevoll angeschürt werden. Hier war das ein Luxus! Meine Eltern zeigten sich beeindruckt.

Nach dem Kaffeetrinken führte uns Tante Alice in die Weinstube, nur ein paar Straßen weiter. Sie bestand aus einem großen, dunklen Saal, der in mehreren Nischen abgeteilt war. Daran schlossen sich weitere kleinere Gasträume an. Alles war gediegen eingerichtet. Überall saßen Menschen, die fröhlich tranken, plauderten, rauchten.

Meine Mutter fand es gut, dass auch viele Frauen darunter waren; bei uns im Dorfgasthaus wäre das undenkbar gewesen.

Tante Alice winkte zur Theke, und eine resolut wirkende, ältere Frau, ihr graues Haar zu einem strengen Knoten frisiert, kam auf uns zu. Ihre ganze Erscheinung strahlte Führungsstärke aus.

Alice stellte uns gegenseitig vor. Es war Frau Hartmann, meine künftige Chefin. In ihrem geröteten Gesicht funkelten lebhafte, freundliche Augen.

Sie dirigierte uns zu einem leeren Tisch; ein Kellner eilte sofort herbei, um unsere Wünsche aufzunehmen. Selbstverständlich waren wir eingeladen.

Mit ihrer dunklen, fast männlich wirkenden Stimme wandte sie sich an mich: »Sie heißen also Bärbel. Was für ein schöner Name! Meine Mutter hieß auch so. Sie ahnen gar nicht, liebe Bärbel, wie dringend wir Sie brauchen. Alice hat mir schon viel über Sie erzählt, wie flink und tüchtig Sie sind. Ich freue mich auf Sie.«

Sie umschloss mit ihren großen, warmen Händen meine blassen, kalten und nahm mir mit dieser Geste etwas von meiner Aufregung.

Natürlich versuchte ich abzuwiegeln, unterstrich, dass ich keine Ahnung vom Bedienen hätte, man mir erst noch alles beibringen müsse.

»Das ist doch gar kein Problem. Nach ein paar Stunden können Sie’s. Das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an.« Sie lachte und tätschelte meinen Arm.

Es musste sich in der Weinstube herumgesprochen haben, dass eine neue Kollegin bei der Chefin am Tisch sitze, denn nach und nach kamen die anderen Bedienungen zu uns her, stellten sich kurz vor, reichten mir und meinen Eltern die Hand und wünschten mir einen guten Start. Sie waren adrett mit schwarzer Hose oder Rock und weißem Hemd beziehungsweise Bluse gekleidet, so wie ich mich ab morgen auch bei der Arbeit anzuziehen hatte. Alle machten sie einen freundlichen, recht sympathischen Eindruck.

Meine Eltern und meine Tante waren bestens gelaunt, als wir gingen. Selbst Vaters Bedenken schienen zerstreut; auch mir war es leichter ums Herz.

»Nur schade, dass ihr Fritz nicht kennenlernen konntet«, meinte Tante Alice. »Er hat heute erst ab 18 Uhr Dienst und ruht sich immer gern vorher etwas aus.«

Dafür hatten meine Eltern Verständnis. Zufrieden fuhren sie in ihrem Auto nach Hause.


»Wenn ich jetzt zurückdenke, Simone, mein Schatz, bin ich froh, dass meine Eltern Fritz nicht begegnet sind. Sie haben eine gute Menschenkenntnis, und sie wären nicht so beruhigt nach Hause gefahren.«

»War es denn so schlimm mit ihm, Mama?«

»Nein, das nicht, aber nervig. Er war ein schleimiger, mir unsympathischer Typ mit anzüglichen Sprüchen, der auch noch glaubte, meinen Aufpasser spielen zu müssen.« Bärbel lachte. »Aber ich habe ihn schon in die Schranken verwiesen. Jedoch ist mir nie ganz klar geworden, was Tante Alice an ihm gefunden hat.«

Sie schloss für Sekunden die Augen. Das Reden hatte sie angestrengt.

