Jane Eyre

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Jane Eyre
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Hörbuch
Wird gelesen Alan Shearman, Alexis Jacknow, Cerris Morgan-Moyer, Darren Richardson, Emily Bergl, Jane Carr, Jeanne Syquia, Joanne Whalley, Nick Toren
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Jane Eyre / Джейн Эйр
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Nach dem Frühstück zog ich mich mit Adele in die Bibliothek zurück; wie es schien, hatte Mr. Rochester bestimmt, daß dieser Raum als Schulzimmer benutzt werden sollte. Die Mehrzahl der Bücher war in Glasschränken verschlossen; aber ein Bücherschrank, welcher offen stand, enthielt alles, was für den elementaren Unterricht gebraucht wurde, und verschiedene Bände der leichteren Literatur, Poesie, Biographie, Reisebeschreibungen, einige Romanzen u. s. w. Ich vermute, daß er der Ansicht gewesen, dies sei alles, was eine Gouvernante für ihre Privatlektüre brauche, und in der Tat genügten sie mir vollauf für den Augenblick; im Vergleich zu den kärglichen Samenkörnchen, welche ich dann und wann in Lowood zu finden imstande gewesen, schienen diese Bände mir eine reiche, goldene Ernte in Unterhaltung und Belehrung zu bieten. In diesem Zimmer befand sich auch ein ganz neues Klavier von herrlichem Ton; außerdem eine Staffelei und mehrere Erdkugeln.

Ich fand meine Schülerin außerordentlich liebenswürdig, aber sehr zerstreut. Sie war niemals an eine regelmäßige Beschäftigung irgend welcher Art gewöhnt gewesen. Ich fühlte, daß es nicht ratsam sein würde, sie im Anfang zu sehr mit Arbeit zu überhäufen; deshalb erlaubte ich ihr, als aus dem Morgen Mittag geworden war, und ich viel zu ihr gesprochen und sie ein wenig hatte lernen lassen, zu ihrer Wärterin zurückzukehren. Und dann nahm ich mir vor, bis zur Stunde des Mittagessens einige kleine Skizzen für ihren Gebrauch zu zeichnen.

Als ich hinauf ging, um mein Skizzenbuch und meine Zeichenstifte zu holen, rief Mrs. Fairfax mir zu: »Ihre Morgenschulstunden sind jetzt vorüber, wie ich vermute.« Sie befand sich in einem Zimmer, dessen Flügeltüren weit geöffnet waren; als sie mich anredete, ging ich hinein. Es war ein großes, stattliches Gemach, mit purpurfarbigen Möbeln und Vorhängen, einem türkischen Teppich, nußholzbekleideten Wänden, einem großen buntfarbigen Fenster und einer reich geschnitzten Decke. Mrs. Fairfax wischte den Staub von einigen Vasen aus herrlichem Rubinglas, welche auf einer Kredenz standen.

»Welch ein prächtiges Zimmer,« rief ich aus, indem ich umher blickte, denn ich hatte noch nichts gesehen, was auch nur halb so schön gewesen wäre.

»Ja, dies ist das Speisezimmer. Ich habe soeben das Fenster geöffnet, um ein wenig Luft und Sonnenschein herein zu lassen, denn in Zimmern, die selten bewohnt werden, wird alles feucht und dumpfig. Drüben im großen Salon ist es gerade wie in einem Gewölbe.«

Sie deutete auf einen großen Bogen, welcher dem Fenster gegenüber lag und mit persischen Vorhängen, die in Festons aufgerafft waren, dekoriert war. Als ich zwei breite Stufen, welche zu demselben hinaufführten, erstiegen hatte, war mir's, als täte ich einen Blick ins Feenreich; so herrlich erschien meinem Novizenblick der Anblick, welcher sich ihm darbot. Und doch war es nichts als ein sehr hübscher Salon mit einem Boudoir; beide waren mit weißen Teppichen belegt, die mit bunten Blumengirlanden bedeckt schienen; die Decke war reich mit schneeigem Stuck bedeckt, welcher weiße Weintrauben und Blätter darstellte; seltsam kontrastierten damit die feuerroten Stühle und Ottomanen. Die Zierrate, welche den Kaminsims aus weißem, carrarischem Marmor schmückten, bestanden aus funkelndem, rubinrotem, böhmischem Glas, und in den Spiegeln zwischen den Fenstern wiederholte sich die allgemeine Mischung von Schnee und Feuer.

