Buch lesen: «Unterwegs geboren»
Christa Enchelmaier
Unterwegs geboren
Eine heimatlose Kindheit
Autobiografische Erzählung
Für meine Kinder und Enkelkinder
2000: REISE IN DEN UNBEKANNTEN OSTEN
Ich hatte viel von Gnadental gehört, von dem weiten Land, der fruchtbaren Erde, dem guten Klima. Von dem Zusammenhalt der Dorfbevölkerung. Vom Schwarzen Meer und der heilenden Erde. Auch von den pietistischen Werten wie Frömmigkeit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Wo war dieser ›Garten Eden‹ meiner Vorfahren? Ich wusste, dass er irgendwo im Osten am Schwarzen Meer liegen sollte. Ich fing an, mich für die Geschichte und das Land zu interessieren. Mit eigenen Augen wollte ich es sehen und erleben – das Land, in dem meine Eltern und Großeltern gelebt hatten. Das Land, von dem sie mir so viel erzählt hatten.
Anfang September 2000 meldeten meine zwei Jahre jüngere Schwester Helga und ich uns zu einer Studienreise in die ehemaligen Heimatdörfer Bessarabiens an.
Der Flughafen in Odessa war grau in grau. Wir waren im Ostblock. Die Koffer wurden rasch ausgeladen und standen in der Halle bereit, und nach kurzer Begrüßung durch unseren Reiseleiter ging es weiter in die ehemalige Kreisstadt Akkerman – heute heißt sie Belgorod-Dnestrovski.
Schon am nächsten Morgen fuhren wir mit einem Taxi in das etwa 30 Kilometer entfernte Dorf Gnadental, das heutige Dolinovka. Wir sahen riesige Felder und die schwarze Erde, von der unser Vater immer so geschwärmt hat. Wir konnten nachempfinden, wie schwer es unseren Eltern damals gefallen sein musste, dieses schöne Land, ihre Heimat, zu verlassen.
Gnadental wurde 1830 von schwäbischen Kolonisten gegründet und musste 1940 wieder verlassen werden. Es liegt sehr schön in einem sanften Tal. Dennoch waren wir sehr enttäuscht und traurig, als wir in dieses Dorf hinein fuhren: Wir sahen ungepflegte Häuser, viel Unkraut und nur wenige Menschen auf den Straßen.
Die einstmals stattliche Kirche mitten im Ort ist als solche nicht mehr zu erkennen. Die Bewohner haben einen Versammlungsraum daraus gemacht.
Wir liefen durch die Obergaß zum Haus unseres Großvaters Friedrich. Dort wohnt inzwischen ein rumänisches Ehepaar mit zwei halbwüchsigen Söhnen und der Oma – gastfreundliche Leute, die uns ins Haus einluden und zum Abschied Trauben schenkten. Zwei Häuser weiter, am Ortsrand, stand der Hof unserer Eltern. Nur ein Erdhügel erinnert noch daran. Wir bedauerten sehr, dass von der mühevollen Arbeit unserer Eltern nichts übriggeblieben ist außer einem Haufen Erde.
Helga sagte: »Komisch, ich habe das Gefühl, als sei ich schon einmal hier gewesen. Mir ist alles so vertraut!«
Aber hier waren wir noch nie. Sie ist zwei Jahre nach der Umsiedlung im Warthegau geboren. Haben die vielen Erzählungen der Eltern dieses Heimatgefühl entstehen lassen?
Danach suchten wir das Haus unseres Großvaters Daniel Hermann in der Mittelgaß. Doch außer einem verwilderten Grundstück haben wir nichts finden können. Auf dem Friedhof wollten wir daher wenigstens die Grabsteine unserer Verwandten aufsuchen. Aber wieder hatten wir kein Glück: Nur russische und rumänische Gräber fanden wir, keinen einzigen Grabstein, der an Deutsche erinnert.
Maria, eine Frau aus dem Dorf, stand plötzlich vor uns. Sie sprach Deutsch und von ihr erfuhren wir, dass die Grabsteine zum Bau der Kolchose genommen und das Gelände danach eingeebnet worden war. Ein Grabstein sei dabei übersehen worden und der steht nun als einziger auf dem ehemaligen Gelände des deutschen Friedhofs. Er erinnert an einen der ersten Kolonisten in Gnadental, an Johann Christian Kappler. Er kam als 8-Jähriger 1831 mit seinen Eltern aus Kochersteinsfeld in der Nähe von Heilbronn.
