Tag der Drachen

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Auf der Tribüne sah er gleich seine Mutter. Nachdem er sich dem Herzog Fuca zu erkennen gegeben hatte, schlich er sich von hinten an und bedeckte mit seinen Händen die Augen der Kaiserin. Diese war kurz erschrocken, erkannte dann aber gleich ihren Sohn Hong Li. „Wo ist Xiao Xian?“, fragte er. „Sie vertritt sich die Beine und wollte etwas zu essen holen. Da kommt sie ja schon.“ „Verrate mich bitte nicht.“ Hong Li versteckte sich ein paar Plätze weiter hinten. Als sich Xiao Xian wieder gesetzt hat, stellte er sich hinter sie und bedeckte nun ihre Augen. „Was hast du dir vom Affenkönig gewünscht?“ „Ich wollte meinen Freund wiedersehen. Der muss aber hier irgendwo als Affe herumspringen, verängstigte Mädchen kitzeln und an der Kleidung zupfen.“ „Na, und du siehst, so schnell kann der Affenkönig deine Wünsche erfüllen.“ Hong Li setzte sich neben sie und schob ihre Kapuze nach hinten, um die geliehene Blüte wieder ins Haar zu stecken.

Und wieder roch er diesen Duft von Frühling und Natur. Er hatte sich in diesen Duft verliebt. Er hatte sich in dieses Mädchen verliebt. Hong Li hob die Kapuze vorsichtig über das Haar und zog dabei Xiao Xian zu sich her. Und Xiao Xian lehnte sich an ihn. Eine Explosion von Gefühlen fuhr durch die beiden Körper. Ohne Worte klebten sie aneinander. Die Kaiserin spürte das, und auch Herzog Fuca sah dies und stupste seine Frau an.

Der Drachenzug befand sich schon auf dem Rückweg. Kurz vor der Tribüne lenkte der Zug in die Straße ein, die auf das Klostertor zuführte. Die Akteure waren nach wie vor leidenschaftlich dabei, und die Bevölkerung war begeistert. Mit den letzten Metern gaben die Drachen noch einmal alles. Feuerwerk und Böllerschüsse kurz vor dem Tor, um dann in der Dunkelheit leise zu verschwinden.

Der Feuerdrache drehte sich vor dem Tor noch einmal um, spie aus allen Rohren noch einmal Feuer und ging, nachdem er sich noch einmal aufgestellt und seine Flügel ausgebreitet hatte, rückwärts durch das Tor. LONG KAN spuckte auch noch einmal in die Runde und leerte alle seine Wasserbeutel. Zuletzt drehte sich LONG ZHEN noch einmal dem Publikum zu, um sich dann langsam rückwärts durch das Tor zu quetschen. Mit einem lauten Böller und einem finalen Feuerwerk war der Zug beendet.

Die übrigen Kostüme mischten sich anfangs unter die Besucher, um dann aber auch hinter die Klostermauer zu kommen, sich umzuziehen und mitzufeiern. Die Musikgruppen verteilten sich in der Region oder gingen dorthin, wo ihre Landsleute sich aufhielten.

Chen Zheng Wei war mehr als zufrieden. Nein, er war richtig stolz. Er begleitete die Kaiserin und die Familie Fuca noch bis zu den Gasträumen des Klosters, um sich dort zu verabschieden. Vor den Toren des Klosters wurde noch lange gefeiert und getrunken. Am nächsten Morgen hatte so mancher Mönch und auch mancher Gast einen Brummschädel. Aber alle waren sich einig, dieser LONG TAI TOU 1723 war der schönste seit vielen Jahren.

Chen Zheng Wei hatte nicht viel geschlafen. Er war noch so aufgeregt. Er konnte lange bei der Kaiserin sitzen, und er konnte sich mit vielen Ministern unterhalten. FA MEN SI würde mit diesem LONG TAI TOU und mit seinem Drachenkult in aller Munde bleiben. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Morgengebet war aufgrund des Festes verschoben. Trotzdem waren schon einige Mönche auf, um mit den Aufräumungsarbeiten zu beginnen. Da sah er Hong Li und Xiao Xian am Büro vorbeischleichen. „Wo wollt ihr denn hin?“, fragte er. Hong Li erschrak. „Ich möchte Xiao Xian das Drachennest und später die Klostergewölbe zeigen. Bitte erlauben Sie es mir, lieber Abt.“ „Nun, nachdem du mich so freundlich gefragt hast, will ich es euch gestatten. Aber weiß die Kaiserin davon?“ „Ach, die schläft noch. Würden Sie es ihr bitte ausrichten?“ Und schon waren sie weg.

