Tag der Drachen

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Der Kommandeur hatte seinen Trupp angewiesen auf dem festen Untergrund zu bleiben, während die Schergen ungeordnet den gefrorenen Fluss überquerten. Dies war der Vorteil, auf den der Kommandeur hoffte. Einige Pferde rutschten auf dem Eis aus. Das Eis brach, und der Fluss verschlang Reiter samt Ross. Die verunsicherten Schergen konnten ihre Bogen nicht spannen und ritten in den Pfeilhagel der Soldaten, die inzwischen abgesessen waren und mit festem Stand ihre Bögen immer wieder aufziehen konnten.

Der Kommandeur schätzte fünf Reiter, die bei der ersten Begegnung vom eigenen Lager kampfunfähig gemacht wurden, zehn Reiter, die im Fluss umkamen, oder die durch Sturz auf dem Eis kampfunfähig wurden, mindestens zwanzig Reiter, die im Pfeilhagel vom Pferd stürzten. Der Rest wurde in geordneter Formation erwartet und vernichtend geschlagen. Sein Plan war aufgegangen. Der Anführer der Schergen hatte sich von seiner List verleiten lassen und war mit Wut und ohne Vorsichtsmaßnahmen über den Fluss in sein eigenes Unglück geritten.

Die Soldaten fesselten die restlichen Schergen, versorgten die Verletzten und sammelten die Pferde ein. Nach Aufnahme der gefallenen und noch lebenden Schergen wurde Bilanz gezogen. Fünf Schergen kamen zu Tode bei der ersten Begegnung. Fünf Schergen ertranken im Fluss, fünfzehn Schergen starben im Pfeilhagel oder im Zweikampf. Mindestens fünf Schergen wurden vermisst und waren wohl unter das Eis gekommen. Fünfundzwanzig Schergen waren schwer verletzt und kampfunfähig. Nur zwanzig Schergen saßen unverletzt, aber gefesselt und geknebelt am Ufer. Die eigenen Verluste: keine, bis auf ein paar kleinere Verletzungen durch gegnerische Pfeile und Zweikämpfe. Der Kommandeur befragte die Gefangen, wer die Anführer seien und was das Ziel des Überfalls war.

Er hielt nicht viel von Folter, aber seine Order war klar: Gefangennahme der Rebellenanführer. Unter Todesandrohung und Folter verriet ein Scherge den Präfekten von LINFEN Lirong Bao Fuca, und dieser wiederum verriet Yun Reng, den älteren Bruder des neuen Kaisers, der verkleidet als einfacher Scherge mit dem Pferd auf dem Eis ausgerutscht, im Sturz unter das Pferd gekommen war und sich dabei den Oberschenkel gebrochen hatte. Yun Reng versicherte, dass er mit dem Überfall nichts zu tun hatte, im Gegenteil, er wollte Hong Li zu Hilfe eilen, als er erfuhr, dass die Schergen aus LINFEN gegen die Soldaten anrückten. Der Kommandeur ließ die verletzten und unverletzten Gegner, meist Bauern, die im Winter ihr Auskommen suchten, laufen. Nur die zwei Anführer Lirong Bao Fuca und Yun Reng wurden als Gefangene mitgenommen. Die restliche Reise nach Peking verlief ohne weitere Vorkommnisse, außer, dass Yun Reng versucht hatte, einen Bewacher zu bestechen.

Von dem Handstreich des Kommandeurs wusste die kleine Gruppe nichts. Der Schneesturm war vorüber, und der Weg über den Pass problemlos. Die Pferde mussten sich zwar durch den Neuschnee plagen, je mehr sie sich aber dem See ZHONGDAO näherten, umso weniger hatte es geschneit. Den See ließen sie im Süden liegen, um so schnell wie möglich, bei LICHENG, über die Provinzgrenze von SHANXI nach HEBEI zu kommen. HEBEI war dem Kaiser wohl gesonnen. Hier bestand keine Gefahr eines Überfalls.