PROLOG
1833 AUSWANDERUNG DES JOHANN DANIEL HERMANN
Mein Vorfahre, Johann Daniel Hermann, ist mit seiner Frau Wilhelmine Katharina, geborene Gall, und vier Kindern am 24. September 1833 von Kleinheppach (Remstal bei Schorndorf) nach Gnadental in Südrußland–Bessarabien ausgewandert. Von Beruf war er Weingärtner und seit 1809 auch Richter, d.h. Gemeinderat in Kleinheppach. Der Grund für seine Auswanderung ist schnell erzählt.
Die Bewohner von Kleinheppach führten ein karges Leben. Vorausgegangen war die Französische Revolution, die in den Jahren 1790 bis 1815 in der Gemeinde große Opfer gefordert hatte. Durchziehende Truppen plünderten und raubten den Einwohnern ihr Eigentum. Brandschatzungen standen auf der Tagesordnung. Hinzu kam, dass der Herzog in Stuttgart Rekruten aushob und Geld für die Rüstung eintrieb.
Unter Napoleon mussten württembergische Truppen 1805 gegen Österreich, 1807 gegen Preußen und 1812 gegen Russland ins Feld ziehen. Das war ein furchtbares Drama: Von 15.800 Württembergern kehrten nur 300 zurück. Aus Kleinheppach kam kein einziger aus den Kriegen zurück.
Dann war Frieden. Aber welche Tragik! 1816 war ein Hungerjahr, wie das Land es seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatte. So viel geregnet hatte es im Sommer noch nie und es war kalt wie im Winter. Weder Korn, noch Kartoffeln, noch Wein gediehen.
Grund dieser Katastrophe war der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien. Gigantische Massen Asche und Staub wurden 50 Kilometer hoch in die Luft geschleudert und verteilten sich um den ganzen Erdball und verursachten eine Abkühlung des Weltklimas. Der folgende Sommer ging in die Geschichte als ›Schneesommer‹ ein, weil keine Sonnenstrahlen durch diesen Dunstschleier dringen konnten. Scharen von Bettlern irrten auf den Straßen. Die Gemeindeverwaltung war auf solche Katastrophen nicht vorbereitet. Sie tat das Menschenmögliche, um die Not zu mildern und die Menschen durch den Winter zu bringen. Doch die Gemeinde war verarmt. Die meisten Magazine waren leer, Saatgut fürs kommende Jahr gab es nicht. Die wenigen verbliebenen Zugtiere versanken im Morast oder verhungerten. Die allgemeine Stimmung war düster.
1816 wurde das bestehende Auswanderungsverbot aufgehoben. Zar Alexander von Russland schickte Anwerber aus, um Bauern und Handwerker aus Württemberg für eine Ansiedlung in Russland zu gewinnen. Er versprach jedem Bauern 66 Hektar Land, 10 Jahre Steuerfreiheit, eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit und freie Glaubensausübung. Und – was sehr wichtig war – keine Pflicht zum Militärdienst, und das auf ewig, außerdem den Status eines Kolonisten, das heißt ein russischer und ein deutscher hoher Beamter waren für die Belange dieser Volksgruppe zuständig. Sie sollten als Vermittler (Fürsorgekomitee) dafür sorgen, dass bei der Ansiedlung alle Versprechen eingehalten werden.
Dieses Angebot kam für die verarmten Menschen im richtigen Augenblick.
Viele machten sich wenig Hoffnung, dass es in Württemberg in nächster Zeit besser werden würde. Scharenweise verließen sie ihre Heimat. Die Ersten, die sich auf den Weg machten, besaßen weder Pferd noch Wagen. Mit der legendären ›Ulmer Schachtel‹, einem primitiven Floß, fuhren sie die Donau abwärts. Sie hatten Ausbeutung, Armut und Unterdrückung im absolutistisch regierten Württemberg satt. Hinzu kam noch die unsägliche Kirchenzucht, wo zum Beispiel ein Fehlen beim sonntäglichen Gottesdienst schon ein Vergehen war und streng bestraft wurde. Viele kehrten der Kirche den Rücken und schlossen sich separatistischen Bewegungen an.
Auch die Anhängerzahl der Pietisten wuchs. Sie trafen sich in Privathäusern zur ›Stund‹ und legten dort in Eigenregie die Bibel aus.
Mit der Zeit entstand eine Weltuntergangsstimmung.