»Wie schön Sie diese Zimmer in Ordnung halten, Mrs. Fairfax!« rief ich. »Kein Staub, keine Überzüge aus Glanzleinwand, Man konnte wirklich glauben, daß sie täglich bewohnt würden, wenn die Luft nicht ein wenig gruftartig wäre.«

»Nun, Miß Eyre, wenn Mr. Rochesters Besuche hier auch nur selten sind, so kommen sie ebenfalls stets unerwartet und plötzlich; und da ich bemerkt habe, daß es ihn stets schlechter Laune macht, wenn er alles eingehüllt findet und mitten in die Geschäftigkeit des Räumens hineinkommt, so dachte ich mir, es sei das Beste, die Zimmer stets in Bereitschaft zu halten.«

»Ist Mr. Rochester ein strenger und kleinlicher Herr?« fragte ich.

»Nicht gerade das; aber er hat die Neigungen und Gewohnheiten eines Gentleman und er erwartet, daß alle Dinge sich dem anpassen.«

»Lieben Sie ihn? Ist er allgemein beliebt?«

»O ja. Die Familie hat hier stets in großer Hochachtung gestanden. Seit Menschengedenken hat alles Land in der Gegend, so weit das Auge reicht, den Rochesters gehört.«

»Gut; aber lieben Sie ihn, ganz abgesehen von seinen Besitzungen? Lieben Sie ihn um seiner selbst willen?«

»Ich habe keine Ursache, etwas anderes zu tun, als ihn zu lieben, und ich glaube auch, daß seine Pächter und Untergebenen ihn als einen freigebigen und gerechten Gebieter betrachten; aber er hat niemals viel unter ihnen gelebt.«

»Aber hat er keine Eigentümlichkeiten? Kurz und gut, wie ist sein Charakter?«

»O, sein Charakter ist fleckenlos. Das glaube ich wenigstens. Vielleicht ist er in manchen Dingen ein klein wenig seltsam; ich vermute, daß er viel gereist ist und viel von der Welt gesehen hat. Ich glaube auch, daß er sehr gescheit ist, aber ich habe niemals Gelegenheit gehabt, mich viel mit ihm zu unterhalten.«

»In welcher Weise ist er denn seltsam?«

»Ich weiß es nicht. Das ist nicht so leicht zu beschreiben – nichts besonders auffallendes, aber man fühlt es, wenn man mit ihm spricht. Man weiß niemals, ob er im Scherz oder im Ernst redet, ob er sich freut oder ob er sich ärgert. Kurzum, man versteht ihn nicht recht – wenigstens ich verstehe ihn nicht. Aber das schadet ja nicht; er ist ein sehr guter Herr und Gebieter.«

Dies war alles, was ich von Mrs. Fairfax über ihren Brotherrn und den meinen erfahren konnte. Es gibt Leute, welche meist nicht imstande zu sein scheinen, einen Charakter beschreiben zu können und die weder bei Menschen noch bei Dingen hervorragende Eigenschaften und Eigentümlichkeiten bemerken, – und augenscheinlich gehörte die gute Dame zu diesen; meine Fragen verblüfften sie, brachten sie aber nicht zum Sprechen. Mr. Rochester war in ihren Augen Mr. Rochester, ein Gentleman, ein Gutsbesitzer – nichts anderes; sie fragte und suchte nicht weiter und wunderte sich augenscheinlich über meinen Wunsch, einen bestimmteren Begriff seiner Persönlichkeit zu bekommen.

Als wir das Speisezimmer verließen, schlug sie mir vor, mir den übrigen Teil des Hauses zu zeigen; und ich folgte ihr treppauf, treppab und bewunderte alles im Gehen, denn alles war schön und geschmackvoll arrangiert. Besonders die großen Zimmer an der Vorderseite des Hauses erschienen mir prächtig und imposant, und einige der Zimmer des dritten Stocks, obgleich düster und niedrig, waren interessant durch ihr altertümliches Aussehen. Die Möbel, welche einst für die unteren Gemächer angeschafft worden, waren je nach den Anforderungen der Mode von Zeit zu Zeit hier herauf geschafft, und das unsichere Licht, welches durch die niederen Fenster eindrang, fiel auf Bettstellen, welche mehr als ein Jahrhundert zählten; Truhen aus Nutz- und Eichenholz sahen mit ihren seltsamen Schnitzereien von Palmenzweigen und Engelsköpfen aus wie die Typen der Arche Noah; Reihen von ehrwürdigen Stühlen mit schmalen und hohen Lehnen; noch ältere Lehnstühle, auf deren gepolsterten Lehnen noch Spuren halbverwitterter Stickereien, welche vor zwei Generationen von Fingern gearbeitet waren, die längst im Grabe moderten. All diese Reliquien verliehen dem dritten Stockwerk von Thornfield-Hall das Aussehen eines Heims der Vergangenheit, eines Schreins der Erinnerungen. Ich liebte die Ruhe, das Dämmerlicht, die Eigentümlichkeit dieser Räume während der Tageszeit; aber ich wünschte mir durchaus nicht das Vergnügen einer Nachtruhe auf diesen großen und schweren Betten, deren einige durch Türen von Eichenholz abgeschlossen, andere mit schweren alten Vorhängen von englischer Arbeit verdeckt waren, deren Muster seltsame Blumen und noch seltsamere Vögel und die allerseltsamsten menschlichen Gestalten darstellten – wie seltsam würden erst all diese Dinge im bleichen Mondlicht ausgesehen haben!