Entsprechend schnell kamen sie voran. Inzwischen konnte sich Shi Yan auch selbst auf einem Pferd halten, das Pony, das sie in SHE, gleich nach der Grenze, gekauft hatten, war zahm. In BAODING wartete die Eskadron Soldaten auf sie. Die Überraschung war groß, als Hong Li seinen Onkel Yun Reng in Ketten sah, und noch unverständlicher war die Gefangennahme von Xiao Xians Vater. Er hatte den Präfekten immer als treuen Freund der Familie eingeschätzt. Zwei Tagesritte weiter kamen sie an die südwestliche Grenze Pekings. In Zweierreihe überquerten sie den Fluss YONGDING. Die Hufe der Pferde klapperten auf den Planken der zweispurigen Holzbrücke, die vom Schnee befreit war. Der Fluss war gefroren, und viele Menschen überquerten ihn auf dem Eis. In der Ferne war die ca. 5 m hohe Holzbalustrade und damit der Umriss der Stadt zu erkennen. In der Verlängerung der Brücke erkannte man ein großes Stadttor mit zwei seitlichen Türmen, das südwestliche Tor. Die zwei gewaltigen Holztore standen offen. Die Palastanlage lag wie eine Spinne mitten in der Stadt, und die Straßen darum herum bildeten das Netz. Der Innenbereich war für Normalsterbliche gesperrt. Die Verbotene Stadt. Die Eskadron ritt stolz durch das Tor. Händler und Bauern hielten an, um dem Trupp Vortritt zu lassen.

1.06 Die Verbotene Stadt

PEKING, Januar 1723

Mehr als sieben Kilometer musste die Truppe noch durch Häuserzeilen, Alleen und Parks reiten, bis man über die ZHENGYANG-Brücke nach Norden abbog und das Große Stadttor ZHENGYANGMEN erreichte, das den inneren Kern der alten Stadt abschloss. Hinter diesem imposanten und wehrhaften Bauwerk konnte man schon die Verbotene Stadt erkennen, mit ihren mehr als 10 m hohen Mauern, die man aber erst nach weiteren 3000 m erreichte. Je näher der Trupp an das Zentrum kam, umso mehr Menschen versammelten sich am Straßenrand, um den Trupp zu begrüßen und zu feiern. Dass dies hauptsächlich ihm, Hong Li, galt, kam dem Jungen nicht in den Sinn.

Die vier Shaolin-Mönche ritten voraus, dann folgten Hong Li und Shi Yan, der sich immer sicherer im Sattel fühlte. Darauf folgte der Kommandeur und zwischen je zwei Reihen Soldaten die Gefangenen Yun Reng und Lirong Bao Fuca, die Ketten deutlich sichtbar. Den Schluss bildete ein Tross mit zehn Doppelreihen Soldaten. Die Hauptstraße war frei von Schnee. Nur die Seitenstraßen waren verschneit. Für die Bewohner von Peking war dies ein Aufzug, der nicht alle Tage zu sehen war. Shi Yan fühlte sich gut ein Mitglied dieses Aufzuges zu sein. Langsam erkannte er die Bedeutung und die Stellung seines Freundes Hong Li. Zwar hatten die drei Jahre im Kloster FA MEN SI einen anderen Menschen aus Hong Li gemacht, er war bescheidener und mitfühlender geworden, den Menschen näher und ja, auch erwachsener.

Vor dem Haupttor zur Verbotenen Stadt, dem Mittagstor WUMEN, hielt der Trupp. Die Soldaten saßen ab. Nur die Gefangenen mussten sitzen bleiben. Die großen Tore des mittleren Durchgangs wurden geöffnet. Hintereinander führten die Soldaten die Pferde durch einen Tunnel. Dann folgten die Gefangenen und der Kommandeur, die zwei Novizen und zum Schluss die vier Shaolin-Mönche.

Shi Yan war beeindruckt von der Größe und von der Tiefe des Mittagstores, und noch mehr beeindruckt war er von dem riesigen Hof, der hinter dem Tor lag. Soldaten, die sich schon im Inneren aufhielten, alles ausgesuchte Mitglieder der kaiserlichen Garde und des Wachpersonals, übernahmen die Pferde der Shaolin und der Novizen. Der Kommandeur rief ein paar kurze Befehle, worauf die Gefangenen recht grob von den Pferden gezogen wurden.

Quer durch den Hof verlief mit weitem Schwung ein künstlicher Flusslauf. Über diesen Fluss führten 7 Brücken. Hong Li nahm Shi Yan an die Hand und erklärte: „Dieser Fluss heißt äußerer Goldwasserfluss. Die mittlere Brücke darf nur der Kaiser überschreiten.“ Sie hob sich von den anderen ab durch gewundene Drachenfiguren. „Links und rechts von der Kaiserbrücke sind zwei Prinzenbrücken. Wiederum rechts davon ist die Brücke für die Beamten, und links dürfen nur Kommandeure und Generäle den Fluss überqueren. Die letzten zwei äußeren Brücken sind für die Besucher des Kaisers.“ Hong Li zog an Shi Yan. „Wir gehen über die Prinzenbrücke, und als mein Freund darfst du mit mir gehen.“

Die Soldaten führten die Pferde gleich nach links, durch ein Tor, hinter dem sich wohl die Stallungen und Unterkünfte der Soldaten befanden. Mit etwas Abstand hinter Hong Li folgten die Shaolin links neben der Prinzenbrücke, und ganz außen überquerten die Gefangenen und ihre Wächter die Brücke.