Und der Untergang sollte im Jahre 1836 stattfinden, denn der pietistische Prälat Albrecht Bengel aus Stuttgart hatte diesen Zeitpunkt errechnet. Er verkündete dieses in seinen Predigten: Der Heiland würde auf dem Berg Ararat erscheinen und dort im Osten entstünde das ›Tausendjährige Friedensreich‹.
So spielte außer der materiellen Not auch noch die Religion eine große Rolle. Die Bereitschaft zur Auswanderung wurde dadurch verstärkt.
In dieser überaus schwierigen Zeit verkauften die verarmten Kleinheppacher ihre Grundstücke, um zu überleben. Die herzogliche Kammerschreiberei nutzte die Not und erwarb sehr viele Weinberge in den besten Lagen. Dadurch waren die hiesigen Weingärtner zu besitzlosen Tagelöhnern geworden. Andere nahmen sich in ihrer Not einen auswärtigen Teilhaber, wobei die ganze Arbeit an ihnen hängen blieb. Vom Ertrag aber erhielten sie nur einen bescheidenen Teil.
Kleinheppach hatte die meisten unehelich geborenen Kinder; fünfmal mehr als der Nachbarort Hanweiler. Wer nämlich damals heiraten wollte, musste dazu die Einwilligung der Obrigkeit haben. Wer kein Vermögen hatte oder keinen sicheren Erwerb nachweisen konnte, durfte nicht heiraten.
Viele Mittellose, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, versuchten, als Kleinhändler und Hausierer ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurden in Gemeindeprotokollen ›Viktualienhändler‹ genannt. 1830 zählte man in Kleinheppach dreißig solche Händler. Sie grasten die Gegend bis nach Welzheim ab, um Butter, Hühner, Eier und Obst einzukaufen. Auf dem Kopf, in Körben auf dem Rücken oder auf zweirädrigen Karren schafften sie diese Waren nach Hause. Dann wurden sie für den Verkauf hergerichtet und die Frauen und Töchter verkauften sie auf einem Markt. Dabei legten sie oft große Strecken zurück, um überhaupt dorthin zu gelangen.
In den Jahren 1829, 1830 und 1831 folgten drei Missernten aufeinander. Am 1. Juli 1833 richtete ein Unwetter in den Weinbergen und im Dorf schwere Verwüstungen an. Ein Haus wurde an Mauern, Fenstern und Türen schwer beschädigt. Auch sämtliche Gerätschaften waren in Mitleidenschaft gezogen. Eine Kuh ertrank. Große Mengen herunter geschwemmte Erde musste wieder nach oben geschleppt werden. Auch sehr viele Weinstöcke waren herausgerissen; neue mussten gepflanzt werden.
Am 6. Juli wurde die ins Dorf herab geschwemmte Erde dann sogar verkauft!
Schon am 8. Juli kam eine neue Sintflut, die von den Weinbergen in die Heppach schoss und drei Häuser unter Schlamm und Dreck begrub. Das am schlimmsten betroffene Haus gehörte Andreas Hermann. Er ist dadurch in Not und Elend gekommen. Bestimmt war er ein Verwandter meines Vorfahren, denn dieser und ein Georg Hermann standen später als Bürgen für das ›Prädikats & Vermögens Zeugniß‹ im Ratsprotokoll zu Kleinheppach.
Zwei Monate später ist mein Ur-Ur-Urgroßvater ausgewandert. Er war 56 und seine Frau 54 Jahre alt. Am 22. September sind sie losgefahren. Entweder mit Pferd und Wagen oder mit einem Ochsengespann.
Aus alten Unterlagen geht hervor, dass die Familie sehr beliebt und geachtet war und zum Mittelstand gehörte. Auch war er seit über zwei Jahrzehnten Mitglied im Gemeinderat und wurde von diesem und dem Bürgermeister immer wieder gewarnt, nicht nach Russland auszuwandern. Sie wollten ihn nicht gehen lassen.
In Kleinheppach sind von ihren acht Kindern im Laufe der Jahre vier gestorben. Die fünfjährige Elisabetha Katharina starb 1815. Das fünfte Kind hatte ebenfalls den Namen Elisabetha Katharina und ist 1819 im Alter von nur einem Jahr gestorben.
Die beiden letzten Kinder waren Buben: 1828 starb Johann Wilhelm im Alter von sieben Jahren und 1823 verstarb Richard mit einem Jahr.
Es war sicher nicht leicht, sich von den Kindergräbern zu verabschieden, ebenso von vertrauten Nachbarn, lieben Freunden und Verwandten.