»Mama, wir machen jetzt mal eine Pause. Es ist Zeit für deinen Tee und die Medizin, und ich mache mir noch einmal eine Tasse Kaffee.«

»Ja, gut. Aber wir halten die Pause kurz, legen dafür erst nach dem Mittagessen eine längere ein. Da schlafe ich dann immer eine Stunde, und du kannst dich dann auch ausruhen oder spazieren gehen, ganz, wie du möchtest.«

Eine Viertelstunde später saß Simone bereits wieder am Bett der Mutter und nippte an ihrer Tasse. Die Mutter schien wieder erholt und begierig zu sein weiterzuerzählen.

4

In meiner ersten Nacht in Würzburg schlief ich trotz des harmonischen Tagesverlaufs und der ermutigenden Begegnungen nicht gut. Das Zimmer war nicht völlig dunkel, wie ich es von zu Hause gewöhnt war, Licht und Schatten huschten trotz geschlossener Vorhänge über die Wand. Der Verkehrslärm, den ich tagsüber kaum wahrgenommen hatte, dröhnte in ständig wechselnder Lautstärke zu mir ins Zimmer hinauf. Daheim hörte ich höchstens mal ein Käuzchen rufen oder frühmorgens im Sommer bei geöffneten Fenstern die Vögel zwitschern.

Irgendwann war ich wohl doch eingeschlafen, denn ich erwachte vom Lärm, den Tante Alice am Morgen in der Küche beim Zubereiten des Frühstücks machte.

Ihre Schicht begann früh, und wir hatten ausgemacht, dass ich erst aufstehen sollte, wenn sie das Haus verlassen hatte, denn ich brauchte erst um 12 Uhr bei der Arbeit zu erscheinen.

Heute Mittag sollte ich, noch während die Weinstube geschlossen hatte, von meiner Chefin eine Einweisung erhalten und erst am frühen Abend, wenn das Lokal geöffnet hatte, zum ersten Mal selbstständig Gäste bedienen.

Meine alten Ängste kehrten nun zurück: Was, wenn ich die Weinsorten verwechsle oder gar stolpere und das vollgeladene Tablett fallen lasse? Was, wenn die Chefin mir gleich nach dem ersten Abend mitteilt, dass sie mich leider für ungeeignet hält und nicht weiter brauchen kann? Dann muss ich gleich morgen wieder nach Hause fahren. Schon bei der Vorstellung dieser Schande wurde mir ganz heiß.

Frau Hartmann begrüßte mich mit ihrem breiten Lächeln in der Weinstube. Sie musste mir wohl meine Hemmungen angesehen haben, denn sie nahm wieder meine Hand und tätschelte sie.

»Ja, ja, ja, meine Liebe. Aller Anfang ist schwer, und es ist ganz normal, wenn du ein kleines bisschen Angst hast. Es ist dir doch recht, wenn ich du zu dir sage, Bärbel?«

Ich nickte heftig.

»Als ich dich gestern so mit deinen Eltern habe ins Lokal reinkommen sehen, da habe ich gleich gespürt, dass du zu uns passt. Das habe ich im Gefühl, und ich täusche mich selten.«

Die Chefin zeigte mir, in welche Gläser welcher Wein eingefüllt und serviert wurde: Die grünen Römer waren für den Silvaner, die gelben für den Müller-Thurgau, Riesling wurde in weißen Stielgläsern an den Tisch gebracht. Die Kollegen an der Theke richteten sich beim Befüllen nach einem bestimmten Schema, und ich musste mit ihm vertraut sein.

Eifrig machte ich mir Notizen, fertigte sogar zur Klarheit einige Skizzen an. Bis zu meinem ersten Einsatz am Abend lernte ich alles auswendig.

Meine Aufgabe war es, Bestellungen für Essen und Getränke aufzunehmen, zusammen mit der Tischnummer in der Küche beziehungsweise an der Theke abzugeben und anschließend zu servieren. Erst einmal brauchte ich nicht zu kassieren, das würde erst später hinzukommen.