Zuletzt folgte der Kommandeur. Der Onkel von Hong Li, der Gefangene Yun Reng, beschwerte sich lauthals, weil er nicht über die Prinzenbrücke gehen durfte, wo er hier doch der einzige wahre Prinz sei, und Hong Li war offiziell noch nicht zum Prinzen ernannt und würde hierdurch die Zeremonie der Goldwasser-Brücke mit den Füßen treten. Der Kommandeur trieb ihn an, sodass er stolperte und fast hinfiel.

Nach der Brücke gingen alle auf das Tor der Höchsten Harmonie TAI HE MEN zu. Mittig war eine breite Rampe, über die nur der Kaiser in seiner Sänfte getragen werden durfte. Links und rechts davon waren breite Treppenstufen für alle anderen angeordnet.

Der Übergang vom öffentlichen Hof zum Inneren Hof ging durch dieses Torgebäude, das sich quer und von der Größe her sehr beeindruckend, um nicht zu sagen einschüchternd, dem Besucher in den Weg stellte. Dieser Übergang wurde außerdem noch bewacht von zwei riesigen bronzenen Löwen, die links und rechts neben den Treppen standen.

Hong Li hatte Shi Yan noch immer an der Hand. Er spürte seine Angst und auch wie eingeschüchtert er war. Doch was sich nun auf tat, das verschlug Shi Yan den Atem. Der Innenhof, in den sie nun kamen, der war so groß, dass mindestens 100 000 Menschen darauf Platz finden konnten. Das überstieg alles, was Shi Yan je gesehen hatte. Und die Halle, auf die sie nun zugingen, die Halle der Höchsten Harmonie TAI HE DIAN, war noch viel, viel größer als das Torhaus davor.

Alle Mitglieder dieser kleinen Gruppe schritten über den Platz. Obgleich Hong Li am liebsten rennen und Shi Yan am liebsten davonrennen wollte. Nur die Gefangenen wurden von ihren Bewachern mit Fleiß aus dem Schritt gebracht, um anzuzeigen, in welch einer Lage sie waren, nämlich angekettet.

Je näher sie kamen, umso größer wurde die Anspannung von allen Personen. Außer Yun Reng, der sich lauthals darüber beschwerte, welches Unrecht ihm angetan wurde. Sein Mitgefangener, der Präfekt von LINFEN Fuca, schien sich dagegen mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Die Halle der Höchsten Harmonie war auf drei überdimensionalen Sockelstufen aufgebaut. Auf der obersten Stufe war die Halle mit 12 Säulen in der Länge und jeweils sechs Säulen in der Tiefe, also auf insgesamt 72 Säulen aufgestellt. Die äußeren Säulenreihen waren mit weißem und gelbem Trauerflor verschlossen. Dahinter war der Kaiser Kang Xi aufgebahrt, bis er nach ZUNHUA in der Provinz HEBEI, östlich von PEKING, zu den Qing-Gräbern überführt und dort beigesetzt werden sollte.

 

Hong Li erklärte Shi Yan, dass dort auch der Platz war, an dem er von einem Bären angegriffen worden war. Es war das Lieblingsjagdgebiet von Kaisers Kang Xi, und er soll den Platz seiner Grabstätte so ausgesucht haben, indem er einen Pfeil in die Luft schoss und erklärte, dass dort, wo der Pfeil die Erde berührt, er begraben sein möchte. Seitdem wurde an seinem Grabmal gebaut, und inzwischen war es auch fertiggestellt.

Erst nach der Bestattung von Kaiser Kang Xi konnte die Zeremonie der Inthronisierung des neuen Kaisers erfolgen. Kang Xi selbst hatte Hong Lis Vater als seinen Nachfolger bestimmt. Insofern waren die Machtverhältnisse noch vor seinem Tod geklärt worden. Nur der Bruder von Hong Lis Vater, Yun Reng, wollte sich der Entscheidung des alten Kaisers nicht beugen und rebellierte dagegen. Sein eigener Vater, der verstorbene Kaiser Kang Xi, hatte ihn enterbt, weil er ungehorsam gegenüber seinem Vater war.

