Jane Eyre

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Jane Eyre
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Hörbuch
Wird gelesen Alan Shearman, Alexis Jacknow, Cerris Morgan-Moyer, Darren Richardson, Emily Bergl, Jane Carr, Jeanne Syquia, Joanne Whalley, Nick Toren
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Jane Eyre / Джейн Эйр
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Ich betrachtete sie noch, und dann und wann auch die Lehrerinnen, von denen keine einzige mir besonders gefiel, denn die Behäbige hatte etwas gewöhnliches, die Dunkle sah sehr trotzig aus, die Fremde heftig und grotesk und Miß Miller, das arme Ding, sah blaurot und abgehärmt und überarbeitet aus – da plötzlich, als meine Blicke noch von einem Gesicht zum anderen wanderten, erhob die ganze Schule sich gleichzeitig und wie auf Kommando, als hätte eine einzige Sprungfeder sie alle in die Höhe geschnellt.

Was war denn geschehen? Ich hatte keinen Befehl vernommen – ich war ganz bestürzt. Bevor ich mich noch gesammelt und orientiert hatte, saßen die Klassen schon wieder. Da sich jetzt aber alle Blicke auf einen Punkt richteten, so folgten auch die meinen jener Richtung – und fielen auf die Dame, welche mich am vorhergehenden Abend empfangen hatte. Sie stand am Kamin, am unteren Ende des Zimmers, an jedem Ende desselben befand sich nämlich ein Kaminfeuer. Ernst und ruhig musterte sie die beiden Reihen der Mädchen. Miß Miller näherte sich ihr und schien eine Frage zu tun. Nachdem sie die Antwort erhalten, ging sie an ihren Platz zurück und sagte laut:

»Aufseherin der ersten Klasse, gehen Sie und holen Sie den Globus.«

Während diese Weisung befolgt wurde, ging die Dame, welche befragt worden war, langsam durch das Zimmer. Ich glaube, mein Organ der Ehrerbietung muß stark entwickelt sein, denn noch heute erinnere ich mich des Gefühls von staunender Bewunderung, mit welchem ich ihren Schritten folgte. Jetzt im hellen Tageslicht sah sie schlank, groß und stattlich aus. Braune Augen mit wohlwollendem, klarem Blick und fein gezeichnete Wimpern, welche sie umgaben, hoben die schneeige Weiße ihrer Stirn noch besonders hervor. Nach der Mode jener Zeit, wo weder glatte Scheitel, noch lange Schmachtlocken en vogue waren, trug sie ihr schönes, dunkelbraunes Haar in kurzen, dicken Locken an den Schläfen zusammengefaßt. Ihre Kleidung, ebenfalls nach der Mode des Tages, bestand aus dunkelviolettem Tuch mit einer Art von spanischem Besatz aus schwarzem Samt. Eine goldene Uhr (Uhren wurden in jenen Tagen noch nicht allgemein getragen) hing an ihrem Gürtel. Um das Bild vollständig zu machen, muß der Leser sich noch feine, vornehme Züge hinzudenken, eine bleiche, aber klare Gesichtsfarbe, eine stattliche Haltung und Gestalt – und dann hat er, so deutlich wie Worte ihn zu geben vermögen, einen richtigen Begriff von dem Äußeren der Miß Temple – Maria Temple, wie ich später einmal in einem Gebetbuche las, welches mir anvertraut wurde, um es in die Kirche zu tragen.

Die Oberin oder Vorsteherin von Lowood (denn dieses Amt bekleidete die Dame) nahm ihren Sitz vor einem Globus ein, der auf einem der Tische stand, rief die erste Klasse auf, sich um sie zu sammeln, und begann dann, eine Unterrichtsstunde in Geographie zu geben. Die niederen Klassen wurden von den Lehrerinnen aufgerufen: Repetitionen in der Weltgeschichte, Grammatik u. s. w. Dies dauerte eine Stunde. Dann folgte Arithmetik und Schreibunterricht, und Miß Temple gab einigen der größeren Mädchen Musikstunde. Die Dauer jeder Unterrichtsstunde wurde nach der Uhr bemessen. Endlich schlug es zwölf. Die Vorsteherin erhob sich:

»Ich habe einige Worte an die Schülerinnen zu richten,« sagte sie.

Der Tumult, welcher stets nach Beendigung der Schulstunden einzutreten pflegt, hatte sich bereits erhoben, aber er legte sich sofort beim Klange ihrer Stimme. Sie fuhr fort: »Ihr habt heute morgen ein Frühstück gehabt, welches ihr nicht essen konntet, ihr müßt hungrig sein – ich habe befohlen, daß für euch alle ein Gabelfrühstück von Brot und Käse aufgetragen wird.«

Die Lehrerinnen richteten Blicke auf sie, welche das größte Erstaunen verrieten.