Chen Zheng Wei war natürlich aufgefallen, dass sich Hong Li gestern vom Zug entfernt hatte, das gefiel ihm gar nicht. Und das Drachennest und die heiligen Gewölbe waren eigentlich geheim. Aber was sollte er machen? Hong Li war des Kaisers Sohn, Prinz Bao, und der wollte gestern lieber bei seiner Mutter und bei seiner Freundin sitzen. Heute noch Freundin, morgen vielleicht Kaiserin.

Die Kaiserin war mit Xiao Xian in den Gästeräumen des Klosters untergebracht. Auch Herzog Fuca mit seiner Frau Lady Gioro nahm die Vorzüge eines gewärmten Gastzimmers im Kloster gerne an. Es war eine gute Idee von Lady Gioro, die Kaiserin zu fragen, ob sie das Fest in FA MEN SI mit ihnen besuchen wollte. Bei dieser Gelegenheit kam Xiao Xian wieder nach Hause zu ihren Eltern und von dort aus direkt zu ihrem Freund Hong Li.

Nun war die Kaiserin aber etwas erbost. Xiao Xian wurde von ihr als Zofe ausgebildet und sollte bei der Ankleide in ihrer Nähe sein und ihr helfen. Die Kaiserin ließ Lady Gioro rufen und fragte nach Xiao Xian, die natürlich nicht wusste, wo ihre Tochter sich aufhielt. „Dann wird mir jetzt die Mutter meiner Zofe helfen. Lady Gioro, beginnen wir mit den Haaren.“ Diese Zofenarbeit machte Lady Gioro gar nichts aus. Im Gegenteil. So konnten sie sich sehr intim unterhalten.

Nachdem Lady Gioro die Kaiserin nach ihrer Tochter und deren Geschicklichkeit ausgefragt hatte, kam sie auch gleich zu Hong Li, der offenkundig in Xiao Xian vernarrt war. „Oder ist da mehr?“, fragte sie die Kaiserin. „Ich kenne meinen Sohn ganz genau, und ich glaube, da ist mehr als nur Vernarrtheit. Hong Li ist sehr pflichtbewusst und steht mit beiden Beinen auf dem Boden. Er spielt nicht mit Gefühlen, sondern meint es ernst. Er mag Xiao Xian ganz gewiss sehr. Aber wie sieht das mit Ihrer Tochter aus?“

Lady Gioro hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter. Mehr wie Freundinnen, die keine Geheimnisse voreinander hatten. „Xiao Xian hatte noch keinen Freund. Sie ist in dieser Hinsicht noch etwas unbedarft. Dennoch mag sie Hong Li sehr, und sie scheint seine Berührungen zu genießen. Sie können sich gut riechen, was ja in einer Ehe sehr wichtig ist. Xiao Xian hat aber viele Interessen, und ich glaube, ihr Herz ist nur durch gemeinsame Interessen zu gewinnen. Xiao Xian ist sehr sparsam und naturverbunden. Ihr Tick, sich nur mit Blumen zu schmücken, kommt aus ihrer innersten Überzeugung. Xiao Xian hasst Tand und Prunk. Sie sucht in ihrem Gegenüber das reine Herz und den wahren Verstand. Sie lässt sich durch Äußerlichkeiten nicht blenden.“

Während Lady Gioro erzählte, bürstete sie die langen Haare der Kaiserin, flocht einen Zopf und wickelte diesen um den Kopf der Kaiserin. „Das machen Sie gut. Nun habe ich eine neue Frisur. Steht mir das, oder wirkt das nicht zu jugendlich?“„Majestät, kann es uns Frauen schaden, wenn wir etwas jünger aussehen?“ „Ja, Sie haben recht. Ich bin zwar die Hauptfrau von Kaiser Yong Zheng, aber die Konkurrenz schläft nicht.“ Die Frauen unterhielten sich vollkommen entspannt, fast wie Freundinnen. Die Kaiserin war dankbar. Im Palast hatte sie nur Konkurrentinnen, die jeden Fehler ausnutzten, um sich selbst näher an den Kaiser zu bringen.