Sie kamen an die erste Stufe. Mittig vor der Halle überwand eine große Rampe die enorme Höhe. Jetzt erst konnte Shi Yan erkennen, dass die Rampe drei große Steinplatten waren, auf denen jeweils neun Drachen sehr plastisch eingemeißelt waren. Links und rechts konnten die Träger die Sänfte über kleine Stufen tragen. Die Sänfte selbst flog über die Drachen. Links und rechts neben der Rampe waren wieder zwei breite Treppenanlagen, über die die Gruppe nach oben kam. Je höher sie kamen, umso deutlicher konnte man den neuen Kaiser, Hong Lis Vater Yong Zheng, auf einem Thron sitzen sehen. Daneben saß seine Hauptfrau, die neue Kaiserin Xiao Sheng Xian, Hong Lis Mutter. Rechts daneben, auf der obersten Stufe drängten sich Beamten und sonstige Würdenträger. Eine Stufe darunter saßen die Nebenfrauen und Eunuchen. Auf der gegenüberliegenden Seite standen oben die Generäle und Kommandeure und darunter Soldaten der kaiserlichen Garde.

Der Shaolin-Mönch Shi Xi trat als Erster vor den Kaiser. Er kniete nieder und berührte neunmal hintereinander mit der Stirn den Boden. Es war eine Ehrerweisung dem Kaiser gegenüber und ein Zeichen der Untertänigkeit. Die drei anderen Shaolin taten es ihm gleich. Hong Li raunzte zu Shi Yan: „Das nennt man KOTAU, das musst du nachher auch tun.“ Shi Xin berichtete über das Geschehene, über die List des Kommandeurs mit der Aufteilung der Gruppe, über ihre Passbesteigung und die Anreise über CHANGZHI. Er berichtete über die Tapferkeit und über das Durchhaltevermögen von Hong Li und Shi Yan und auch von Baihu, der die ersten 500 km nur zu dritt durch das Feindesland gezogen war, ohne dass man sie entdeckt hatte. Dann trat der Kommandeur vor. Er klopfte sich einmal mit der Faust gegen die Brust und berichtete dem Kaiser, warum er die Gruppe geteilt hatte. Er spürte die Unruhe in LINFEN und das Zusammenziehen der gegnerischen Truppe. Er berichtete über die List am noch offenen Flussteil des FENHE und von der Sorge, dass er von zwei Gruppen in die Zange genommen werden könnte. Als er erzählte, wie sich die gegnerischen Truppen gegenseitig überfielen, lachte der Kaiser laut auf. Nichts wurde ausgelassen, auch wie sie die zwei gegnerischen Kundschafter ausschalteten und sich so einen Zeitvorteil schaffen konnten, bis zum Überfall, als die Schergen unvorsichtig den Fluss überquerten und viele im Eis eingebrochen oder die Pferde ausgerutscht und zu Sturz gekommen waren. Der Kaiser sog das Erzählte in sich auf und genoss es sichtlich. Als der Kommandeur die Gefangennahme der Anführer, Präfekt Fuca und Yun Reng, verkündete, verzog der Kaiser keine Miene. Er hörte aufmerksam zu, und auch als der Kommandeur von dem Bestechungsversuch von Yun Reng erzählte, blieb er ruhig. Der Kommandeur schloss seinen Bericht mit seiner Entscheidung, die noch lebenden Gefangenen freizulassen, bis auf die Anführer des Überfalls. Der Kaiser nickte zufrieden.

Hong Li vermied bisher jeden Blickkontakt zu seinen Vater oder zu seiner Mutter. Es war den kaiserlichen Kindern untersagt, den Kaiser als Vater anzusprechen. Die Zeremonie der Begegnung war schon als Kleinkind einstudiert worden. Shi Yan dagegen konnte nicht ruhig bleiben. Er blickte in die Runde und war noch immer erstaunt von der Dimension der Halle und des Platzes.

Nun sollten sich die Gefangenen zu den Vorwürfen äußern und sich verteidigen. Zuerst der Scherge Fuca. Wahrheitsgetreu erklärte er, dass er von seinem Lehensherrn Yun Reng den Auftrag erhielt, nach Hong Li Ausschau zu halten und ihn in LINFEN so lange festzuhalten, bis er nicht mehr rechtzeitig bis zur Bestattung des alten Kaisers und der Inthronisierung des neuen Kaisers in Peking sein konnte. Leider erfuhr er zu spät, dass Hong Li in der Stadt und auch schon weitergezogen war. In diesem Fall sollte er seine Mannschaft zusammenziehen und dem Verwalter Yun Reng entgegenreiten. Yun Reng wollte aus dem Norden auf den Trupp des Kaisers stoßen und ihn von Süden her in die Zange zu nehmen. Fuca beteuerte, dass er Hong Li als Gast aufnehmen wollte, nicht als Gefangenen. Für sein Wohl und für seine Sicherheit hätte er gebürgt.