»Es soll auf meine Verantwortung geschehen,« fügte sie hinzu, gewissermaßen in einem erklärenden Tone für die Damen; gleich darauf verließ sie das Zimmer.

Brot und Käse wurden alsbald hereingebracht und verteilt, zum größten Ergötzen und zur höchsten Befriedigung der ganzen Schule. Und nun erging die Ordre: »In den Garten!« Jede Schülerin setzte einen groben, häßlichen Strohhut mit Bändern von buntem Kaliko auf und band einen Mantel von grauem Fries um. Ich wurde in gleicher Weise equipiert, und dem Strome folgend machte ich meinen Weg in die frische Luft hinaus.

Der Garten war ein weiter Plan, der mit so hohen Mauern umgeben war, daß er jeden Blick in die Außenwelt unmöglich machte; eine überdachte Veranda zog sich an der einen Seite entlang, und breite Kieswege umschlossen einen Mittelraum, der in unzählige, kleine Beete abgeteilt war. Diese Beete waren den Schülerinnen zum Bebauen und zur Pflege übergeben, und jedes Beet hatte eine Besitzerin. Ohne Zweifel waren sie sehr hübsch, wenn sie mit blühenden Blumen bedeckt waren, aber jetzt gegen Ende des Monats Januar boten sie dem Auge nur ein Bild der winterlichen Zerstörung und des traurigen Verfalls. Es durchschauerte mich, als ich so dastand und umherblickte. Der Tag war der Bewegung im Freien durchaus nicht günstig, es war kein ordentlicher Regen, der alles durchnäßte, sondern ein dicker, gelber, herabrieselnder Nebel. Der Boden unter unseren Füßen war durch den gestrigen Regen noch gänzlich durchweicht. Die kräftigeren unter den Mädchen liefen umher und belustigten sich mit fröhlichen Spielen: aber unter der Veranda stand eine ganze Schar bleicher, magerer Gestalten, die ängstlich zusammenkrochen, als suchten sie hier Schutz und Wärme. Oft ertönte aus ihrer Mitte, als der dichte Nebel ihnen fast bis auf die Haut drang, ein hohler, Böses verkündender Husten.

Bis jetzt hatte ich noch mit niemand gesprochen und niemand schien mir sonderliche Beachtung zu schenken, ganz einsam stand ich da; aber an dieses Gefühl der Vereinsamung war ich ja gewöhnt, es bedrückte mich nicht mehr als sonst. Ich lehnte mich gegen einen Pfeiler der Veranda, zog meinen grauen Mantel fest um mich zusammen und indem ich versuchte, die Kälte, die mich von außen schmerzte, und den unbefriedigten Hunger, der von innen an mir nagte, zu vergessen, gab ich mich ganz der Beschäftigung hin, zu beobachten und nachzudenken. Meine Reflexionen waren zu unbestimmt und zu fragmentarisch, als daß sie einer Erwähnung verdienten. Ich wußte noch kaum, wo ich mich eigentlich befand. Gateshead und mein bisheriges Leben schienen in einer unermeßlichen Ferne zu verschwinden, die Gegenwart war seltsam und vag und von der Zukunft wagte ich nicht, mir irgend ein Bild zu machen. Ich blickte in dem klösterlichen Garten umher, dann zum Hause hinauf. Es war ein großes Gebäude, dessen eine Hälfte grau und alt erschien, während die andere ganz neu war. Dieser neue Teil, welcher das Schulzimmer und den Schlafsaal enthielt, hatte vergitterte Bogenfenster, die ihm ein kirchenähnliches Aussehen gaben. Eine steinerne Tafel oberhalb der Tür trug die Inschrift:

»Institut von Lowood. – Dieser Teil des Hauses wurde wieder erbaut an. dom. ... durch Naomi Brocklehurst von Brocklehurst-Hall in dieser Grafschaft.«

»Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.« Ev. Matthäi, 16.

Wieder und wieder las ich diese Worte. Ich fühlte, daß sie noch eine Erklärung haben mußten, und war außerstande, ihren ganzen Inhalt zu erfassen. Noch dachte ich über die Bedeutung des Wortes »Institut« nach und bemühte mich, einen Zusammenhang zwischen den ersten Worten und dem Bibelvers zu finden, als ein hohler Husten hinter mir mich veranlaßte, den Kopf zu wenden.