»Schlafen die Diener in diesen Zimmern?« fragte ich.

»Nein, sie bewohnen eine Reihe kleinerer Gemächer an der Hinterseite des Hauses; hier schläft niemand; man möchte beinahe glauben, daß wenn wir in Thornfield-Hall einen Geist hätten, dies sein Schlupfwinkel wäre.«

»Das glaube ich auch. Sie haben also keinen Geist hier?«

»Ich habe wenigstens niemals davon gehört,« entgegnete Mrs. Fairfax lächelnd.

»Auch keine darauf bezügliche Tradition? Keine Legenden, keine Geistergeschichten?«

»Ich glaube nicht. Und doch sagt man, daß die Rochesters ihrer Zeit ein mehr streitsüchtiges als friedliebendes Geschlecht gewesen. Aber vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb sie jetzt ruhig in ihren Gräbern liegen.«

»Ja, ja – sie ruhen aus nach dem verzehrenden Fieber des Lebens,« murmelte ich, – »Wohin gehen Sie denn jetzt, Mrs. Fairfax?« denn sie ging weiter.

»Hinauf auf das Dach; wollen Sie mit mir gehen, um die Aussicht von dort zu genießen?« Ich folgte ihr über eine sehr enge Treppe zu den Bodenkammern hinauf, und von dort über eine Leiter und durch eine Falltür auf das Dach des Herrenhauses. Ich befand mich jetzt auf gleicher Höhe mit der Krähenkolonie und konnte einen Blick in ihre Nester werfen. Als ich mich über die Zinnen lehnte und weit hinunter blickte, sah ich den Park und die Gärten wie eine Landkarte vor mir liegen; der helle, wie Samt geschorene Rasen, der sich dicht um das graue Fundament des Hauses zog; die Felder und Wiesen, auf denen hier und da große Haufen von starkem Bauholz lagen; der ernste, düstere Wald, durch welchen sich ein Fußsteig zog, dessen Moos grüner war als das Laub der Bäume; die Kirche an der Parkpforte; die Landstraße; die Hügel, welche majestätisch und ruhig in das klare Sonnenlicht des Herbsttages hineinragten; der weite, tiefblaue, mit leichten Federwölkchen besäte Himmelsbogen, das ganze vor mir liegende Bild hatte keinen besonders hervorragenden Zug, aber es war lieblich und wohlgefällig. Als ich mein Auge von demselben abwandte und wieder durch die Falltür hinabstieg, konnte ich kaum meinen Weg über die Leiter hinunter finden; im Vergleich mit dem blauen Himmelsbogen, zu dem ich empor geblickt hatte, erschien die Bodenkammer finster wie ein Gewölbe; düster wie ein Grab nach jenem sonnigen Bilde des Parkes, der Weiden und grünen Hügel, dessen Mittelpunkt das Herrenhaus war, und das ich soeben noch mit Wonne betrachtet hatte.

 

Mrs. Fairfax blieb einen Augenblick zurück, um die Falltür zu schließen; ich tastete mich an den Ausgang der Bodentür und begann dann die enge Bodentreppe hinunter zu steigen. In dem langen Korridor, welcher zu dieser führte, und die Vorderzimmer und Hinterzimmer der dritten Etage trennte, hielt ich inne; schmal, lang und dunkel, mit einem einzigen kleinen Fenster am äußersten Ende, sah er mit seinen beiden Reihen kleiner, niedriger, schwarzer Türen aus wie ein Korridor in Ritter Blaubarts Schloß.