Yun Reng bestritt jede Beteiligung an einem Überfall oder gar einer Entführung Hong Lis und behauptete, dass er nach LINFEN aufgebrochen war, um Hong Li vor einer Gefangennahme zu schützen und um ihn nach Peking zu begleiten. Weshalb hätte er sonst die eigenen Männer aus LINFEN beschießen sollen? Aussage stand gegen Aussage. Der neue Kaiser kannte aber seinen älteren Bruder Yun Reng sehr gut. Er hatte sich oft schon gegen seinen Vater aufgelehnt und gegen ihn gearbeitet. Deshalb verlor Yun Reng seinen Titel Prinz Limi vom ersten Rang. Nur aus Gnade hatte er die Provinz SHANXI zur Verwaltung erhalten, und die Entwicklung in dieser Provinz war von Korruption und Unruhen geprägt.

Als er alle Erzählungen gehört hatte, wandte sich der Kaiser an Baihu. Er bedankte sich dafür, dass er seinen Sohn auf 500 km durch Feindesland erfolgreich begleitet hatte. Er richtete auch dem Abt Chen Zheng Wei seinen Dank aus, dafür, dass er seinen besten Mann für diese Reise abgestellt hatte. Dann wandte er sich an Hong Li. Hong Li war richtig erschrocken. „Ich bin froh, dass du rechtzeitig zur Bestattung deines Großvaters kommen konntest und dass du meiner Inthronisierung beiwohnst. Du musst mir alles erzählen, was du in FA MEN SI gelernt hast und wie es dir dort ergangen ist. Nun stell mir aber doch bitte den Mann neben dir vor. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du einen Freund in FA MEN SI gefunden hast.“

Shy Yan brachte keinen Ton über die Lippen. Es war ihm peinlich, dass Hong Li ihn über den Klee lobte. Der Kaiser dankte auch ihm für die Freundschaft und für seine Tapferkeit. Der Kaiser wusste natürlich auch, wie sehr sich seine Frau auf dieses Wiedersehen gefreut hatte und endete diese Audienz mit den Worten: „Geh nun zu deiner Mutter, und erzähle auch ihr, was du alles erlebt hast.“ Der Kaiser ging zu seiner Sänfte, die von sechs Eunuchen getragen wurde. Die Kaiserin folgte im Abstand, mit Hong Li im Arm.

Während die Soldaten die Gefangenen abführten, gingen Shi Yan und Baihu mit Shi Xin quer über den Hof, in Richtung Stallungen zurück. Dort erhielten sie eine Unterkunft. Es wurde langsam Abend. Der Weg führte über die Stadtmauer, die einen Blick in die alte Stadt und auch in den hinteren Palastbereich freigab. Tausende von Fackeln brannten in den Gassen. PEKING war die Stadt mit der größten Menschenansammlung auf engstem Raum, und Shi Yan war gespannt auf die Erlebnisse hier. Aber nicht jetzt. Shi Yan war so müde wie noch nie, und auch Baihu schlief ein, bevor sein Kopf in das Kissen fiel. Am nächsten Morgen schien die Sonne. Es war Shi Yan gar nicht aufgefallen, dass der gesamte Innen- und Außenhof vom Schnee geräumt war. Nur der Goldwasser-Fluss war zugefroren. Ein guter Platz zum Schlittern. Das Frühstück durften sie in der Kantine der Soldatenunterkunft einnehmen, wo sie schon von den Shaolin-Mönchen erwartet wurden. Shi Yan wollte hören, was mit den Gefangenen passieren würde. Der Kommandant setzte sich zu ihnen und erklärte, dass in der Zeit bis zur Inthronisierung kein Urteil gefällt würde und sie so lange im Kerker ausharren müssten. Baihu wollte wissen, wie die Zeremonien der Bestattung und die Inthronisierung abliefen. Hierzu konnte der Kommandant aber keine Auskunft geben. Dies werde gerade in den Ministerien geplant und mit dem Kaiser abgesprochen. Es würde wohl noch eine Woche dauern, dann müsste der Kaiser überführt werden und dort der neue Kaiser eine Woche trauern. „So schnell werdet ihr hier nicht wieder fortkommen, denn Hong Li muss, auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters, bis zur Inthronisation dabei sein.“