Sie wusste, wie wichtig gemeinsame Interessen in einer Ehe sind. Der Kaiser legte großen Wert auf ihre Meinung, und oft kam er nur zu ihr, weil er eine Lösung für ein Problem suchte. Nachdem die Kaiserin angekleidet und auch Lady Gioro bereit war, gingen sie gemeinsam zum Frühstück. Bevor sie den Raum verließen, fragte die Kaiserin: „Eine Frage noch, passen unsere zwei zusammen für ein ganzes Leben?“ Lady Gioro antwortete diplomatisch: „Die Zeit wird es uns zeigen. Aber ich vertraue darauf, dass das, was zusammengehört, auch zusammenkommt.“ Die Kaiserin nickte, und beide Frauen fühlten: Sie verstanden sich wirklich gut.

Baihu und Shi Yan hatten sich wieder den Gewölben zugewandt, als Hong Li und Xiao Xian die Treppen herunterstürzten. „Wir waren gerade am Berg … ja, mit dem Einverständnis vom Abt … da oben ist alles in Ordnung. Nun zeige ich Xiao Xian das übrige Kloster. Xiao Xian wird morgen wieder nach Peking reisen. Ich hoffe, ihr habt Verständnis, wenn ich heute freinehme.“ Sie hatten Verständnis. Shi Yan konnte zwar nicht verstehen, dass es für Hong Li wichtiger war, mit einem Mädchen herumzutollen, als die interessanten Schätze des Klosters zu sichten, aber Baihu hatte ihm schon erklärt, was hier wohl abläuft zwischen Mann und Frau. Shi Yan wollte nie heiraten. Er wollte Drachenmeister werden und vielleicht auch einmal ein Abt in einem Kloster wie FA MEN SI. Mädchen, Frauen würden ihn dabei nur ablenken.

Am Abend trafen sie sich wieder. Baihu und Shi Yan versorgten gerade ihre Pferde BAI TUZI und BAI LONG in den Stallungen hinter dem Kloster. „Wo ist Xiao Xian?“, fragte Shi Yan. „Die ist bei ihren Eltern oder bei meiner Mutter. Koffer packen für die Abreise morgen früh. Schade, dass wir nicht mehr Zeit haben. So wie es aussieht, werden wir uns erst wieder zum kommenden LONG TAI TOU sehen. Und ich bin darüber sehr traurig.“ Shi Yan legte den Arm um Hong Li und tröstete ihn. „Wenn wir in einem halben Jahr unsere Prüfung erfolgreich hinter uns haben, dann können wir ja mal kurz nach Peking reiten und Xiao Xian besuchen.“ Die Stalltüre ging auf, und die drei Shaolin kamen mit ihren Pferden herein. „Peking? Wann geht es nach Peking? Wir sind dabei“, rief Shi Xi „Und ich bin auch dabei“, ergänzte Baihu. „Aber, meine lieben Schüler, erst nach bestandener Prüfung.“ Der Alltag kehrte wieder im Kloster FA MEN SI ein. Tausende von Schriften und Kartons mussten gesichtet werden. Und nebenbei die Arbeit am Berg und dann die Schule mit der Prüfung, die immer näher kam. Das KAN YU mit seinen 4 Lehren SAN HE, WU XING, BA ZHAI und SAN YUAN, diese Formeln konnten die Klassenbesten manchmal besser als die Lehrer selbst. Nur, Hong Li schien sich etwas zu verändern. Er war oft traurig und zweifelte an sich, was früher überhaupt nicht der Fall war.

Er zweifelte aber nicht nur an sich, er zweifelte auch an KAN YU. An dem Medium CHI. An dieser Energie, die er nicht spüren konnte, die keiner spüren konnte und die aber angeblich so viel Wirkung auf Menschen hatte. Immer öfters gab es Diskussionen in den Klassen, wenn die Lehrer CHI als gegeben annahmen und Hong Li sie hinterfragte. Er suchte etwas, woran er sich festhalten konnte, woran er CHI erkennen konnte. Die Arbeit am Drachennest hielt er für unnötig, für Zeitverschwendung. Er sah zwar die Drachenschuppen und die Eierschalen, aber die Drachen waren fort. Ausgestorben. Nicht mehr da, und sie würden auch nicht mehr kommen.