Als ich dann leise vorwärts schritt, schlug das letzte Geräusch, welches ich in diesen Regionen erwartet haben würde – ein lautes Lachen – an mein Ohr. Es war ein seltsames Lachen, deutlich, förmlich, freudlos. Ich stand still. Der Ton verhallte; doch nur für einen Augenblick; dann begann das Lachen von neuem, lauter, denn anfangs war es, wenn auch deutlich, doch nur leise gewesen. Es endigte mit lautem Schall, welcher in jedem einsamen Zimmer ein Echo zu wecken schien; es drang aber nur aus einem einzigen, und ich hätte die Tür bezeichnen können, aus welcher die Töne kamen.

»Mrs. Fairfax!« schrie ich auf, denn jetzt hörte ich sie die große Treppe herabkommen. »Haben Sie das laute Lachen gehört? Woher kommt es? Wer war es?«

»Wahrscheinlich einige der Dienstmädchen,« entgegnete sie, »vielleicht Grace Poole.«

»Haben Sie es auch gehört?« fragte ich wieder.

»Ja, ganz deutlich. Ich höre sie oft, sie näht in einem dieser Zimmer. Zuweilen ist Leah bei ihr; sie machen oft großen Lärm miteinander.«

Wiederum ertönte das leise, eintönige, schaurige Lachen, es endigte mit einem seltsamen Gemurmel.

»Grace!« rief Mrs. Fairfax.

Ich erwartete wirklich nicht, daß irgend eine Grace auf diesen Ruf antworten werde; denn das Lachen klang so tragisch, so unnatürlich, so überirdisch wie ich noch niemals eins vernommen; und wenn nicht heller Mittag gewesen wäre, und kein gespenstischer Umstand die seltsamen Laute begleitete – wenn es nicht gewesen wäre, daß weder Zeit noch Ort die Gespensterfurcht begünstigten, so würde ich mich abergläubischer Furcht hingegeben haben. Der Vorfall zeigte mir indessen, daß ich eine Närrin war, mich auch nur überraschen zu lassen. Die Tür, neben welcher ich stand, öffnete sich und eine Dienerin trat heraus; sie war eine Frau zwischen dreißig und vierzig, eine untersetzte, knochige Gestalt mit rotem Haar und einem harten, häßlichen Gesicht; eine weniger romantische oder geisterhafte Erscheinung ließ sich kaum denken.

»Zu viel Lärm, Grace,« sagte Mrs. Fairfax, »vergiß deine Weisungen nicht!« Ohne ein Wort zu sagen, machte Grace einen Knicks und ging wieder ins Zimmer.

»Sie ist eine Person, die wir hier haben, um zu nähen und Leah bei ihrer Hausarbeit zu helfen,« fuhr die Witwe fort, »in manchen Dingen ist sie nicht ganz vorwurfsfrei, aber sie genügt uns. Aber ehe ich's vergesse, wie waren Sie heute Morgen mit Ihrer Schülerin zufrieden?«

So kam das Gespräch auf Adele und wir fuhren fort, über sie zu sprechen, bis wir die sonnigeren, fröhlicheren Regionen des untern Stockwerks erreicht hatten. Adele kam uns in der Halle entgegen gelaufen und rief:

»Mesdames, vous êtes servies»!« Dann fügte sie lachend hinzu: »J'ai bien faim, moi!«

In Mrs. Fairfax Zimmer fanden wir die Mahlzeit angerichtet, welche bereits unserer harrte.

1 Thornfield = Dornenfeld

Zwölftes Kapitel

Die Aussicht auf einen ruhigen Verlauf meiner Tage, welche mein erster ruhiger Anfang in Thornfield-Hall zu versprechen schien, wurde nach einer näheren Bekanntschaft mit dem Orte und seinen Bewohnern durchaus nicht gestört. Mrs. Fairfax war in Wirklichkeit das, was sie zu sein schien, eine leidenschaftslose, gutherzige, sich stets gleich bleibende Frau von ziemlich guter Erziehung und einem Durchschnittsverstande. Meine Schülerin war ein lebhaftes Kind, welches verzogen und verwöhnt und deshalb zuweilen eigensinnig und widerspenstig war; da sie indessen gänzlich meiner Obhut anvertraut war und keine unberufene und unvernünftige Einmischung von irgend einer Seite jemals meine Pläne und Absichten in Bezug auf ihre Erziehung durchkreuzte, so vergaß sie bald ihre kleinen Launen und wurde gehorsam und lernbegierig. Sie besaß keine hervorragenden Talente, keine scharfen Charakterzüge, keine besondere Gefühls- oder Geschmacksrichtung, welche sie auch nur um einen Zoll über das gewöhnliche Niveau anderer Kinder empor gehoben hätte; aber ebenso wenig hatte sie irgend ein Laster oder einen Fehler, welcher sie unter dasselbe gestellt hätte. Sie machte ziemlich gute Fortschritte, hegte für mich eine lebhafte, wenn auch nicht sehr tiefgehende Neigung, und flößte mir ihrerseits durch ihre Naivität, ihr fröhliches Plaudern und ihre Bemühungen, mir zu gefallen, einen Grad von Liebe ein, welcher hinreichte, um uns ein gewisses Behagen an unserer gegenseitigen Gesellschaft finden zu lassen.