Mit auf die Reise gingen die beiden Töchter Johanna Wilhelmine, 29 Jahre, und Wilhelmine Katharina, 26 Jahre, und die Söhne Johann Georg, 18 Jahre, und Johann Daniel, 14 Jahre. Beide Töchter waren nicht verheiratet, obwohl sie längst das Heiratsalter erreicht hatten. Vermutlich reichte das Geld nicht, um zu heiraten.
Mit dabei war noch der ledige 50-jähriger Bruder Johann Friedrich und die ledige Magd Magdalena Heubach, 33 Jahre. Magdalena wollte mitreisen, weil alle Verwandten bereits nach Sarata in Bessarabien ausgewandert waren. Sie stammte aus Grunbach.
Beschleunigt wurde dieses Vorhaben durch den überraschenden Umstand, dass J. D. Hermann an der Stelle von Johannes Idler aus Strümpfelbach ausreisen konnte. Dieser wollte nicht mehr fort und so verkaufte er für 12 Gulden alle Rechte und ließ seinen Verzicht von dem Schultheiß Krauß in Strümpfelbach beurkunden. Der Kaiserliche Russische Gesandschaftssekretär Cofedoraff hatte inzwischen dem Wunsch Daniel Hermanns entsprochen, an Stelle des Johann Idler nach Südrussland zu wandern, wenn die hierzu nötigen Bedingungen erfüllt sind. Nun mussten das Ehepaar Hermann und die volljährigen Kinder noch die Bürgerrechts-Verzichts-Urkunde des Königreiches Württemberg unterschreiben, wonach auf das Bürgerrecht zu Kleinheppach wissentlich und wohlbedächtig Verzicht geleistet wurde. Erst dann erhielt Johann Daniel Hermann den gesetzlichen Reisepass, auf dem auch Friedrich Hermann als Knecht und Marie Magdalena Heubach als Magd aufgeführt waren.
All diese Vorschriften waren eine nervenaufreibende und umständliche Prozedur. In ihren Taschen hatte Johann Daniel Hermann 600 Gulden, sein Bruder Friedrich 50 Gulden und Maria Magdalena Heubach 260 Gulden.
Obwohl der Winter vor der Tür stand, machten sie sich am 22. September auf den Weg. Eine lange Reise per Achse und ohne Anführer.
1834 kam die Gruppe in Gnadental an.
Hätte Johann Daniel Hermann damals schon gewusst, dass er bereits zwei Jahre später sterben würde und seine Frau zwei Jahre nach ihm, er wäre vermutlich in Kleinheppach geblieben.
Als die Familie in Gnadental ankam, war sie sehr enttäuscht. Viele neu angekommene Familien hausten noch in äußerst primitiven Erdwohnungen – ›Pude‹ genannt. Das waren zwei hintereinander liegende Zimmer, die in etwa einem Meter Tiefe in die Erde gebaut worden waren. Vorne die Küche und hinten ein Schlafzimmer für alle. Das Dach war mit Schilf gedeckt. Solch eine ›Pude‹ kaufte er dann für 200 Rubel und 1 Körbeltaler von dem Wagner Zeller, der weiterziehen wollte. Die Ansiedler Gnadentals waren nicht angeworbene freie Auswanderer, denen von Seiten des Staates keinerlei Unterstützung weder zur Reise, noch zur ersten Einrichtung gegeben worden ist.
So hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt und so wollte er es auch nicht fristen. Heimweh machte sich breit. Das ganze neugegründete Dorf Gnadental beschloss einstimmig, wieder in die alte Heimat zurückzukehren. Daraus wurde dann allerdings nichts, weil Krankheiten, Seuchen, Tod und vermutlich auch Geldmangel eine Rückreise unmöglich machten. Er starb 1836 in Teplitz bei seiner ältesten Tochter, die sich inzwischen nach dort verheiratet hatte. Zwei Jahre später starb auch seine Frau Wilhelmine Katharina, geb. Gall.
Johann Friedrich, der Bruder, hatte sich in Beresina niedergelassen. Er verstarb im gleichen Jahr wie Wilhelmine Katharina.
Die zweite Tochter, Wilhelmine Katharina, verheiratete sich nach Beresina. Johann Georg blieb in Gnadental und gründete dort eine Familie. Er ist mein Vorfahre mütterlicherseits (Anna Hermann, geb. 28.12.1917).
Johann Daniel, der Jüngste, erlernte in Odessa das Schneiderhandwerk und übersiedelte nach Beresina, wo er 1849 starb.