 

Chen Zheng Wei kannte diese Zweifel. Er selbst hatte auch so eine Zeit, erst mit seiner Reise in den Himalaya hat er das CHI gefunden und auch wieder seinen Glauben. Er konnte Hong Li nicht helfen. Er selbst musste das Chi erfahren. Er riet ihm, die Prüfung abzusagen und erst diese Krise zu bewältigen. „Geh in die Welt hinaus und suche das CHI. Wenn du es gefunden hast, dann kannst du gerne wiederkommen.“

Nach ein paar Wochen fand Shi Yan einen Brief auf seinem Bett:

„Lieber Shi Yan. Ich muss mein CHI finden. So kann ich nicht glücklich werden. Ich störe den gesamten Schulablauf, ja das ganze Kloster, mit meiner Unwissenheit und meinem Unglauben. Ich werde nun das Chi suchen, und erst, wenn ich es gefunden habe, werde ich wiederkommen. Bitte sag meiner Mutter und Xiao Xian, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Shi Xin und die zwei anderen Shaolin begleiten mich. Alles Gute und viel Glück bei deinen Prüfungen, dein Freund Hong Li. Ach ja … und sage Baihu bitte, ich habe mir BAI LONG ausgeliehen. Ich bringe ihn wohlbehalten wieder zurück.“

Shi Yan rannte zu Baihu, der von den Shaolin aber nichts wusste. Zusammen gingen sie zum Abt. Der beruhigte sie und bestätigte: „Keine Angst, Hong Li wird sein Glück finden. Ich habe damals das Gleiche gemacht.“

1.10 Die Suche nach dem CHI

Hong Li bereist ganz China im Frühjahr 1724

Hong Li und die Shaolin ritten zuerst nach LHASA. Dort trafen sie sich mit dem 7. Dalai Lama Kelsang Gyatsho, der genauso alt war wie Hong Li, jugendliche 13 Jahre. Der Dalai Lama, „Führer der Lebewesen und Verbreiter der Lehre“, wertete den Besuch des Prinzen Bao als Staatsbesuch, der die Freiheit des tibetanischen Volkes bestätigen sollte. Als der Kaiser Yong Zheng dies erfuhr, war er sehr erbost. Als Regierungsinstanz errichtete er daraufhin einen Ministerrat. Der Vorsitzende und sein Stellvertreter wurden vom Kaiser berufen. Nunmehr stand Tibet unter der direkten Oberhoheit des Kaisers Yong Zheng. Das alles interessierte Hong Li aber nicht. Der siebte Lama konnte ihm nicht helfen. Politische Absichten hatte man ihm unterstellt, den Glauben an CHI konnte er ihm aber nicht vermitteln. Auch der siebte Lama schien nicht so recht an CHI zu glauben.

Sie ritten weiter nach Westen, am Fluss LHASA entlang, immer höher in den Himalaya hinein. Den Fluss YARLUNG TSANGPO entlang und weiter am Fluss DANG QUEZANGBU auf der Nordseite des Himalayas, dessen 8000er-Berge eine spektakuläre Kulisse bildeten. Der Sauerstoff wurde knapper. Sie waren auf der Nordseite des Himalaya auf ca. 5000 Höhenmeter. Hong Li wollte unbedingt den heiligsten Berg KAILASH sehen und, wie sich das für einen gläubigen Buddhisten gehört, ihn umrunden. Davor mussten sie fast den ganzen Himalaya entlang. Ab NGARI ritten sie nach Norden bis an den AKSAI-CHIN-See. Eine menschenleere, öde Gegend. Hong Li war erschrocken und sehnte sich wieder nach bewohnten Gebieten.