Leute, welche heiligen Doktrinen über die engelgleiche Natur der Kinder huldigen und verlangen, daß jene, welchen ihre Erziehung anvertraut ist, eine abgöttische Liebe für dieselben hegen sollen, werden – in Parenthese gesagt – meine Worte für kalt und gefühllos halten; aber ich schreibe nicht, um dem elterlichen Egoismus zu schmeicheln, um Kauderwelsch und Unsinn nachzubeten oder Humbug zu unterstützen, – ich erzähle nur die Wahrheit. Ich hegte eine gewissenhafte Sorgfalt für Adeles Wohlergehen und Fortschritte und ein ruhiges Wohlgefallen an ihrem kleinen Selbst; gerade so, wie ich für Mrs. Fairfax' Güte dankbar war und an ihrer Gesellschaft eine Freude empfand, welche sie für die Rücksichten lohnte, die sie für mich hatte, und ihr zeigte, wie sehr ich die weise Mäßigung in ihrem Charakter so wie in ihrem Gemüt zu schätzen wußte.

Mag mich tadeln, wer da will, wenn ich noch hinzufüge, daß ich dann und wann, wenn ich einen Spaziergang im Park gemacht hatte oder nach dem Parktor hinunter gegangen war, um von dort auf die Landstraße zu blicken, oder wenn Adele mit ihrer Wärterin spielte und Mrs. Fairfax in der Vorratskammer Fruchtgelee kochte – daß ich dann die drei Treppen hinauf kletterte, die Falltür in der Bodenkammer öffnete, an die Galerie des Daches trat und weit über Felder und Hügel bis an die verschwommene Linie des Horizonts hinblicke. Dann wünschte ich mir die Gabe einer Seherin, um über jene Grenzen fortsehen zu können, dorthin, wo die geschäftige Welt und Städte und lebensvolle Regionen waren, von denen ich wohl gehört, die ich aber niemals gesehen hatte. Dann ersehnte ich mir mehr praktische Erfahrung als ich besaß, mehr Verkehr mit meinesgleichen, mehr Kenntnis verschiedener Charaktere, als ich mir hier erringen konnte. Ich wußte das Gute in Mrs. Fairfax und das Gute in Adele zu schätzen, aber ich glaubte, es müsse eine andere, eine lebensvollere Güte geben, und ich wünschte, das was ich glaubte, mit eigenen Augen zu sehen.

Wer tadelt mich? Sehr viele wahrscheinlich, und man wird mich unzufrieden und ungenügsam nennen. Ich konnte nichts dafür; die Ruhelosigkeit lag in meiner Natur; oft quälte sie mich aufs äußerste. Dann fand ich die einzige Beruhigung darin, in dem Korridor des dritten Stockwerks hin und her zu gehen, wo ich mich in der Einsamkeit des Ortes wohl und sicher fühlte, um das geistige Auge auf den herrlichen Visionen ruhen zu lassen, die sich vor demselben ausbreiteten – und es waren ihrer viele und prächtige und farbenglühende – und mein Herz schwellen zu lassen von lebensvoller Sehnsucht, die, wenn auch schmerzhaft, doch wenigstens Leben war; und vor allen Dingen mein inneres Ohr auf eine Geschichte horchen zu lassen, die niemals endigte – eine Geschichte, welche meine Phantasie schuf und fortwährend wiederholte, – eine Geschichte, in welcher all das Leben, das Feuer, die Empfindungen pulsierten, nach denen ich mich sehnte, und die mein wirkliches Dasein mir nicht boten.