Ich sah ein Mädchen auf einer nahen Steinbank sitzen, sie war über ein Buch gebeugt, dessen Inhalt sie vollständig zu fesseln schien. Von der Stelle aus, wo ich stand, konnte ich den Titel lesen – es war »Rasselas«, ein Name, der mich seltsam dünkte und mich infolgedessen fesselte. Als sie ein Blatt umwandte, blickte sie zufällig auf, und sogleich sagte ich:

»Ist dein Buch interessant?« Ich hatte bereits den Entschluß gefaßt, sie eines Tages zu bitten, daß sie es mir leihen möge.

»Mir gefällt es,« sagte sie nach einer Pause von einigen Sekunden, während welcher sie mich angeblickt.

»Wovon handelt es denn?« fuhr ich fort. Noch weiß ich kaum, woher ich den Mut nahm, in dieser Weise eine Konversation mit einer gänzlich Unbekannten anzufangen, – es war so gänzlich meiner sonstigen Gewohnheit und meiner Natur entgegen, aber ich glaube, daß ihre Beschäftigung irgend eine sympathische Seite in mir berührt hatte, denn auch ich liebte die Lektüre, obgleich die meine stets kindisch und nichtssagend gewesen war; die schwere und ernste konnte ich weder verstehen noch verdauen.

»Du darfst es dir ansehen,« sagte das Mädchen und gab mir das Buch.

Das tat ich. Eine kurze Besichtigung überzeugte mich, daß der Inhalt weit weniger fesselnd war als der Titel. »Rasselas« schien meinem seichten Geschmack höchst langweilig; ich fand nichts von Feen, von Genien, die eng gedruckten Seiten schienen keine fröhliche Abwechslung zu bieten. Ich gab ihr das Buch zurück. Sie nahm es ruhig und ohne ein weiteres Wort zu sprechen war sie im Begriff, sich ganz ihrer früheren Beschäftigung wieder hinzugeben, als ich noch einmal wagte, sie zu stören:

»Kannst du mir sagen, was die Inschrift dort auf dem Stein über der Tür bedeutet? Was ist »Institut von Lowood?«

»Es ist das Haus, in welchem du hier lebst.«

»Und weshalb nennen sie es Institut? Ist es denn in irgend einer Weise von anderen Schulen verschieden?«

»Es ist zum Teil eine Mildtätigkeits-Schule. Du und ich und alle übrigen sind Mildtätigkeits-Zöglinge. Ich vermute, daß du eine Waise bist; ist nicht dein Vater oder deine Mutter tot?«

»Sie sind beide tot, schon lange, ich habe gar keine Erinnerung mehr an sie.«

»Nun, all die Mädchen hier haben entweder Vater oder Mutter oder beide Eltern verloren, und man nennt dies ein Institut für die Erziehung von Waisen.«

 

»Bezahlen wir denn kein Schulgeld? Werden wir hier umsonst erhalten?«

»Wir oder unsere Verwandten bezahlen fünfzehn Pfund Sterling jährlich.«

»Weshalb nennt man uns denn Mildtätigkeits-Kinder?«

»Weil fünfzehn Pfund nicht hinreichend sind für Kost und Schule – und das Fehlende wird durch Subskriptionen aufgebracht.«

»Wer subskribiert denn?

»Verschiedene barmherzige Damen und Herren in dieser Gegend und in London.«

»Wer war Naomi Brocklehurst?«

»Die Dame, welche den neuen Teil dieses Hauses gebaut hat, wie die Inschrift besagt, und deren Sohn hier alles überwacht und anordnet.«

»Weshalb tut er das?«

»Weil er der Schatzmeister und Verwalter des ganzen Instituts ist.«

»Dann gehört dieses Haus also nicht der großen, schlanken Dame, welche eine Uhr trägt, und die sagte, daß wir Brot und Käse bekommen sollten?«

»Miß Temple? O nein! Ich wollte, es gehörte ihr! Sie ist Mr. Brocklehurst für alles, was sie tut, verantwortlich. Mr. Brocklehurst kauft alle Nahrungsmittel und alle Kleider für uns.«

»Wohnt er hier?«

»Nein – zwei Meilen von hier, in einem großen, prächtigen Herrenhause.«

»Ist er ein guter Mann?«

»Er ist ein Geistlicher, und man sagt, daß er sehr viel Gutes tut.«

»Sagtest du, daß die schlanke Dame Miß Temple heißt?«

»Ja.«

»Und wie heißen die anderen Lehrerinnen?«

»Die eine mit den roten Wangen heißt Miß Smith, sie muß auf die Handarbeiten achten und schneidet zu – denn wir nähen unsere eigene Wäsche, unsere Kleider und unsere Mäntel – kurzum alles; die kleine mit dem schwarzen Haar heißt Miß Scatcherd, sie lehrt Geschichte und Grammatik und überhört die Repetitionen der zweiten Klasse; die dritte, die ein Tuch trägt und das Taschentuch mit einem gelben Bande an der Seite festgebunden hat, ist Madame Pierrot, sie kommt aus Lisle in Frankreich und lehrt Französisch.«