»Nun das Wichtigste, Bärbel: lächeln, lächeln, lächeln. Immer freundlich bleiben, auch wenn manchmal die Leute dumm daherreden. Der Gast hat immer recht. Auch bei größtem Betrieb nie hektisch werden oder zu schnell hin- und herflitzen, das stört die Gemütlichkeit. Ruhe bewahren ist die oberste Oberpflicht.«

Frau Hartmann ließ kurz ihr kehliges Lachen erklingen, dann legte sie mir ihre Hand auf den Arm. »Und wenn es mal ein Problem geben sollte, kommst du einfach zu mir.«

In der Ecke der Gaststube schaute ich meine Notizen immer wieder an, drehte die Seiten um, versuchte, alles auswendig herzusagen. Danach stand ich auf, um mir die Tischnummern einzuprägen, das war leichter als gedacht, weil sie im Uhrzeigersinn angeordnet waren. Probehalber nahm ich dann ein Serviertablett in die Hand, stellte es voll leerer Gläser und trug es zu einem weit entfernten Tisch. Die Gläser schepperten. Ich versuchte, das Tablett ruhiger zu halten, langsamer zu gehen. Schon besser!

Auf der Toilette zog ich mir dezent meine Lippen nach und puderte mir die Nase. Ich überprüfte, ob der schwarze Rock und die weiße Bluse richtig saßen. Dann versuchte ich, freundlich in den Spiegel zu lächeln. Nicht schlecht.

Als ich zurückkehrte, stand ein Kellner hinter der Theke und musterte mich augenfällig. Er hatte ein teigiges Gesicht und dunkles, dünnes Haar, das mit einer Frisiercreme eng an die Kopfhaut hin gekämmt war. Über dem weißen Hemd trug er eine schwarze Weste, die um den Bauchansatz etwas offenstand.

»Guten Abend«, murmelte ich leicht irritiert.

 

Der Mann verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »O la la, du bist bestimmt Bärbel vom Lande, die Vielgepriesene.« Er streckte mir seine Hand entgegen und drückte die meine so stark zusammen, dass ich aufschrie. Was für ein Rüpel!

»Mein Alice-Mäuschen hat mir ganz verschwiegen, was für ein hübsches Vögelchen sie sich da eingefangen hat.« Er lachte blechern.

Ich erschrak.

Das sollte Fritz sein? So ein unsympathischer Kerl? Hatte denn die sonst so stilsichere Tante gar keinen Geschmack, was Männer betraf?

Fritz musste meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben. »Na, Bärbelchen, du brauchst gar nicht so finster zu gucken. Du hast nämlich Glück: Der liebe Fritz nimmt dich unter seine Fittiche, darauf kannst du dich verlassen!« Sein heiseres Lachen und sein lüsterner Gesichtsausdruck jagten mir einen Schauer über den Rücken.

Wie gut, dass jetzt zwei weitere Kellner den Raum betraten. Es waren die netten von gestern, die mich auch gleich herzlich begrüßten. Dann kam noch eine blondierte Frau mittleren Alters dazu, die mir, ohne die Miene zu verziehen, die Hand reichte und murmelte: »Ich bin Evi. Halsund Beinbruch!«

Ich lächelte sie an und bedankte mich.

Sie nickte mir zu.

Frau Hartmann teilte uns bestimmte Tische zum Bedienen zu. Nur um diese hätten wir uns zu kümmern und sollten lediglich bei anderen aushelfen, wenn wir ausdrücklich darum gebeten würden.

Bevor die Chefin die Weinstube aufschloss, kam sie auf mich zu und hob mit ihrem Mittelfinger mein Kinn an. »Kopf hoch und lächeln, lächeln, lächeln!«

Ich versuchte es, obwohl mir nicht unbedingt danach war.

Als dann die ersten Gäste hereindrängten, und gleich eine Gruppe an einem meiner Tische Platz nahm, begann ich zu funktionieren: Ich begrüßte sie freundlich, händigte Speise- und Weinkarten aus. Da die Leute selbst entspannt und nett waren, fiel es auch mir nicht schwer. Ich nahm die Bestellungen auf und servierte korrekt. Mir unterlief kein einziger grober Schnitzer. Jawohl, ich konnte es!

Vor Freude straffte ich die Schultern, trug ruhig und besonnen die Tabletts zu den Tischen, wünschte »Zum Wohl!« oder »Guten Appetit«, das Lächeln kam von allein.

Als die letzten Gäste das Lokal verlassen hatten, setzten sich die Kellner und einige Mitarbeiter aus der Küche, die ich noch nicht kennengelernt hatte und auf Anhieb sympathisch fand, am Stammtisch zusammen und tranken ein Bier. Auch ich ließ mir eines geben, denn Frau Hartmann meinte, damit würde man am besten herunterkommen.