Es ist umsonst, zu sagen, daß der Mensch zufrieden sein sollte, wenn er Ruhe hat, – er muss auch Tätigkeit haben, und er wird sie sich schaffen, wenn er sie nicht findet. Millionen sind zu einem stilleren Lose verdammt als das meinige, und Millionen empören sich lautlos gegen ihr Los. Niemand weiss, wieviel Empörungen außer politischen Empörungen in den Menschenmassen gähren, welche die Erde bevölkern. Im allgemeinen nimmt man an, daß Frauen sehr ruhig sind, aber Frauen empfinden gerade so wie Männer; auch sie brauchen ein Feld der Tätigkeit für ihre Fähigkeiten, wie ihre Brüder es tun; sie leiden unter zu schweren Fesseln, unter vollständiger Stagnation gerade so wie Männer es tun wurden; und es ist engherzig, wenn ihre begünstigteren Nebenmenschen sagen, daß sie sich darauf beschränken sollten, Puddings zu machen und Strümpfe zu stopfen, Klavier zu spielen und Tabaksbeutel zu sticken. Es ist gedankenlos, sie zu verdammen oder über sie zu lachen, wenn sie versuchen, mehr zu arbeiten und mehr zu lernen, als das, was das alte Herkommen für ihr Geschlecht nötig erachtet.

Wenn ich so allein war, hörte ich gar oft Grace Pooles Lachen, dasselbe Lachen, dasselbe leise, langsame ha! ha! das mich so seltsam erschüttert hatte, als ich es zuerst vernommen; ich hörte auch ihr ekzentrisches Gemurmel, das noch seltsamer war als ihr Lachen, Es gab Tage, an denen sie sich ganz still verhielt, aber wiederum andere, wo mir die Laute, welche sie von sich gab, ganz unerklärlich schienen. Zuweilen sah ich sie; dann pflegte sie mit einem Teller oder einer Schüssel oder einer Schale aus ihrem Zimmer zu kommen, in die Küche hinterzugehen und gewöhnlich – o, verzeihe mir, romantische Leserin, wenn ich die Wahrheit sage – mit einem Topf voll Porter zurückzukommen. Ihre Erscheinung dämpfte stets die Neugierde, welche ihre rednerischen und stimmlichen Seltsamkeiten erregt hatten; sie war ein starkknochiges Weib mit harten Zügen, welches in keiner Weise Interesse zu wecken vermochte. Ich machte einige Versuche, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie schien eine wortkarge Person; eine einsilbige Antwort machte gewöhnlich all meinen Bemühungen dieser Art ein Ende.

Die andern Mitglieder des Haushalts, wie John und seine Frau, Leah das Hausmädchen und Sophie, die französische Bonne, waren sehr anständige Leute, aber in keiner Weise erhoben sie sich über das Gewöhnliche. Mit Sophie pflegte ich französisch zu sprechen und zuweilen richtete ich auch Fragen über ihr Vaterland an sie; sie besaß aber weder die Gabe erzählen noch beschreiben zu können und gab meistens so verwirrte und nichtssagende Antworten, daß sie meine Fragelust eher dämpften als ermutigten.