»Liebst du die Lehrerinnen?«

»O ja, so ziemlich.«

»Liebst du auch die kleine Schwarze und die Madame – – –? Ich kann ihren Namen nicht so gut aussprechen wie du.«

»Miß Scatcherd ist heftig – du mußt dich hüten, sie ärgerlich zu machen. Madame Pierrot ist gerade keine böse Person.«

»Aber Miß Temple ist die beste – nicht wahr?«

»Miß Temple ist sehr klug und sehr gut; sie steht über all den anderen, weil sie viel mehr weiß, als sie.«

»Bist du schon lange hier?«

»Zwei Jahre.«

»Bist du eine Waise?«

»Meine Mutter ist tot.«

»Fühlst du dich hier glücklich?«

»Du tust eigentlich zu viele Fragen. Für jetzt habe ich dir genug geantwortet. Jetzt will ich lesen.«

In diesem Augenblick erklang die Glocke, die uns zum Mittagessen rief. Alle kehrten zurück in das Haus. Der Geruch, welcher jetzt das Refektorium füllte, war kaum appetitlicher als jener, welcher unsere Nasen beim Frühstück regaliert hatte. Das Mittagessen wurde in zwei unendlich großen Zinnschüsseln serviert, aus denen ein scharfer Dampf aufstieg, der stark an ranziges Fett erinnerte. Ich fand, daß dieses Gemengsel aus bedeutungslosen Kartoffeln und seltsamen Fetzen rötlichen Fleisches bestand, die untereinander gerührt und zusammen gekocht waren. Von dieser köstlichen Speise wurde jeder Schülerin eine ziemlich große Portion vorgesetzt. Ich aß so viel ich konnte und fragte mich still verwundert, ob die Kost der anderen Tage nicht besser sein würde als diese.

Nach dem Mittagessen verfügten wir uns sofort in das Schulzimmer. Die Stunden begannen von neuem und dauerten bis fünf Uhr.

Die einzig bemerkenswerte Begebenheit des Nachmittags bestand darin, daß ich sah, wie das Mädchen, mit dem ich in der Veranda gesprochen von Miß Scatcherd mit Schimpf und Schande aus der Weltgeschichtsstunde gejagt wurde und inmitten des großen Schulzimmers stehen mußte. Die Strafe schien mir im höchsten Grade entehrend, besonders für ein so großes Mädchen, das mehr als dreizehn Jahre zu zählen schien. Ich erwartete bei ihm Anzeichen von großer Scham und Verzweiflung zu sehen, aber zu meinem größten Erstaunen weinte sie weder noch errötete sie; gefaßt, wenn auch ernst, stand sie da, aller Blicke waren auf sie gerichtet. »Wie kann sie das so ruhig – so gefaßt tragen?« fragte ich mich. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre, so würde ich doch gewiß wünschen, daß die Erde sich öffnen möchte, um mich zu verschlingen. Sie sieht aus, als dächte sie an etwas, das über ihre Strafe hinaus liegt – – über ihre ganze Lage, an etwas, das nicht um sie, nicht vor ihr ist. Ich habe von wachen Träumen gehört – träumt sie jetzt einen solchen Traum? Ihre Augen sind auf den Boden geheftet, aber ich bin überzeugt, daß sie ihn nicht sehen – ihr Auge scheint nach innen gewendet, in ihr Herz gesenkt, sie sieht nur die Dinge, die in ihrer Erinnerung leben, nichts, was die Gegenwart ihr bringt. Ich möchte doch wissen, was für ein Mädchen sie ist – ob gut oder unartig.«

Bald nach fünf Uhr Nachmittags hatten wir wieder eine Mahlzeit, die aus einem kleinen Becher Kaffee und einer halben Schnitte Schwarzbrot bestand. Ich verschlang mein Brot und trank meinen Kaffee mit wahrem Ergötzen. Aber ich wäre froh gewesen, wenn ich doppelt so viel gehabt hätte – ich war noch hungrig. Darauf folgte eine halbstündige Erholung, und dann begannen die Studien von neuem. Schließlich kam das Glas Wasser mit dem Stückchen Haferkuchen, das Gebet und das Schlafengehen. – Das war mein erster Tag in Lowood.