»Heute war Bärbels erster Arbeitstag, und ich finde, sie hat ihre Sache gleich ganz hervorragend gemacht. Bravo, Bärbel!« Meine Chefin erhob das Glas, die anderen taten es ihr nach.

Auch von den Kollegen kamen anerkennende Worte, die mir sehr guttaten. Ich fühlte mich wie nach einer schwierigen Prüfung, die ich eben bestanden hatte: glücklich und stolz.

Lachend wehrte ich ab und schaute zufrieden in die Runde. Eine wirklich nette Mannschaft. Mich störte in diesem Augenblick nicht einmal Fritz’ öliges Grinsen.

Als wir unsere Mäntel anzogen und das Lokal verließen, wartete er auf mich. »Na, Bärbelchen, du willst doch bestimmt nicht allein heimgehen, in der großen, fremden Stadt. Der liebe Fritz wird dich begleiten.« Dabei stellte er sich so dicht neben mich, dass der Geruch seiner Haarcreme mir in die Nase stieg.

Unsere Kollegin Evi, die hinter ihm stand und alles mitanhörte, runzelte die Stirn.

Ich wich ein paar Schritte zurück. Dann sprach ich extra laut, dass Evi es mühelos mithören konnte: »Danke, Fritz, aber ich bin schon dem Kindergarten entwachsen und kann allein laufen. Gute Nacht!«

Fritz verzog das Gesicht. »Ganz wie du willst, mein Vögelchen, war ja nur ein gut gemeintes Angebot.«

Evi nickte mir hinter seinem Rücken zu und grinste.

Tante Alice saß im Nachthemd in der Küche, als ich nach Hause kam. Ich setzte mich zu ihr und erzählte ihr, mit Ausnahme meiner Eindrücke von Fritz, alles von meinem ersten Tag.

Sie war erleichtert, dass es mir so gut gefiel, und nahm mich in den Arm, bevor sie mir eine gute Nacht wünschte.

Ich würde sie wochentags kaum sehen, denn wenn sie heimkam, war ich bereits zur Arbeit weg. Samstags hatte sie frei und wollte sich mit Fritz treffen.

Aber am Sonntag hatten wir beide Zeit und wollten etwas gemeinsam unternehmen. Ich freute mich darauf, auch weil ich wusste, dass Fritz dann Dienst hatte und ich mit Alice allein sein würde.

Die Woche verging wie im Fluge. Tagsüber schaute ich mir nicht nur die Geschäfte an, sondern auch einige Sehenswürdigkeiten, die ich bisher nur im Vorbeifahren erblickt hatte. Mit dem Stadtführer von Tante Alice in der Hand nahm ich die Gelegenheit wahr, die Stadt gründlicher kennenzulernen und auch weniger Bekanntes wahrzunehmen.

Meine Arbeit in der Weinstube war zwar körperlich anstrengend, aber es machte mir Freude, dort zu bedienen. Ich wurde gelassener und selbstbewusster. Schon nach einer Woche durfte ich sogar kassieren.

Zu den Kollegen fand ich guten Kontakt, wir lachten viel, und Fritz, der ach so Wichtige, konnte mir mit seinen anzüglichen Reden die Freude nicht trüben.

5

Am Sonntag wanderten Tante Alice und ich nach einem ausgiebigen Frühstück hinauf zur Festung Marienberg, die mächtig über der Stadt thronte. Wir erzählten uns gegenseitig von den Erlebnissen der Woche. Von Fritz sagte ich wieder nichts. Alice musste es aufgefallen sein, denn sie fragte diesmal nach: »Und, ist mit Fritz alles klar?«

»Sicher, es hat ja jeder seine abgegrenzten Aufgaben, und wir kommen uns nicht in die Quere.« Ich lachte zur Auflockerung.

Bestimmt hatten Fritz und sie gestern über mich gesprochen. Meine Tante war neugierig, und ihr Freund redselig. Ich hätte Mäuschen sein mögen.

Auf den steilen Stufen hinauf zur Festung kamen wir ins Schnaufen. Alice blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Fritz ist dir nicht sympathisch, das spüre ich. Immer, wenn er neuen Leuten begegnet, will er Eindruck machen und redet zu viel. Du darfst ihm das nicht übelnehmen, Bärbel, denn im Grunde ist er ein feiner Kerl.« Sie lächelte etwas unsicher zu mir herüber.