Shi Xin, der, ohne dass es Chen Zheng Wei bemerkte, aus dem Archiv Kartenmaterial mitgenommen hatte, wusste nur, dass weiter im Norden die Seidenstraße über die Stadt HO TAN führte. Das sollte das nächste Ziel sein, wohl wissend, dass sie einen 6000 m hohen Pass überqueren mussten. Mit den Herausforderungen gewann Hong Li wieder Selbstvertrauen. Die vier Reiter machten sich auf zu neuen Taten. HOTAN war nach 200 km und nach großen Anstrengungen am Pass erreicht. Die Pferde waren zäh und ausdauernd. Und BAI LONG und Hong Li hatten sich inzwischen auch richtig angefreundet. „HOTAN, eine Stadt mitten in der Wüste, aber eine Stadt, die 1275 auch Marco Polo schon besucht hat, auf dem Weg zum Hofe des Kublai Khan in ULAAN BAATAR.“ Hong Li wollte etwas angeben mit seinen geografischen und geschichtlichen Kenntnissen. „Bereust du schon, dass du die Prüfung geworfen hast?“ Shi Xi drückte mit dem Finger in Hong Lis Wunde. „Die Schulprüfung wäre ein Leichtes gewesen. Das KAN YU war das Problem.“

„Nur des Glaubens wegen?“ Die ganzen vergangenen Wochen war dies kein Thema, und Shi Xin hatte das Gefühl, das CHI wäre schon fast vergessen. Gut, dass er Hong Li wieder daran erinnert hatte. Hong Li wurde wieder ruhiger und in sich gekehrt.

In HOTAN suchten sie eine Unterkunft, und alle freuten sich auf ein Bad und auf ein gutes Essen und ja, auch auf ein Glas Reiswein oder ein Bier. Am nächsten Tag besuchten sie die Moschee in HOTAN und gingen über den Markt. Die Pferde mussten auch einmal ausruhen. Am Abend versuchte Shi Xin das Thema noch einmal auf das CHI zu bringen. „Du wärst besser zu den Shaolin gegangen, als zu den ZEN-Mönchen nach FA MEN SI“, stellte Shi Xin in den Raum. „Und warum? Was ist da anders?“ „Das CHI.“ „Wie das CHI?“ „Nun, wir Shaolin erlernen ja die Kampfsportart KUNG FU. Ohne das Vertrauen auf CHI könnten wir diese Sportart gar nicht ausüben.“ Hong Li hatte angebissen. „Und warum nicht?“ „Weil wir inneres CHI an die Körperstelle hinleiten, die für den Schlag wichtig ist. Wir machen das mit Meditation, mit der Kraft der Gedanken.“

„Würden wir das nicht tun, dann würde unsere Hand brechen und nicht der Ziegelstein. Dann hätten wir nicht diese Kraft in Armen oder Beinen. Das CHI, das dabei wirkt, ist das gleiche. Könnte sonst eine Bambussprosse einen Stein brechen? Der Unterschied liegt nur darin, dass das äußere CHI längere Zeit braucht, um zu wirken als das innere CHI. Die Wirkung braucht mehr Zeit, ist aber doch ungeheuer stark. Nimm den Regentropfen, der auf die Erde fällt. Am Anfang nimmt die Erde das Wasser dankbar auf. Irgendwann ist es aber genug. Regnet es weiter, dann wird die Erde überschwemmt, und irgendwann wird aus dem Regentropfen eine große Flut. Das alles macht das CHI. Den Regentropfen, aber auch die Flut.“ Hong Li wollte schon wieder abwinken. „Ja, wer’s glaubt. Und was ist mit den Drachen? Alles nur Humbug. Ausgestorben sind sie, und es wird keiner mehr kommen. Wer soll also das Glück bringen, das CHI? Und wie?“

„Ich kenne mich mit dem Drachenkult nicht so gut aus. Baihu könnte hierzu mehr sagen. Die Drachen, so sagt man, sind das Spiegelbild der Menschheit. Drachen in Harmonie bringen dem Menschen eben diese Harmonie und damit ein glückliches Leben. Streiten aber die Drachen, dann streiten sich auch die Menschen. Und in der Umkehr, streiten die Menschen, dann streiten sich auch die Drachen. Dann muss der Drachenmeister die Drachen wieder in Harmonie bringen, entsprechend der KAN-YU-Lehre WU XING, mit den fünf Elementen.“ Hong Li warf ein: „Du kennst dich ja doch ganz gut aus.“ „Ja, Baihu hat uns darüber aufgeklärt. Jeder Drache vertrat nur ein Element. Und wenn die aus dem Gleichgewicht kamen, dann gab es Ärger im Nest und bei den Menschen sogar Krieg. Soviel ich weiß, sind die Drachen nicht ausgestorben, sondern sie haben sich nur zurückgezogen, weil kein Mensch mehr an sie glauben wollte.“ Shi Xin resümierte: „Jetzt sitzen wir hier in HOTAN, 5000 km von zu Hause entfernt. Um uns herum ist nur Wüste, und wir diskutieren über Drachen.“ Alle lachten.