Sechstes Kapitel

Der nächste Tag begann wie der vorige. Wir standen beim Lampenlicht auf und kleideten uns an, aber an diesem Morgen mußten wir von der Zeremonie des Waschens dispensiert werden – das Wasser in den Wasserkrügen war gefroren. Am Abend vorher war eine Veränderung im Wetter eingetreten, und ein scharfer Nordostwind, der die ganze Nacht durch die Ritzen in unseren Schlafzimmerfenstern gepfiffen, hatte uns in unseren Betten vor Kälte beben und den Inhalt der Waschkrüge zu Eis gefrieren gemacht.

Bevor die langen anderthalb Stunden des Gebets und des Bibellesens zu Ende waren, war ich nahe daran, vor Kälte ohnmächtig zu werden. Endlich kam die Frühstückszeit, und an diesem Morgen war der Haferbrei nicht angebrannt, die Qualität war eßbar, die Quantität ließ viel zu wünschen übrig. Wie klein erschien mir doch meine Portion! Ich wünschte, sie wäre doppelt so groß gewesen.

Im Laufe des Tages wurde ich der vierten Klasse als Schülerin eingereiht, und regelmäßige Aufgaben und Beschäftigungen wurden mir angewiesen; bis jetzt war ich nur Zuschauerin bei den Vorgängen in Lowood gewesen, jetzt sollte ich eine der Mitspielenden werden. Da ich wenig daran gewöhnt gewesen, auswendig zu lernen, schienen die Aufgaben mir unendlich lang und schwer, auch der häufige Wechsel des Gegenstandes der Lektionen verwirrte mich; ich war daher froh, als Miß Smith mir gegen 3 Uhr Nachmittags einen zwei Ellen langen Streifen weißen Musselins samt Fingerhut und Schere gab und mir gebot, mich in einen stillen Winkel des Schulzimmers zu setzen, wo sie mir Anweisungen gab, wie ich säumen sollte. Um diese Zeit nähte auch die Mehrzahl der anderen Mädchen, nur eine Klasse war noch um Miß Scatcherds Stuhl gruppiert und mit Lesen beschäftigt. Da tiefe Stille herrschte, konnte man den Gegenstand des Unterrichts deutlich vernehmen und ebenso die Art und Weise, wie jedes Mädchen sich ihrer Aufgabe entledigte, oder Miß Scatcherd ihre Mißbilligung oder Anerkennung zu verstehen gab. Es war die englische Weltgeschichte. Unter den Leserinnen bemerkte ich meine Bekannte von der Veranda; beim Beginn der Lektion hatte sie ihren Platz als Erste der Klasse gehabt, aber wegen irgend eines Irrtums in der Aussprache oder einer Unaufmerksamkeit in Bezug auf Interpunktion wurde sie plötzlich an das Ende der Schülerinnenreihe geschickt. Und selbst noch in dieser obskuren Stellung blieb sie unausgesetzt ein Gegenstand für Miß Scatcherds beständige Aufmerksamkeit; fortwährend richtete sie Worte wie die folgenden an sie:

»Burns,« (dies schien ihr Name zu sein; die Mädchen wurden hier, wie anderswo die Knaben, mit ihren Familiennamen angeredet). »Burns, du stehst schon wieder einwärts, augenblicklich die Fußspitzen nach außen.« – »Burns, weshalb steckst du das Kinn in so häßlicher, unangenehmer Weise vor? Halte den Kopf gerade!« – Burns, ich bestehe darauf, daß du dich gerade hältst, ich will dich in solcher Stellung nicht vor mir sehen,« u. s. w., u. s. w.

Als ein Kapitel zweimal durchgelesen war, wurden die Bücher geschlossen und die Mädchen geprüft. Die Lektion hatte einen Teil der Regierung Karls I. umfaßt, und es waren unterschiedliche Fragen über Tonnengeld und Pfund- und Schiffszoll gestellt worden, welche die meisten der Mädchen zu beantworten außerstande gewesen. Jede kleine Schwierigkeit jedoch wurde gelöst, wenn sie zu Burns kam; ihr Gedächtnis schien die Substanz der ganzen Lektion gefaßt zu haben, und sie hatte für jeden Punkt eine Antwort bereit. Ich saß da und wartete freudig erregt, daß Miß Scatcherd ihre Aufmerksamkeit rühmen würde, statt dessen rief sie plötzlich aus:

»Du schmutziges, widerwärtiges Mädchen! Heute morgen hast du deine Nägel wieder nicht gereinigt!«

Burns antwortete nicht, ich wunderte mich über ihr Schweigen.