Quellenangabe:
Gnadental 1830–2002 Sippentafeln.
Ludwigsburg/Auswandererakten, Staatsarchiv.
Kleinheppach von 1967, Chronik der Gemeinde.
Heimatbuch Gnadental.
Pfarramt Korb Archiv der ev. Kirche.
UNTERWEGS GEBOREN ...
Anna stand in der vorderen guten Stube am Tisch. Vor sich hatte sie Stoff für ein neues Kleid ausgebreitet. Den hatte sie vor Kurzem im Konsum, dem einzigen Gemischtwarenladen in Gnadental, gekauft. Die Ware war neu eingetroffen und gefiel ihr ausnehmend gut, und so hatte sie gleich zugegriffen. Auch Stoff für Mullwindeln kaufte sie ein. Sie war eine junge Frau von 22 Jahren und erwartete mich, ihr erstes Kind.
Die gute Stube in dem Bauernhof bewohnte sie erst seit knapp einem Jahr. Damals hatten Robert und sie den Bauernhof von einem kinderlosen alten Ehepaar übernommen. Dafür hatten sie sich verpflichtet, für dieses Ehepaar zu sorgen. Es war ein kleiner Bauernhof. Für beide Familien reichte der Wohnraum nicht aus. Deshalb war es notwendig, eine zusätzliche separate Wohnung einzurichten. Das erreichten sie durch den Umbau des im hinteren Teil des Hauses befindlichen Kuhstalles, wo nach geraumer Zeit ein schönes Wohnzimmer und ein Schlafzimmer entstanden. Die neue Wohnung, in dem nun Emma und Gotthilf wohnten, wurde ›Altenteil‹ genannt. Meine Eltern Anna und Robert bewohnten den vorderen Teil des Hauses. Die vorhandene Küche wurde gemeinsam genutzt. Auch neue Ställe für die Kühe, die Schafe und vor allem für die Pferde wurden gebaut.
Im Hof liefen viele Hühner. Emma vom Altenteil hatte die Aufgabe übernommen, sie zu versorgen und die Eier einzusammeln. Gotthilf machte sich auch auf dem Hof nützlich und verrichtete verschiedene Arbeiten, die er noch machen konnte.
Als Robert 1939 den Hof übernommen hatte, waren die politischen Gewitterwolken noch weit weg. Im Radio und in der Zeitung wurde von einem Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, dem ›Hitler-Stalin-Pakt‹, berichtet, denn Russland war um Sicherheit in der Außenpolitik bemüht. Josef Stalin sowie der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrob und Molotow, der russische Kommissar für Äußeres, unterzeichneten in Moskau diesen Vertrag. Als dann wenig später der Zweite Weltkrieg mit dem Einmarsch in Polen am 1. September 1939 ausbrach, fühlte sich Robert in Rumänien noch sicher und geborgen und war wenig beunruhigt. Dem Hitler-Stalin-Pakt folgte ein ›Grenz- und Freundschaftsvertrag‹ mit geheimen Zusatzprotokollen.
Robert war derweil vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf seinem Hof und den Feldern beschäftigt. Den neuen Pferdestall hinterm Haus hatte er gerade fertig gestellt. Das Geld dafür hatte er den Winter über in einer Schlosserei im Ort verdient. Auf seine Pferde war er sehr stolz und es war ihm wichtig, dass sie gut untergebracht waren. Nun freute er sich über den guten Stand der Felder und erwartete eine gute Ernte mit überdurchschnittlichen Erträgen. Wie jedes Jahr halfen ihm einige Tagelöhner bei der Arbeit, alleine hätte er es nicht geschafft. Er war Bauer mit Leib und Seele und konnte sich ein Leben ohne seine geliebten Pferde und den Bauernhof nicht vorstellen.
Am 24. Juni 1940 war es plötzlich aus mit der Ruhe. An diesem Tag forderten die Sowjets ultimativ Bessarabien von Rumänien zurück, das sie am Ende des Ersten Weltkrieges wegen militärischer Schwäche hatten abtreten müssen. Dass das strategisch wichtige Bessarabien den Rumänen zugesprochen wurde, wurde als territoriale Ungerechtigkeit angesehen.
Dieser Landstrich war immer ein Kontrollposten an der Donaumündung und Brückenkopf für sowjetische Präsenz in Südosteuropa. Außerdem gehörte Bessarabien zum fruchtbaren Schwarzerdegürtel der Ukraine und war für den Hafen in Odessa sehr wichtig.