Hong Li hatte tatsächlich seinen Frust über das CHI fast vergessen. Alles, aber auch wirklich alles schien unglaublich weit weg zu sein. Seine Suche nach dem CHI verlief im wahrsten Sinne des Wortes im Sand. Eigentlich hatte er nicht das CHI gesucht und auch nicht sich selbst. Im Gegenteil, er war vor sich selbst weggelaufen. Das ist auch eine Erkenntnis. Mindestens 5000 km waren sie schon in mehr als zwölf Wochen geritten.

Shi Yan hatte sicher bereits seine Prüfungen bestanden … und Xiao Xian, die hatte ihn wahrscheinlich schon längst vergessen. Hong Li stand auf. „Was bitte haben wir hier in HOTAN verloren? Auf nach Peking, und zwar so schnell wie möglich.“ „Peking, das sind noch mindestens 2500 km, also kein Katzensprung“, ergänzte Shi Xin. Hong Li fühlte sich wohl mit dieser Entscheidung. Immerhin hatte er wieder einmal etwas entschieden. Das machte ihm Mut. Das mit dem KUNG FU hatte ihm eingeleuchtet. Es gab auch die ausladenden Bewegungen des TAI CHI, eine Kampfsportart, die ebenfalls bei den Shaolin gelehrt wurde. Da wurde das äußere CHI eingesammelt und dann gegen den Feind gerichtet. Vielleicht war er wirklich am falschen Platz in FA MEN SI. Das, was Shi Xin ihm erzählte, das leuchtete ihm ein. Ohne das innere CHI zu konzentrieren auf einen, nein, auf den Punkt, auf den es ankam, das ging nur, wenn man CHI bewegen konnte. Und das ging wiederum nur, wenn man CHI fühlen konnte. Und wenn man es fühlen konnte, dann musste es auch vorhanden sein.

Nach seinem Erlebnis in Lhasa hatte Hong Li vermieten, seine Herkunft zu verraten. Ab jetzt reisten sie aber offiziell im Norden von MONGOLIA auf dem kürzesten Weg nach Peking. In vier bis fünf Wochen wollte Hong Li bei Xiao Xian sein.

Nachdem er unter seinem Namen Prinz Bao vier frische Pferde gekauft hatte, konnten die Reiter abwechselnd durchreiten und die eigenen Pferde schonen. Die Seidenstraße verlief 1400 km quer durch eine Sandwüste bis KUMUL, dann 1200 km Steinwüste bis BAYAN NUR, wo sie endlich auf den Gelben Fluss stießen und sich auf ein erfrischendes Bad für Ross und Reiter freuen konnten. Die letzten 900 km über BAOTOU an der Chinesischen Mauer entlang bis nach HUAI AN, dem Fluss YANG HE nach und dann nur noch einen kleinen Katzensprung bis PEKING. Obwohl ab BAYAN NUR wieder viele Menschen auf den Straßen waren, wurden sie nicht aufgehalten. In den Unterkünften wurden sie freundlich behandelt. Jeder war stolz des Kaisers Sohn, Prinz Bao, bewirtet zu haben. Hong Li war ungeduldig und trieb die Shaolin an. Er konnte es kaum erwarten, seine Xiao Xian wieder in den Händen zu halten. Er machte sich keine Gedanken, was sein Vater oder seine Mutter zu seiner Selbstfindungsreise sagen würden. Und auch dazu, dass er die Schule kurz vor der Prüfung hingeschmissen hatte. Nach fast 10 000 km Selbstsuche konnte Shi Xin aber eines bestätigen: Die fast fünfmonatige Reise hatte Hong Li noch einmal verändert. Er war gewachsen und erwachsen geworden. Er hat sich und sein China kennengelernt und nicht nur die schönen Seiten von beiden.