»Weshalb,« dachte ich, »erklärt sie denn nicht, daß sie weder ihr Gesicht waschen noch ihre Nägel reinigen konnte, da das Wasser gefroren war?«

Hier wurde meine Aufmerksamkeit durch Miß Smith abgelenkt, welche mich bat, ihr beim Abwinden des Zwirns behilflich zu sein. Während sie ihn abwickelte, sprach sie von Zeit zu Zeit mit mir, fragte, ob ich schon früher eine Schule besucht habe, ob ich zeichnen, sticken, stricken könne u. s. w.; als sie mich endlich entließ, konnte ich meine Beobachtungen über Miß Scatcherds Verhalten nicht fortsetzen. Als ich auf meinen Sitz zurückkehrte, erteilte diese Dame gerade einen Befehl, dessen Inhalt ich nicht verstehen konnte. Burns verließ jedoch augenblicklich die Klasse und trat in ein kleines, inneres Zimmer, wo die Bücher aufbewahrt wurden. Nach kaum einer halben Minute kehrte sie zurück und trug in ihrer Hand ein kleines Reisigbündel, das an einem Ende zusammen gebunden war. Dieses ominöse Werkzeug überreichte sie Miß Scatcherd mit einem respektvollen Knicks, dann löste sie schweigend, ohne daß es ihr befohlen wurde, ihre Schürze – und augenblicklich versetzte die Lehrerin ihr mindestens ein Dutzend scharfer Streiche mit der Rute auf Arme und Nacken. Nicht eine einzige Träne trat in Burns Augen und während ich mit meiner Arbeit innehielt, weil ein Gefühl ohnmächtigen, hilflosen Zorns meine Finger erbeben machte, veränderte nicht ein einziger Zug in ihrem nachdenklichen, ernsten Gesicht seinen Ausdruck.

»Verhärtetes Mädchen!« rief Miß Scatcherd aus, »nichts kann dich von deinen unordentlichen Gewohnheiten heilen! – Trage die Rute wieder fort.«

Burns gehorchte. Ich sah ihr scharf ins Gesicht, als sie wieder aus der Bücherkammer heraustrat. Sie schob gerade ihr Taschentuch wieder in die Tasche, und eine Träne glänzte in ihrem Auge und rann langsam über ihre hohle, bleiche Wange.

Die Spielstunde am Abend galt mir als der angenehmste Teil des ganzen Tages in Lowood. Wenn das kleine Stück Brot, der Schluck Kaffee, den ich um fünf Uhr genossen, meinen Hunger auch nicht gestillt, so hatte er wenigstens meinen Lebensmut neu beseelt. Der lange Zwang des Tages fiel fort. Das Schulzimmer war wärmer als am Morgen, denn die Feuer in demselben durften heller brennen, weil sie in gewissem Maße die Lichter ersetzen sollten, die noch nicht eingeführt waren. Der rötliche Feuerschein, der gestattete Lärm, die Konfusion vieler Stimmen rief ein wohliges Gefühl von Freiheit hervor.

Am Abend des Tages, an dem ich gesehen hatte, wie Miß Scatcherd ihre Schülerin Burns mit der Rute gezüchtigt hatte, ging ich wie gewöhnlich ohne Gefährtin zwischen Tischen und Bänken und lachenden Gruppen umher, ich fühlte mich indessen nicht einsam. Wenn ich an den Fenstern vorüberging, hob ich dann und wann einen Vorhang in die Höhe und blickte hinaus. Der Schnee fiel in dichten Flocken, vor den unteren Fensterscheiben lag bereits eine hohe Schicht; wenn ich mein Ohr dicht an das Fenster legte, konnte ich durch den fröhlichen Tumult im Zimmer das traurige Sausen und Toben des Windes draußen unterscheiden.

Wenn ich ein glückliches Heim und gütige Eltern verlassen hätte, so wäre dies wahrscheinlich die Stunde gewesen, in der ich die Trennung am bittersten und schmerzlichsten empfunden hätte. Dieser draußen tobende Sturm würde mir das Herz schwer gemacht haben, dieses düstere Chaos würde meinen Frieden gestört haben – wie die Dinge aber lagen, rief das Getöse eine seltsame Erregung in mir wach. Ich wurde unruhig und fieberhaft, ich wünschte, daß der Wind lauter heulen, die Dämmerung zur Dunkelheit werden und der Lärm in Toben ausarten möchte. Über Bänke fortspringend und unter Tischen weiterkriechend bahnte ich mir einen Weg zu einem der Kamine. Dort fand ich auf dem hohen Fender kniend Burns, welche bei dem matten Schein der glühenden Asche über der Gesellschaft ihres Buches alles vergessen hatte, was um sie her vorging.