Auch der deutsche Rundfunk berichtete und die Nachricht schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Die russische Regierung forderte Rumänien auf, innerhalb von 3 Tagen das Land bedingungslos zu räumen. Rumänien war sich dieser heiklen Situation immer bewusst gewesen, gab nun nach und entschloss sich zur freiwilligen Räumung.
Für die rumänischen Beamten und das Militär bedeutete dies, so schnell wie möglich in ihre angestammte Heimat zu flüchten.
Es wurde in aller Eile gepackt und alles, was nicht niet- und nagelfest war, zum Bahnhof gebracht und in Güterwagen verladen. Andere zogen es vor, mit beschlagnahmten vollgepackten Pferdewagen und allerlei zu Recht oder Unrecht erworbenen Gütern das Weite zu suchen. Rumänische Polizei- und Militärfunktionäre zogen ungeniert fremde Fuhrwerke ein und beluden sie mit Ausrüstungsgegenständen und Lebensmitteln. Viele deutsche Bauern versteckten daher ihre Pferde und Wagen in den meterhohen Maisfeldern, um sie nicht abgeben zu müssen.
Den Russen missfiel natürlich die Art und Weise, wie die Rumänen sich ungeniert in Bessarabien bedienten. Am 28. Juni 1940 marschierte daher die Rote Armee in Bessarabien ein. Russische Fallschirmjäger stürzten die letzten abziehenden Rumänen in ein heilloses Chaos. Hunderte von beschlagnahmten Fuhren kamen wieder zurück und die Leute, die auf den Wagen saßen, mussten zu Fuß in ihre Heimat flüchten.
Die Bevölkerung Bessarabiens war geschockt, denn sie erfuhr vom Ultimatum erst am Vorabend des russischen Einmarsches aus dem Radio. Die Besetzung erfolgte dann blitzschnell. Die Einwohner waren vor Schreck wie gelähmt und konnten kaum erfassen, was alles auf sie zukam. Unsicherheit über die weitere Zukunft machte sich breit. Die Erinnerung an die geplante Deportation aller Bessarabien-Deutschen nach Sibirien im Winter 1917 kam wieder hoch. Damals hatten sie Glück gehabt, denn starker Frost und unermesslich viel Schnee verhinderten den Abtransport von 80.000 Deutschen. Dass nach dem Versailler Vertrag und dem Ende des 1. Weltkrieges das Land dem rumänischen Staat zugeteilt wurde, war für sie ein großes Glück.
Damals sprach sich schnell herum, zu welch ungeheuerlichen Gräueltaten die Sowjets auf der anderen Seite des Grenzflusses Dnjester fähig waren. Katastrophale Agrarpolitik, Kulakenverfolgung, Hungersnöte, Massen-sterben ungeahnten Ausmaßes, politische Repressionen und Deportationen waren an der Tagesordnung.
Kulaken waren selbstständige Bauern, die Hof, Felder und Tiere besaßen. ›Kulak‹ ist in Russland ein Schimpfwort und meint einen Ausbeuter, der vernichtet werden muss. Somit galten die meisten Bessarabien-Deutschen Kolonisten als Kulaken und hätten im russischen System keine Chance gehabt. Und jetzt stand die Rote Armee vor ihrer Tür!
Sofort änderte sich alles: Die jeweiligen Dorfschulzen wurden abgesetzt und der Dorfsowjet hatte nun das Sagen. Männer der Roten Miliz standen in Zivilkleidung und bewaffnet am Dorfeingang und am Ende der langen Dorfstraße. Innerhalb kürzester Zeit waren die Lebensmittelläden leer und neue Ware kam nicht nach. Wer nicht rechtzeitig vorgesorgt hatte, hatte nun das Nachsehen.
Schon alleine diese Tatsache ließ erahnen, wie es unter russischer Verwaltung weitergehen würde. Und am 29. Juni erschien dann auch ein Erlass Stalins, dass alles unbewegliche Vermögen in Bessarabien verstaatlicht werden soll.
Mit der Zeit wurde bekannt, dass Hitler und Stalin über eine Aussiedlung der Auslandsdeutschen aus Bessarabien und der Nordbukowina verhandelten. Nun war klar, dass es den Bessarabien-Deutschen genauso ergehen würde, wie 1939 den Wolhynien-Deutschen, über die so viel berichtet wurde. Vorerst ließ man aber die deutschen Kolonisten für sich arbeiten. Sie sollten eine gute Ernte einbringen, bevor man sie gehen ließ.