Ich nickte und versicherte ihr, dass es zwischen Fritz und mir keine Probleme gebe.

Damit war das Thema erledigt, und sie erzählte befreit vom gestrigen Abend mit Fritz im Kino und anschließend bei ihr zu Hause. War Fritz noch da gewesen, als ich von der Arbeit nach Hause kam? Ich hatte ihn weder gehört noch gesehen, aber ich war ja müde gewesen und sofort eingeschlafen. Der Gedanke jedoch, ihm vielleicht einmal in Zukunft beim Gang zur Toilette im dunklen Flur begegnen zu können, beunruhigte mich.

Von der Festung bot sich ein herrlicher Blick auf die Stadt, die Umgebung und den Main direkt unter uns. Ich konnte mich kaum sattsehen, und meine Tante erklärte mir, wo was lag und wohin wir an unseren gemeinsamen freien Tagen noch hinwandern könnten.

Alice hatte keine Lust, das Mainfränkische Museum in der Burg zu besuchen, auf das ich mich eigentlich gefreut hatte. Sie wollte lieber an der Alten Mainbrücke einen Schoppen auf einer Terrasse in der Sonne trinken, einen Erholungsschlaf halten und den restlichen Tag zu Hause vergammeln.

Ich bekundete Zustimmung, nahm mir jedoch vor, später einmal allein in dieses Museum zu gehen. Im Stadtführer war von herausragenden Kunstwerken die Rede, die ich mir auf keinen Fall entgehen lassen wollte.

Mit meinen Eltern hatten wir vereinbart, dass sie mich an den Wochenenden, an denen ich nicht zu ihnen ins Dorf heimkam, zu einer bestimmten Zeit sonntags anrufen konnten. Meine Tante hatte bereits Telefon, die Eltern jedoch noch nicht, und so musste Mutter, um mit mir reden zu können, zum öffentlichen Fernsprechhäuschen gehen.

Mutter war pünktlich. Als das Telefon läutete, nahm Alice ab und reichte mir nach ein paar Höflichkeitsfloskeln den Hörer. Mutters Stimme klang ungewohnt, ich hatte sie noch nie am Telefon sprechen hören. Sie redete lauter als sonst, hatte wohl Angst, von mir auf diese große Entfernung nicht verstanden zu werden. Wir versicherten einander in wenigen Sätzen, dass es uns gutginge. Von der Arbeit schwärmte ich ihr regelrecht vor. Mit dem Versprechen, nächstes Wochenende zu Hause ausführlich zu erzählen, beendeten wir das knappe Gespräch. Telefonieren war schließlich teuer. Und meine Mutter war es gewohnt, jeden Pfennig umzudrehen.

Die nächsten Wochen in Würzburg waren unbeschwert, auch der Besuch zu Hause gestaltete sich harmonisch.

Ich hatte das Gefühl, jetzt im Spätherbst kamen die Eltern ganz gut ohne mich klar. Jedenfalls schmierten sie mir nicht aufs Butterbrot, was für ein Opfer es sei, auf meine Arbeitskraft einige Monate verzichten zu müssen.

Erwartungsfroh fuhr ich wieder nach Würzburg zurück.

Aber in der darauffolgenden Woche geschah etwas, meine liebe Simone, das mich völlig aus dem Gleichgewicht brachte.


Das Gesicht von Mutter Bärbel umspielte ein geheimnisvolles Lächeln.

6

Eines Abends, es muss Ende Oktober 1966 gewesen sein, grinste Fritz mich, kurz bevor wir das Lokal aufsperrten, wieder einmal schmierig an.

»Heut’ haben Amis einen deiner Tische reserviert. Zehn Personen. Glück für dich. Wenn so ein blondes, fesches Fräulein ihnen schöne Augen macht, sprudelt das Trinkgeld. Davon kann unsereins nur träumen.«

»Ich mache niemandem schöne Augen, damit du es weißt! Und jetzt lass mich in Ruhe!«

»Mir kannst du nichts weismachen. Ich kenn mich mit Frauen aus.« Sein schepperndes Lachen folgte mir wie eine Schleppe durch den Raum.