 

»Ist es noch immer Rasselas?« fragte ich hinter ihr stehend.

»Ja,« sagte sie, »ich bin gerade damit zu Ende.«

Nach weiteren fünf Minuten schlug sie das Buch zu. Ich war froh darüber.

»Jetzt,« dachte ich, »kann ich sie vielleicht zum Sprechen bringen.« Ich setzte mich neben sie auf den Fußboden,

»Welchen Namen hast du noch außer Burns?«

»Helen.«

»Bist du von weit hergekommen?«

»Ich komme von Norden her, von der schottischen Grenze.«

»Wirst du jemals wieder nach Hause gehen?«

»Ich hoffe es, aber niemand kann in die Zukunft sehen.«

»Wünschest du nicht sehr, Lowood zu verlassen?«

»Nein, weshalb sollte ich das wünschen? Ich bin nach Lowood geschickt worden, um eine gute Erziehung zu bekommen, und was würde es nützen, fortzugehen, wenn dieser Zweck nicht erreicht ist.«

»Aber jene Lehrerin, Miß Scatcherd ist doch so grausam gegen dich?«

»Grausam? Durchaus nicht! Sie ist strenge. Sie hat einen großen Widerwillen gegen meine Fehler.«

»Und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich sie hassen, ich würde mich gegen sie auflehnen; wenn sie mich mit jener Rute schlüge, würde ich sie ihr aus der Hand reißen, vor ihrer Nase würde ich das Ding zerbrechen.«

»Wahrscheinlich würdest du nichts von alledem tun, aber wenn du es tätest, so würde Mr. Brocklehurst dich mit Schimpf und Schande aus der Schule jagen. Und das wäre doch ein großer Kummer für deine Angehörigen. Es ist viel besser, einen Schmerz mit Geduld zu ertragen, den niemand fühlt, als du selbst, denn eine unüberlegte Tat zu begehen, deren böse Folgen alle treffen, die dir verwandt sind – und überdies gebietet die Bibel uns, Böses mit Gutem zu vergelten.«

»Aber es ist doch entehrend, mit Ruten gepeitscht zu werden und in der Mitte eines Zimmers stehen zu müssen, das voller Menschen ist, und du bist schon ein so großes Mädchen; ich bin viel jünger als du und ich könnte es nicht einmal ertragen.«

»Und doch wäre es deine Pflicht, es zu ertragen, wenn du es nicht vermeiden könntest. Es ist schwach und albern zu sagen, daß du nicht ertragen kannst, was das Schicksal dir auferlegt.«

Staunend hörte ich ihr zu. Ich konnte diese Lehre der Duldsamkeit nicht begreifen; und noch weniger konnte ich die Versöhnlichkeit, mit welcher sie von ihrer Quälerin sprach, verstehen, noch mit derselben sympathisieren. Doch fühlte ich, daß Helen Burns alle Dinge in einem Lichte sah, das meinen Augen nicht sichtbar war. Ich vermutete, daß sie Recht hatte und ich Unrecht; aber ich wollte nicht tiefer über die Sache nachdenken – wie Felix schob ich es für eine passendere Gelegenheit auf.

»Du sagst, daß du Fehler hast, Helen, nenne sie mir doch. Mir erscheinst du so gut.«

»Dann lerne von mir, daß man nicht nach dem Schein urteilen darf. Ich bin, wie Miß Scatcherd sagt, sehr unordentlich; selten nur mache ich Ordnung zwischen meinen Sachen und niemals erhalte ich diese Ordnung; ich bin unachtsam; ich vergesse die Vorschriften; ich lese, wenn ich meine Aufgaben machen sollte; ich habe keine Methode und zuweilen sage ich wie du, ich kann es nicht ertragen, mich systematischen Einrichtungen zu unterwerfen. Alles dies ist sehr ärgerlich für Miß Scatcherd, welche von Natur sauber und reinlich und pünktlich ist.«

»Und böse und grausam,« fügte ich hinzu, aber Helen Burns wollte diesen Zusatz nicht gelten lassen, sie schwieg.

»Ist Miß Temple ebenso streng gegen dich, wie Miß Scatcherd?« fragte ich wieder.

Bei der Nennung von Miß Temples Name flog ein sanftes Lächeln über ihr sonst so ernstes Gesicht.