Festgenommen oder verschleppt wurden deutsche Kolonisten nicht, während viele der reichen Russen, Bulgaren und Juden abgeholt wurden und zumeist nicht wieder zurückkamen.
Der Gedanke an eine Umsiedlung aus ihrer vertrauten Heimat in eine völlig ungewisse Zukunft belastete ungemein. Hier in Gnadental und auch in den anderen Dörfern hatte man sich schließlich durch harte Arbeit eine gesicherte Existenz geschaffen. Nun sollten mehr als 93.000 Deutsche die 152 blühenden, schönen Dörfer und Städte mit weit über einer Million Morgen fruchtbarem Land verlassen. Sie hatten die Steppen zu einer Kornkammer gemacht. Die Deutschen hatten immer ihre eigenen, gut funktionierenden und bewährten Dorf- und Oberämter und ab 1918, als Bessarabien rumänisch wurde, auch ihre eigene Gerichtsbarkeit. Sie hatten eigene Lehrer, Schulen, Kirchen, Ärzte, Krankenhäuser, Altenheime, Molkereien, Büchereien, Mühlen und Museen. Nun mussten sie alles aufgeben, was bis dahin ihr Leben ausgemacht hatte. Und dabei ging es nicht nur um das von den Großeltern urbar gemachte Land, sondern auch um die Gemeinschaftseinrichtungen, Kirchen und Schulen, Organisationen, Zeitungen und vieles andere mehr. Vor allem sollten sie die festgefügten Dorfgemeinschaften aufgeben, die ihnen bis dahin den Rahmen ihres Lebens abgesteckt hatten. Was sie mitnehmen konnten, war die Lebenserfahrung, ihre Grundeinstellung zu Leben und Glauben.
Christlicher Glaube bestimmte mit einer großen Selbstverständlichkeit das Leben in den deutschen Siedlungen Bessarabiens. Man sah es als Lebensaufgabe an, Gottes Gebote einzuhalten, den Worten der Bibel im Alltag zu folgen. Die Kirche war Mittelpunkt und Halt der Kolonisten.
Bessarabien wurde nun nach 22 Jahren wieder eine russische Provinz. Aber Russland war inzwischen ein anderes Russland geworden – mit einer anderen Einstellung zum Privatbesitz.
Auch hatte sich eine totale Wandlung in politischer und sozialer Hinsicht durch die Revolution vollzogen. Die Kommunisten waren an der Macht. Für die deutschen Kolonisten war das eine andere Welt, damit konnten sie sich nicht abfinden. Das neue Russland hatte die Deutschen als Pioniere nicht mehr nötig wie einst Zar Alexander, der sie ins Land rief.
Gab es überhaupt eine Alternative zur Umsiedlung ins Reich?, fragte man sich. Das Schicksal der Deutschen im Schwarzmeergebiet wäre letztlich Schikane und Deportation, was viel schlimmer als eine Umsiedlung nach Deutschland gewesen wäre.
Es war Mitte September und der Winter stand vor der Tür. Unschlüssig stand Anna vor ihrem Schrank. Was sollte sie mitnehmen, was konnte sie tragen? Nur 35 Kilogramm Handgepäck waren je Person erlaubt. All die prächtige Aussteuer, die schöne Wiege und die mit so viel Liebe gefertigte Babyausstattung! Wird das Kleine vor lauter Aufregung und Sorge noch vor der Abreise kommen? Die ›Placht‹, ein großes gewebtes Tragetuch, hatte sie schon bereitgelegt.
›Wo lege ich es schlafen‹, fragte sie sich, ›und wo kann ich unterwegs Windeln waschen und trocknen? Kann ich das Kind irgendwo baden, trockenlegen und stillen? Bekomme ich die richtige Babynahrung und frische Kuhmilch?‹ Fragen über Fragen und keine Antwort. Sie konnte es nicht fassen, dass sie in diesem Zustand ihr Haus verlassen sollte. Was passiert, wenn sie das Kind irgendwo unterwegs bekommt? Wenn es Komplikationen gibt, ärztliche Versorgung notwendig ist? Angst machte sich breit. In welch eine fatale Situation war sie geraten, und wie konnte sie mit ihr fertig werden?
Anna war eine hübsche Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht. Ihr dunkelblondes langes Haar hatte sie zu einem Knoten verschlungen, der ihren Hals zierte. Von Gestalt war sie eher zierlich, einen Kopf kleiner als Robert.