Ich war froh, als die ersten Gäste hereindrängten und ich gut zu tun hatte. Für mich war es das Natürlichste der Welt, nett und freundlich zu sein. Das hatte nichts mit Anbiederung zu tun. Ich konnte gar nicht anders. Klar machte sich das auch beim Trinkgeld bemerkbar. Jeder konnte nach der Abrechnung seinen Teil selbst behalten. Wir verglichen nie direkt, aber ich war mir sicher, dass meines als angelernte Kraft den Vergleich zu manch ausgebildetem Kellner, wie zum Beispiel Fritz, nicht zu scheuen brauchte. Das gab mir eine gewisse Genugtuung.

Laut plaudernd kamen jetzt die Amerikaner herein und nahmen Platz.

Aufgeregt brachte ich ihnen die Karten. »Hello! Sorry, I … no English!«

Zu meinem Bedauern hatten wir es in der Volksschule nicht gelernt. Ich kam mir vor wie ein Dorftrampel.

Gott sei Dank waren es freundliche junge Männer, auch zwei Farbige waren dabei. Als ob er etwas von meiner Unsicherheit ahnen würde, lächelte mich einer der Dunkelhäutigen an und sagte: »Guten Abend, Fräulein. Mein Name ist Simon. Ich kann etwas Deutsch sprechen.«

Sein Akzent war unverkennbar amerikanisch, die Stimme klang wunderbar weich.

Erleichtert lächelte ich zurück. Die Bestellungen waren also kein Problem mehr. Besonders bei den verschiedenen Schoppen oder wenn einer bei den Speisen eine andere Zutat wollte, war es eine Riesenhilfe, einen Dolmetscher zu haben. Und einen so sympathischen dazu.

In der von gedimmten Lampen und einigen Tischkerzen mäßig beschienenen Weinstube strahlte das Weiße seiner Augen, und wenn er redete und lächelte, hellten seine blendend weißen Zähne das dunkle Gesicht auf, als würde eine Kerze von innen seinen Kopf erleuchten.

Jedes Mal, wenn ich etwas brachte, bedankte er sich in seinem lustigen Akzent, und ich konnte vor lauter Faszination kaum die Augen abwenden. Damals hatten wir noch nicht viele dunkelhäutige Leute gesehen.

An der Theke raunte Fritz mir zu: »Pass auf, der Schwarze hat ein Auge auf dich geworfen!«

»Du spinnst wohl!« Ich spuckte die Worte nur so aus, würdigte ihn keines Blickes und eilte mit meinem Tablett davon.

Der Abend verging wie im Flug. Als die Amerikaner zahlen wollten, verlangten sie nur eine einzige Rechnung. Wie bequem für mich. Jeder legte seinen Teil auf den Tisch. Simon kontrollierte und zahlte. Er ließ ein hohes Trinkgeld liegen. »Für die sehr nette und aufmerksame Bedienung. Danke, Fräulein!«

Mir wurde warm. »Danke auch!«, hauchte ich.

Er stand auf, schlank und hochgewachsen, mehr als einen halben Kopf größer als ich, und streckte mir seine Hand entgegen. Mir ist noch heute vor Augen, wie seine große dunkle meine kleine bleiche Hand fast völlig umschloss. Der Händedruck war fest und warm.

 

Ganz sicher konnten diese Finger zärtlich sein. Ein Gedankenblitz, ungewollt, unangemessen. Sofort zog ich meine Hand zurück, drehte Simon den Rücken zu und stellte die leeren Gläser aufs Tablett.

Die Amerikaner gingen zur Garderobe, zogen ihre Jacken an und verließen die Weinstube.

Simon machte kurz vor der Tür abrupt kehrt und kam noch einmal zu dem Tisch, an dem ich gerade mit den Gläsern hantierte. Er zeigte mir sein blendendes Lächeln und fragte mit weicher Stimme: »Würden Sie mir verraten, wie Sie heißen, mein Fräulein?«

Mir schlug vor Freude das Herz schneller, ich musste es ihm einfach sagen.

»Bärbel«, wiederholte er, und es hörte sich an wie »Barbel«. Ich verbesserte ihn. Wir lachten. Was für ein Mann!

»Bis bald, Fräulein Bärbel!«

Ich konnte gar nicht anders, als vor mich hin zu lächeln, als ich zur Theke zurückeilte.