Oktober, November und Dezember gingen hin. Eines Nachmittags im Januar hatte Mrs. Fairfax um einen Ferientag für Adele gebeten, weil diese sich eine heftige Erkältung zugezogen hatte; und da Adele diese Bitte mit einer Innigkeit und Eindringlichkeit unterstützte, welche mich daran erinnerten, wie kostbar solch ein gelegentlicher Ferialtag mir selbst in meiner Kindheit gewesen, gewährte ich denselben; es schien mir geraten, in diesem Punkte Nachgiebigkeit zu zeigen. Obgleich sehr kalt, war es ein schöner, windstiller Tag; den ganzen Morgen hatte ich ruhig sitzend in der Bibliothek zugebracht, jetzt war ich dessen müde; Mrs. Fairfax hatte gerade einen Brief beendigt, welcher darauf harrte, zur Post getragen zu werden, und so nahm ich Hut und Mantel und erbot mich freiwillig, denselben auf das Postamt nach Hay zu bringen; die Entfernung, welche ungefähr zwei Meilen betrug, sollte ein angenehmer Nachmittagsspaziergang für mich sein. Nachdem ich Adele gemütlich in ihrem kleinen Lehnstuhl vor Mrs. Fairfax' Kaminfeuer installiert und ihr die schönste Wachspuppe, welche ich gewöhnlich in Silberpapier gewickelt in einer Schublade verwahrt hielt, zum Spielen gegeben hatte und dazu noch ein Geschichtenbuch der Abwechslung wegen, machte ich mich auf den Weg, nachdem ich Adelens ›Revenez bientôt ma bonne amie, ma chère Mademoiselle Jeanette‹1 noch mit einem herzlichen Kuß beantwortet hatte. Der Boden war hart gefroren, die Luft war still, meine Straße einsam; ich ging sehr schnell bis ich mich erwärmt hatte, dann ging ich langsam, um das Vergnügen, welches Zeit und Umstände für mich in sich bargen, zu genießen und zu analysieren. Es war drei Uhr; die Kirchenuhr schlug, als ich an dem Glockenturm vorüber ging; der Reiz der Stunde lag in der herannahenden Dämmerung in der niedersinkenden und mattstrahlenden Sonne. Ich war eine Meile von Thornfield entfernt, in einem engen Heckenwege, welcher im Sommer seiner wilden Rosen, im Herbst seiner Nüsse und Brombeeren wegen bekannt war und sogar jetzt noch einige korallenfarbige Schätze in Gestalt von Hagebutten und Mehlbeeren aufzuweisen hatte; seine herrlichste Winterfreude lag jedoch in seiner vollständigen Vereinsamung und laublosen, starren Ruhe. Selbst wenn ein Lüftchen wehte, weckte es hier keinen Laut, denn hier war kein Stechpalmengesträuch, kein Immergrün, welches hätte rauschen können, und die entblätterten Weißdorn- und Haselnußbüsche lagen ebenso still da, wie die weißen, ausgetretenen Steine, mit welchen der Fußpfad in der Mitte gepflastert war. Weit und breit lagen zu jeder Seite nur Felder, auf denen jetzt kein Vieh mehr weidete; und die kleinen, braunen Vögel, welche sich dann und wann in der Hecke rührten, sahen aus wie einzelne welke Blätter, die vergessen hatten abzufallen.

 

Dieser Weg zog sich hügelaufwärts nach Hay; als ich die Mitte erreicht hatte, setzte ich mich an einem Zaun nieder, welcher sich von dort quer über ein Feld zog. Ich hüllte mich dicht in meinen Mantel, verbarg die Hände in meinem Muff und fühlte auf diese Weise die Kälte nicht, obgleich es scharf fror; dies bewies eine dünne Eisschicht, welche den Fußpfad, wo ein kleines jetzt gefrorenes Bächlein noch vor wenigen Tagen nach starkem Tauwetter dahin gerieselt war, bedeckte. Von meinem Platze aus konnte ich auf Thornfield hinunterblicken; das graue mit Zinnen gekrönte Herrenhaus bildete den hervorragendsten Punkt in dem Tal zu meinen Füßen, die Wälder und das dunkle Krähengeniste erhoben sich gegen Westen. Ich verweilte, bis die Sonne hinter den Bäumen versank und feurig und klar zur Ruhe ging. Dann wandte ich mich ostwärts.

Über der Spitze des Hügels oberhalb des Weges stand der aufgehende Mond; jetzt noch bleich aber mit jedem Augenblick strahlender werdend. Er blickte auf Hay hinab, das halb in Bäumen versteckt, aus seinen wenigen Schornsteinen einen bläulichen Rauch gen Himmel sandte; es lag noch eine Meile entfernt, aber in der tiefen Stille, welche herrschte, drangen die Töne des schwachen Lebens, welches in dem Orte pulsierte, bis zu mir herauf. Mein Ohr vernahm auch das Rauschen von Strömen; in welchen Tiefen und Tälern vermochte ich aber nicht zu sagen; jenseits Hay waren aber viele Hügel, und zweifellos auch viele Bäche, welche von ihren Höhen herabrauschten. In der Ruhe dieses Abends verriet sich sowohl das Nieseln der nächsten Bäche wie das Rauschen der weit entferntesten.