Noch am Vormittag bat die Kaiserin, durch einen Eunuchen, die Shaolin und Shi Yan in ihren Palast. Der Weg dorthin war sehr verwinkelt. Es ging durch enge Gassen, über einige Geisterstufen und an Geisterwänden vorbei, in die Gemächer der Kaiserin Xia Sheng Xian. Die Kaiserin saß auf ihrem Thron, rechts standen Hong Li und einige Beamte die alles Gesagte protokollierten. Links standen einige Zofen, Eunuchen und Nebenfrauen. „Ich wollte mich persönlich bei euch bedanken, dass ihr meinen Sohn auf dieser gefährlichen Reise begleitet habt. Vor allem aber auch bei Shi Yan und Baihu. Hong Li hat mir viel aus dem Klosterleben in FA MEN SI und über seine Arbeiten dort berichtet. Hong Li ist begeistert von seinem Lehrer Baihu. Am glücklichsten ist Hong Li aber über die Freundschaft, die ihm im Kloster FA MEN SI begegnet ist. Und er hat auch den Abt selbst als einen Freund mit eingeschlossen. Der treueste Freund aber, so berichtete mir Hong Li, ist Shi Yan.“

Mit einer Handbewegung der Kaiserin stürmten zwei Eunuchen in die hinteren Räume. „Als äußeres Zeichen meiner Dankbarkeit darf ich euch ein Geschenk machen.“ Sie klatschte in die Hände, da ging der Vorhang zu den hinteren Räumen auf, und die zwei Eunuchen führten zwei Pferde herein. „Ich hörte, dass ihr beide kein eigenes Pferd habt und dass du, Shi Yan, das Reiten erst auf dieser Reise erlernt hast. Das hier sind FERGANA-Pferde, Nachkommen der legendären Himmelspferde TIAN MA. Die besten, aus des Kaisers Gestüt. Sie gehören jetzt euch. Behandelt sie gut, dann werden sie euch ebenfalls gute Freunde sein.“ Baihu und Shi Yan waren sprachlos. Mit einer weiteren Handbewegung entfernten sich die Beamten, Eunuchen und Nebenfrauen. „So, der offizielle Teil ist dokumentiert. Nun möchte ich noch ein paar Worte mit Baihu und Shi Yan sprechen. Und dann wird Hong Li sicher seinen Freunden noch den Palast und die Gärten zeigen wollen. Die Shaolin können die Pferde schon mit zu den Stallungen nehmen, wenn es euch recht ist.“

Was für ein Geschenk … Baihu und Shi Yan hatten schon von den Himmelspferden gehört, und selbst auf alten Aufzeichnungen im Kloster FA MEN SI waren sie schon dargestellt. Es waren hochbeinige Schimmel mit einer leichten Tigerscheckung. Natürlich waren die Mönche im Kloster FA MEN SI besitzlos. Das Geschenk war also nun Eigentum des Klosters. Jedes Pferd des Klosters hatte aber seinen eigenen, persönlichen Betreuer, der es pflegte und versorgte und der es dann auch ritt. Insofern durften sie die Pferde als persönliche Geschenke annehmen.

Nachdem die drei Shaolin und alle übrigen Beamten und Eunuchen den Raum verlassen hatten, bot eine Zofe eine Tasse Tee an. Hong Li war sichtbar glücklich, und Shi Yan und Baihu mussten der Kaiserin all das noch einmal erzählen und bestätigen, was Hong Li ihr schon erzählt hatte. Vor allen über die Arbeiten am Drachennest und über den Drachenkult. Sie erzählten von ihren Vorbereitungen auf die Meisterprüfung in KAN YU und von ihrer Reise nach Peking. Zur Mittagszeit brachten die Eunuchen kleine Happen. Die Kaiserin schien die Erzählungen der drei aufzusaugen. Als Baihu von dem Erlebnis in LINFEN erzählte und von der ersten Ohrfeige Hong Lis von einem Mädchen, mussten alle laut lachen. Hong Li erzählte von dem angenehmen Duft, der das Mädchen umhüllte und dass ihm das so bekannt vorkam. „Ihr müsst euch vorstellen, es war eiskalt, es hat geschneit, und dann roch das so frühlingshaft nach Blüten, so rein, so unverdorben.“ Er wusste nicht, wie er es beschreiben sollte. Er war sich nur sicher, er hatte das schon einmal gerochen.