Fritz polierte gerade Gläser. »Oh, oh, oh. Das war ja ein heißer Flirt, Kleine! Und das mit einem Neger!« Er neigte sich zu mir herüber und senkte seine Stimme: »Dabei hast du doch Besseres verdient!« Dann lachte er heiser.

Aber selbst Fritz’ Anzüglichkeiten konnten mir meine Freude an diesem Abend nicht trüben.

Auf dem Nachhauseweg flüsterte ich seinen Namen vor mich hin. »Saimen!« Wie melodisch und verheißungsvoll das klang!

»Saimen.«

Damals war mein Englisch so dürftig, dass ich keine Verbindung zum deutschen Vornamen »Simon« erkannte.

Beim Einschlafen sah ich noch einmal Simons Augen blitzen und sein Lächeln aufleuchten, lauschte seiner weichen Stimme nach und spürte wieder mit heißem Prickeln, wie seine Hand die meine umschloss. Schwarz und weiß. Was für ein erregendes Duo! Meine Fantasie ging mit mir durch. Simon kam voller Sehnsucht auf mich zu und schloss mich zärtlich in die Arme wie ein Märchenprinz seine Prinzessin.


Bärbels Stimme war beim Erzählen immer leiser geworden. Jetzt schloss sie die Augen und lächelte selig vor sich hin.

Simone musste grinsen. »Jetzt fehlt nur noch das weiße Pferd, auf dem dein schwarzer Märchenprinz dahergeritten kommt, seine Prinzessin Bärbel zu sich auf den Sattel zieht und mit ihr heim in sein Königreich galoppiert.«

»Du machst dich über die Schwärmereien einer alten Frau lustig.« Sie lächelte Simone nachsichtig an. »Kann ich verstehen. Jetzt bin ich müde, werde etwas schlafen. Am Nachmittag kann ich dir dann weitererzählen.«

Nach dem langen Sitzen am Bett ihrer Mutter kribbelte es in Simones Beinen. Ihr Bewegungsdrang verlangte nach einem flotten Spaziergang. Glücklicherweise hatte sie Anorak und Gummistiefel dabei. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, sogar die Sonne blitzte ab und zu zwischen den Wolken hervor und ließ für Minuten die nasse Welt glitzern. Wie schön! Simone atmete begierig die frische, klare Luft ein.

Schnell ließ sie das Dorf hinter sich. Sie dachte noch einmal über das nach, was ihr Bärbel mitgeteilt hatte. Seltsam. Ihre Mutter hatte bisher kaum über ihre Zeit in Würzburg gesprochen. Sie hatte bei seltenen Nachfragen immer so getan, als wären die paar Monate dort nicht so wichtig, nicht wert gewesen, groß darüber zu reden.

Und jetzt, kurz vor ihrem Tod, schilderte sie ihre Jungmädchenerlebnisse in Würzburg in einer epischen Breite, die ihnen ein ungewöhnliches Gewicht gaben. Nach Jahrzehnten in der Eintönigkeit des Dorflebens mussten ihr die aufregenden Monate in der Stadt, die Kino- und Theaterbesuche, die harmlosen Nachstellungen von Fritz, der Umgang mit den Gästen und sogar mal ein kleiner Flirt mit einem Farbigen wie tolle Ereignisse vorgekommen sein, die es einfach wert waren, ihrer Tochter noch einmal zu schildern.

Ist in Ordnung, Mama, dachte Simone. Ich kann mir alles gut vorstellen und langweile mich nicht. Gott weiß, ob ich noch einmal die Gelegenheit erhalte, so viel von dir zu hören.

Da war sie wieder, die bittere Realität. Simone musste schlucken. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Dann riss sie sich von der bleiernen Lähmung des trüben Gedankens los und trat absichtlich in die Pfützen, wie sie es als Kind mit großem Vergnügen getan hatte.

Das Wasser spritzte hoch.

Noch einmal wild gestampft. Was für eine Befreiung!

Etwas verschwitzt, aber mit leichterem Kopf kehrte sie in ihr Elternhaus zurück.

Nach ihrem Mittagsschlaf sah Bärbel erholter aus, sogar ihre Wangen hatten etwas Farbe angenommen.

Sie war begierig danach weiterzuerzählen.