»Miß Temple ist voller Güte; es bereitet ihr Schmerz, gegen irgend jemanden strenge sein zu müssen, selbst gegen die schlechteste Schülerin der ganzen Schule. Sie sieht meine Fehler und belehrt mich mit Sanftmut über dieselben; wenn ich aber irgend etwas lobenswertes tue, so ist sie sehr freigebig mit ihren Lobeserhebungen. Ein starker Beweis für meine unglückselig elende, fehlerhafte, schwache Natur ist es, daß sogar ihre Vorstellungen, so milde, so vernünftig, nicht genug Einfluß haben, um mich von meinen Fehlern zu kurieren. Und sogar ihr Lob, obgleich ich es so hoch schätze, kann mich nicht zu andauernder Sorgsamkeit und Überlegung anspornen.«

»Das ist seltsam,« sagte ich, »es ist doch so leicht, sorgsam zu sein.«

»Für dich ist es das ohne Zweifel. Ich habe dich heute Morgen in deiner Klasse beobachtet und sah, wie unverwandt aufmerksam du warst. Deine Gedanken schienen niemals abzuschweifen, während Miß Miller die Lektion erklärte und dich befragte. Und die meinen wandern fortwährend; wenn ich Miß Scatcherd zuhören und mit Sorgfalt alles in mich aufnehmen sollte, was sie sagt, höre ich oft sogar den Laut ihrer Stimme nicht mehr; ich versinke in eine Art von Traum. Manchmal glaube ich, daß ich in Northumberland bin und daß der Lärm, den ich um mich herum höre, das Plätschern und Rieseln eines kleinen Baches ist, der durch Deepden, ganz nahe unserem Hause, fließt: – – wenn dann die Reihe an mich kommt zu antworten, muß ich erst geweckt werden, und weil ich dann von allem, was gelesen wurde, nichts gehört habe, weil ich dem Rauschen des imaginären Baches lauschte, so habe ich niemals eine Antwort in Bereitschaft.«

»Aber du hast doch heute Nachmittag so gut geantwortet.«

»Das war ein reiner Zufall, Der Gegenstand, über den wir gelesen, hatte mein ganzes Interesse geweckt. Anstatt von Deepden zu träumen, dachte ich heute Nachmittag verwundert darüber nach, wie ein Mann, der so innig wünschte, das Gute zu tun, oft so ungerecht und unklug handeln konnte wie Karl I. es getan; und ich dachte, wie traurig es gewesen, daß er bei all seiner Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit nicht weiter blicken konnte, als bis zu den Prärogativen der Krone. Wenn er nur imstande gewesen wäre, in die Ferne zu blicken und zu sehen, wohin das, was man den Geist der Zeit nennt, eigentlich strebte! Und doch – ich liebe Karl – ich achte ihn – ich bedauere ihn, den armen gemordeten König! Ja, seine Feinde waren die schlimmsten; sie vergossen Blut, welches zu vergießen sie kein Recht hatten! Wie konnten sie es wagen, ihn zu töten!«

Helen sprach jetzt mit sich selbst; sie hatte ganz vergessen, daß ich wohl kaum imstande war, sie zu verstehen – daß ich unwissend war, daß der Gegenstand, über den sie diskutierte, mir fast unbekannt war. Ich rief sie wieder auf meinen Standpunkt zurück.

»Wandern deine Gedanken auch, wenn Miß Temple dich unterrichtet?«

»Nein, gewiß nicht, oder doch nur selten. Miß Temple hat immer etwas zu sagen, das für meine eigenen Reflexionen noch neu ist. Ihre Sprechweise ist mir seltsam angenehm, und die Belehrung, welche sie erteilt, ist meistens grade das, was ich zu lernen wünschte.«

»Also mit Miß Temple bist du gut?«

»Ja, in einer passiven Weise. Ich mache keine besondere Anstrengung, ich folge nur, wohin meine Neigung mich führt. In solcher Güte liegt doch kein besonderes Verdienst.«

»Ein großes Verdienst! Du bist gut mit denen, die gut mit dir sind. Wahrhaftig, ich wünschte nur, daß ich das sein könnte. Wenn die Menschen stets gut und gehorsam den Ungerechten gegenüber wären, so ginge den bösen Menschen ja alles nach ihrem Kopfe; sie würden vor nichts zurückschrecken und sich niemals bessern, sondern immer schlechter und schlechter werden. Wenn man uns ohne Grund schlägt, so sollten wir mit aller Macht wieder schlagen. Ganz gewiß – das sollten wir tun, so kräftig, daß die Person, welche es getan hat, sich wohl hüten würde, es jemals wieder zu tun.«