Es wurde bereits dunkel, die Fackeln wurden angezündet. In einem bronzenen Kessel wurden Kohlen und ein paar Holzscheite nachgelegt, was das Licht noch einmal aufhellte und die Wärme wohltuend im Raum verteilte. „Bevor es ganz dunkel wird, soll euch Hong Li zurück in euer Quartier begleiten. Er kann euch ja dabei etwas über den Palast erzählen.“ Damit schloss die Kaiserin die angenehme Unterhaltung. Der Weg ging durch Gärten, deren Winterpracht nicht viele Farben zeigte. Baihu konnte erkennen, dass sie sich im westlichen Teil der Verbotenen Stadt aufhielten. Also auf der Seite, auf der auch die Soldaten ihre Quartiere hatten. Beim Überqueren eines künstlich angelegten Flusses sprangen die Burschen auf das Eis und schlitterten den Lauf entlang. Auch Baihu wollte nicht über die vielen Höfe und engen Gassen zurück. Er hatte Angst, sich zu verlaufen. Also stieg auch er hinunter auf den gefrorenen Wasserlauf und schlitterte den Burschen hinterher. Unter den gebogenen Brücken über den Bach mussten sich die drei stark bücken, um nicht hängen zu bleiben. Und gerade da stürzte Baihu und blieb mitten unter der Brücke liegen. Beim Aufstehen stieß er mit Kopf an und fiel gleich noch einmal hin. Da packten ihn die Burschen mit grinsenden Gesichtern an den Beinen und zogen ihn unter der Brücke heraus. Ohne sich dazu zu äußern, schritt Baihu weiter und rutschte noch einmal aus. Da platzte es aus den beiden Burschen heraus, und auch Baihu musste laut lachen.

 

Hong Li blieb noch eine Weile bei Shi Yan und Baihu. Sie besuchten noch einmal die Pferde. „Wenn es das Wetter zulässt, werden wir morgen die Stadt zu Pferd erkunden.“ Baihu begrüßte dieses Vorhaben. Auch er war noch nicht in Peking gewesen, hatte aber schon vieles darüber gehört. Schneefall setzte ein. Hong Li hatte keine Angst, alleine in den Palast zurückzukehren. Innerhalb der Palastanlage war er absolut sicher, und außerdem kannte er jede Gasse und jede Häuserecke auf dem Weg zurück.

Der nächste Morgen war bitterkalt. Der klare Himmel versprach aber gutes Wetter. Kaiser Yong Zheng hatte inzwischen von seiner Hauptfrau erfahren, was Hong Li und sein Freund alles erzählt hatten. Er wusste auch vom Vorhaben Hong Lis, einen Ausritt in die Stadt zu machen. Er wies deshalb die drei Shaolin an die Gruppe zu begleiten. Shi Yan und Baihu freuten sich auf ihre Pferde, die schon gesattelt und gezäumt bereitstanden. „Habt ihr den Pferden schon Namen gegeben?“, fragte Hong Li. „Nein, wie hießen die Pferde denn bisher?“ „Der Stallmeister hat sie BAI TUZI und BAI LONG genannt, weil sie in den Monaten des Hasen und des Drachen geboren wurden, also Weißer Hase und Weißer Drache. Wenn ihr möchtet, dann könnt ihr ihnen aber auch andere Namen geben.“ BAI TUZI schritt auf Shi Yan zu und schnaubte an seinem Ohr. Es sah so aus, als wollte er ihm etwas sagen. Die Tigerscheckung war bei ihm weniger ausgeprägt. Seine Fellfarbe, Schweif und Mähne leuchteten blond. Die Fellzeichnung zeigte dunkle bis blaugraue Punkte.

Seine Augen hatten schwarze Ringe, als ob sie geschminkt waren. Er sah wirklich fast wie ein Schneehase aus, wie ein blonder Schneehase. BAI LONG war von der Grundfarbe mehr weißgrau. Über die Schulter hatte das Fell eine braune Scheckung. Der übrige Körper zeigte eine hellgraue Scheckung, die über die Hinterhand ins Dunkelgrau überging. BAI LONG hatte eine schwarze Mähne und einen weißgrauen Schweif. Drei Fesseln waren schwarz wie die Mähne, die linke Hinterhand dagegen war weiß. „Ich finde die Namen eigentlich passend. Mein BAI LONG soll so heißen“. „Und mein Weißer Schneehase passt auch ganz gut. Vielleicht werde ich ihn irgendwann in Blond umtaufen, in JINFA TUZI, mal sehen.“ Damit war das geregelt.

Hong Li hatte sich irgendein Pferd genommen. Er hatte kein „eigenes“, alle Pferde hier gehörten ihm bzw. dem kaiserlichen Hof. Er hatte allerdings seine Lieblinge. Die vier Shaolin und die zwei Novizen führten die Pferde auf den Äußeren Hof. Die schweren Tore wurden geöffnet, und als sie, durch das Mittagstor, den TIAN ANMEN Platz erreichten, saßen sie auf. Hong Li sprach mit Shi Xin die Route ab. Sie führte nach Norden und hinauf auf den Kohlehügel in den JING-SHAN-Park. Von dort hatte man den schönsten Blick über die Verbotene Stadt und über Peking hinweg bis hinauf in die Berge. Das Wetter war gerade richtig. Trocken, klar, aber so früh halt auch noch sehr kalt.