Robert war groß und schlank mit dunkelblondem, welligem Haar. Was ihn auszeichnete, war seine Geradlinigkeit und die zupackende Art, mit der er tatkräftig und planvoll seine Aufgaben erledigte. Schlosser oder Schmied hätte er gerne gelernt. Fast alle seiner Schulkameraden lernten einen Beruf. Aber sein Vater hatte bestimmt: »Robert, du wirst Bauer!« Und das Wort des Vaters galt, Widerrede war nicht erlaubt.
Um ihn gefügig zu machen, schickte er ihn zu einem Schneider in die Lehre. Drei Wochen saß Robert da mit untergeschlagenen Beinen am Tisch und stichelte mit seinen großen Händen im Stoff. Dann hielt er es nicht mehr aus, lieber wollte er ein freier Bauer auf einem eigenen Hof sein. Vater Friedrich hatte sein Ziel erreicht. So setzte er auch andere Entscheidungen durch. In seiner Amtszeit als Bürgermeister musste er mit den korrupten rumänischen Beamten auskommen. Das war außerordentlich schwierig. Am besten erreichte er seine Vorstellungen, wenn er sie zum Essen einlud und mit seinem Wein nicht sparte. Pauline, seine zweite Frau, tischte üppig auf und war im Umgang mit den Rumänen sehr geschickt.
Robert war mit ein paar Helfern im Hof damit beschäftigt, einen Planwagen zu bauen.
Im ganzen Dorf herrschte hektische Betriebsamkeit. Jede Familie hatte mit sich selbst zu tun. In allen Häusern wurde geschlachtet, gebacken, gebraten, gepackt und wieder umgepackt. Haltbare Lebensmittel wurden für die lange Reise zubereitet.
Ihre neue Singer Nähmaschine wollte sie mitnehmen, überlegte Anna. Die hatte ihr Bruder Georg für sie in Deutschland gekauft und einführen lassen.. Nun machte sie den Weg wieder zurück! 1.000 Kilogramm Gepäck konnte jeder Pferdebesitzer mit dem Planwagen mitnehmen. Jede Person ab 14 Jahren durfte 2.000 Lei bei sich haben. Das war ein sehr bescheidener Betrag, doch selbst der war schon nach kurzer Zeit nicht mehr vom Sparkonto abzuheben, weil die Banken ohne Mittel waren.
Umsiedlungskommissionen aus Vertretern Russlands und Deutschlands regelten den Ablauf.
Wie war es wohl in Deutschland? Ihr Kind sollte dort zur Welt kommen, wenn Gott wollte. Deutschland – da ging es gerecht zu, da herrschte weder Korruption noch Ungerechtigkeit, dachte sie.
Überall im Dorf hing der Aufruf, sich an einer bestimmten Stelle beim deutschen Bevollmächtigten zu melden und sich in die Umsiedlungslisten eintragen zu lassen. Mit der Registrierung legten die Kolonisten ihre rumänische Staatsbürgerschaft ab. Von Deutschland erhielten sie das Recht, einreisen zu dürfen. Eingebürgert wurden sie erst in den Umsiedlungslagern im damaligen ›Altreich‹. Zuerst sollten die alten Leute, Frauen und Kinder und diejenigen, die keine Pferde hatten, mit deutschen Omnibussen in die Donaustadt Kilia gebracht werden. Dort sollten alle mit Schiffen die Donau aufwärts in ein sogenanntes Umsiedlungslager befördert werden. Schon am 15. September 1940 hatte die Umsiedlungskommission vor, mit der Aktion zu beginnen.
Im Dorf wurde erzählt, dass niemand auf seinem Hof bleiben darf. Diejenigen, die sich nicht zur Umsiedlung melden würden, kämen nach Sibirien.
Sibirien – allein das Wort löste Ängste aus. Es hatte sich herumgesprochen, wie schlecht es den Deutschen ging, die dorthin verbannt worden waren. Am allermeisten fürchteten sie sich davor, Kolchosearbeiter werden zu müssen und weiter in den Osten oder ins Innere Russlands verschickt zu werden. Vater, Mutter, die Kinder, jeder in einen anderen Teil des Landes, unauffindbar, unerreichbar. Schrecklich war die Vorstellung, unter Fremden neu anfangen zu müssen, wieder Land zu kultivieren, hilflos der Behördenwillkür und fremden Menschen ausgeliefert zu sein.