Plötzlich unterbrach ein brutales Geräusch dies zarte, ferne und doch so klare Flüstern und Kräuseln und Rieseln, ein polterndes Trampeln, ein metallisches Klirren, welches das sanfte Gemurmel der Wellen unterbrach, gerade so wie auf einem Bilde die solide Masse eines Felsens oder das raue Geäst einer großen Eiche, das sich in groben und kühnen Zügen im Vordergrund erhebt, die luftige Ferne blauer Hügel, den sonnigen Horizont, die klaren Wolken, wo alle Farben ineinander verschwimmen, stören. Der Lärm war auf dem Fußpfade, ein Pferd näherte sich, die Windungen des Weges verbargen es noch, aber es kam stetig näher; ich wollte gerade meinen Platz verlassen, da der Pfad aber schmal war, saß ich still, um es vorüber zu lassen. In jenen Tagen war ich jung, und tausend helle und düstere Fantasien bemächtigten sich meines Gemüts; die Erinnerung an Kinderstubengeschichten lag dort unter anderm Gerümpel aufgespeichert, und wenn sie wach wurden, verlieh die reifere Jugend ihnen eine Lebhaftigkeit und Stärke, welche die Kindheit ihnen nicht zu geben vermocht hatte. Als dies Pferd näher kam, und ich erwartete, es in der Dämmerung auftauchen zu sehen, fiel mir eine von Bessies Geschichten ein, in welcher ein Geist aus dem Norden Englands, Namens Gytrash figurierte; dieser suchte in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes einsame Wege heim und überfiel zuweilen nächtliche Wanderer, grade so wie dieses Pferd jetzt auf mich zu kam.

Es war schon sehr nahe, aber immer noch nicht sichtbar; da vernahm ich außer jenem Trapp, Trapp noch ein Rascheln unter der Hecke, und dicht an den braunen Stämmen entlang lief ein großer Hund, dessen schwarz und weiße Farbe ihn weithin kenntlich machte. Dies war nun gerade eine Maske aus Bessies Gytrash, eine löwenähnliche Kreatur mit langer Mähne und großem Kopfe; sie schlich indessen ruhig an mir vorüber und blickte mit ihren seltsam verständigen Hundeaugen nicht zu mir auf, wie ich halb und halb erwartete. Dann folgte das Pferd – ein starkes Roß, auf seinem Rücken ein Reiter. Der Mann, das menschliche Wesen, brach den Zauber sofort. Den Gytrash konnte niemand reiten, er stürmte stets allein umher, und wenn Kobolde auch in die stummen Leiber der Tiere fahren konnten, so vermochten sie doch so viel ich wußte, nicht die gewöhnliche Menschengestalt anzunehmen. Dies war also kein Gytrash – sondern nur ein Reisender, welcher den kürzesten Weg nach Millcote einschlug. Er ritt vorüber, und ich ging weiter; nur wenige Schritte, dann wandte ich mich um; ein Laut, als glitte irgend etwas aus, ein Ausruf: »Was zum Teufel ist jetzt zu machen«? ein polternder Fall weckten meine Aufmerksamkeit. Roß und Reiter lagen am Boden; sie waren auf der Eisfläche ausgeglitten, welche den gepflasterten Fußpfad bedeckte. In großen Sprüngen kam der Hund zurück und als er seinen Herrn in Verlegenheit sah und das Pferd stöhnen hörte, begann er zu bellen, bis es von den Hügeln widerhallte. Er beschnüffelte die auf dem Boden liegende Gruppe und dann kam er zu mir gelaufen; das war alles was er tun konnte – keine andere helfende Hand war zur Stelle. Ich folgte ihm und ging zu dem Reiter hinunter, welcher jetzt begann, sich unter seinem Pferde hervorzuarbeiten. Seine Anstrengungen waren so kräftig, daß ich glaubte, er könne keinen großen Schaden genommen haben; aber ich fragte dennoch:

»Haben Sie sich verletzt, mein Herr?«

Ich glaube beinahe, daß er fluchte, aber ich bin meiner Sache nicht ganz gewiß; indessen bediente er sich einer Redeform, welche ihn einer direkten Antwort überhob.

»Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte ich wiederum leise.

»Stellen Sie sich auf die Seite,« entgegnete er, indem er sich erhob, erst auf die Knie, dann auf die Füße. Ich tat, wie er mich hieß. Dann begann ein Heben, Stampfen, Schlagen, begleitet von einem Bellen und Springen, welches mich in der Tat einige Schritte vorwärts trieb; ich wollte mich jedoch nicht ganz entfernen, bevor ich das Resultat nicht gesehen. Dieses war am Ende ein glückliches; das Pferd stand wieder auf den Füßen und der Hund wurde mit einem »Couche, Pilot!« zur Ruhe gebracht. Dann beugte der Reisende sich nieder und betastete seinen Fuß und sein Bein, wie um sich zu vergewissern, ob sie heil geblieben; augenscheinlich war er von dieser Untersuchung nicht befriedigt, denn er hinkte bis zu dem Platz am Zaun, wo ich bis dahin gesessen und ließ sich nieder.

Mich faßte wahrscheinlich die Laune, mich nützlich zu machen oder doch wenigstens mich gefällig zu zeigen, denn ich näherte mich ihm wiederum.

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