Der Blick war dafür spektakulär. Sie ritten weiter nach Nordosten und besuchten den Konfuzius-Tempel. Hong Lis Vater schätzte Konfuzius sehr und sammelte viele seiner Werke. Er erweiterte die Studierräume der Schule, in der alle Beamten seit Anfang des 14. Jahrhunderts lernen mussten. 195 riesige Steinstelen wurden dort aufgestellt, um die Namen der erfolgreichen Kandidaten des höchsten Beamtenexamens aufzunehmen. Über 50 000 Namen waren dort schon eingemeißelt. „Irgendwann werde auch ich dieses Examen absolvieren, und dann wird auch mein Name hier eingemeißelt. Und dann werde ich entscheiden, wer das Examen bestanden hat und wer nach mir hier eingemeißelt wird. Ist das nicht komisch, oder?“ Shi Yan wusste noch nicht, was er einmal machen wollte. Er würde auf alle Fälle im Kloster FA MEN SI bleiben wollen und dort vielleicht der Drachenmeister werden. Die Mönche im Konfuzius-Tempel boten Hong Li eine Tasse Tee an, der die Gäste etwas aufwärmte. Sie ritten weiter nach Süden. Baihu erkannte die Verbotene Stadt an den hohen Mauern und an den Giebeln der verschiedenen Hallen. Sie kamen nur im Schritt durch die engen Gassen der alten Stadt und mussten aufpassen, dass sie keine Passanten umritten. Einen kleinen Stau gab es, als vor der Gruppe ein Ochsenfuhrwerk in eine noch engere Seitengasse abbiegen wollte und dabei stecken blieb. Die vier Shaolin mussten helfen den Karren um die Ecke herumzuheben. Überall dort, wo Hong Li erkannt wurde, wurde er auch mit viel Ehrerbietung behandelt. Man konnte sehen, er war beim Volk sehr beliebt. Am Nachmittag kamen sie zum TIAN-TAN-Park, in dem auch der Himmelstempel stand. Shi Yan und Baihu standen mit offenem Mund vor der kreisrunden Tempelanlage.

Hong Li ließ absitzen, nahm Shi Yan an die Hand und sprang an der ebenfalls kreisrunden Hofmauer entlang. Er stellte Shi Yan ab und rannte weiter in die Runde, bis ihn Shi Yan nicht mehr sehen konnte. Dann hörte er Hong Li reden: „Shi Yan ist für immer und ewig mein bester Freund … Freund … Freund …“, hallte es nach. „Wo bist du, Hong Li? Ich höre dich reden, als wärst du direkt neben mir.“ „Ich bin weit weg von dir und doch so nahe.“ Da verstand Shi Yan. Er stand vor einer Flüsterwand und rief: „Hong Li ist mein Freund, und ich bin der Freund von Hong Li, und ich werde ihm ewig treu und ehrlich zu ihm sein.“ Da kam Hong Li wieder zurück. Sie fielen sich in die Arme. „Der Himmel hat diesen Schwur gehört und besiegelt.“

Sie saßen wieder auf und bogen nach Osten ab. Schnell kamen sie auf die Prachtstraße, die in einer geraden Linie direkt nach Norden führt, über den TIAN-ANMEN-Platz bis vor das Mittagstor. Viel schneller als gefühlt, ging der Tag zu Ende. Sie brachten die Pferde in die Stallungen, wo Baihu und Shi Yan sehr gerne bei der Versorgung ihrer Pferde halfen. Morgen sehen wir uns wieder, versprach Hong Li, und verschwand über den Äußeren Hof und über die Prinzenbrücke durch das Tor der höchsten Harmonie.

Den ganzen Morgen beschäftigten sich Baihu und Shi Yan mit den neuen Pferden. Shi Xin zeigte ein paar Tricks. BAI TUZI nahm die Lehrstunde mit Interesse auf, wogegen BAI LONG störrisch bockte. Hong Li traf sie zu Mittag in den Stallungen und verfolgte die Reitertricks von Shi Xin. „Man kann sehen, dass BAI TUZI und Shi Yan ein Herz und eine Seele sind. Wie geschaffen füreinander. Du, Baihu, du wirst mit BAI LONG etwas mehr Arbeit haben.“ Das war die Einschätzung von Hong Li. Da hörten sie Lärm hinter der Mauer. Sie stiegen hoch auf die Mauerkrone und konnten von da aus auf den Hof vor dem Mittagstor sehen. Eine Delegation hatte Erlaubnis bekommen, den Äußeren Hof zu betreten. Dort mussten sie sich ausweisen.