1.11 Das Eheversprechen von Hong Li und Xiao Xian

PEKING im September 1724

Schon von Weitem rief Hong Li vor dem Mittagstor, dass dieses geöffnet werden sollte. Ohne abzusitzen, ritt er mit BAI LONG durch den Tunnel und über die Prinzenbrücke. Die drei Shaolin taten es ihm gleich, allerdings ritten sie über die äußere Brücke. Hong Li sprang ab und ging auf direktem Weg zum Palast der Kaiserin. Der Kaiser hielt sich in der Halle der höchsten Harmonie auf und sah den Sohn mit eiligen Schritten über den Inneren Hof gehen, durch den Garten in Richtung des Palastes der Kaiserin. Er hatte noch einige Formalitäten zu erledigen und wollte dann aber zur Kaiserin gehen und nach dem Rechten schauen.

Die Kaiserin und Xiao Xian saßen im Garten. Keine rechnete mit Hong Li. Xiao Xian sah ihn als Erste. Sie sprang auf und warf sich Hong Li an den Hals. „Der, dem mein Herz gehört, ist zurück.“ Hong Li konnte den Anflug gerade noch abfangen, indem er sich im Kreis drehte und Xiao Xian um seine Achse mitnahm.

„Ja, ich bin zurück, und ich gehe ohne meine Prinzessin nicht wieder fort.“ Die Kaiserin war erschrocken, weil Xiao Xian so plötzlich aufgesprungen war. Sie erkannte, dass hier zwei Menschen hoffnungslos in sich verliebt waren. „Hong Li, warum hast du dich nicht angekündigt? Zuletzt haben wir von Chen Zheng Wei vor fünf Monaten eine Nachricht erhalten, dass du mit den Shaolin auf Reise gegangen bist.“ Während Xiao Xian noch immer bei Hong Li am Hals hing und ihre Beine um seinen Körper geschlungen hatte, betrat der Kaiser den Raum. Erst jetzt löste Xiao Xian die Umschlingung und trat ehrfürchtig zurück. „Verzeiht, Majestät, aber die Freude über Hong Lis Heimkehr hat mich überwältigt.“

„Nun, auch ich bin überwältigt, aber auch sehr enttäuscht. Unter Pflichterfüllung verstehe ich etwas anderes. Du hast mir im Ministerium viel Ärger eingebracht, mit deiner ungeplanten Reise.“ Auch die Kaiserin erklärte ihren Unmut über diese Eskapade. „Warum hast du die Schule hingeschmissen, so kurz vor der Prüfung? Hättest du deine Zweifel nicht erst mit Chen Zheng Wei oder mit deinen Freunden Baihu und Shi Yan besprechen können?“

„Ihr habt ja recht, aber ich war so durcheinander. Der Abt, Baihu und Shi Yan hätten nur versucht mich umzustimmen. Ich musste selbst mein Ziel finden und meinen Glauben an mich, an das KAN YU und an die Drachen.“ Der Kaiser war sehr gefast. Eigentlich war er nur voller Sorgen um seinen Thronfolger. Sollte er sich lieber jetzt die Hörner abstoßen als auf dem Thron. „Und, hast du dich gefunden? Hast du das CHI gefunden?“ Hong Li trat zu Xiao Xian und nahm sie in den Arm. „Ja, ich habe mich gefunden, und ich habe zu Xiao Xian gefunden. Je weiter ich von ihr entfernt war, umso mehr habe ich mich nach ihr gesehnt.“ Hong Li nahm eine offizielle Stellung ein: „Mutter, Vater, gestattet mir bitte, dass ich Xiao Xian zu meiner Frau nehme.“ Das Gesicht des Kaisers wurde erst weiß und dann hochrot. „Deine Reise, Hals über Kopf, kann ich noch als jugendliche Verrücktheit ansehen, aber das hier zeigt mir, wie unreif du wirklich bist.“ Der Ton wurde lauter. „Der Wunsch eines Kindes. Früher wolltest du deine Mutter heiraten, dann auch mal dein Pferd.“

 

Der Kaiser war außer sich. „Du stehst vor mir wie ein trotziger Junge, den der Wind des Lebens nur mal kurz gestreichelt hat und der beim ersten Sturm alles fallen lässt und in die Arme der Mutter läuft. Du bist nicht mehr als ein Schüler, der seine Schule hingeschmissen hat, der nicht einmal genügend Durchhaltevermögen hat, um eine Prüfung abzulegen. Der durch die Welt reist, nichtsahnend von dem, was er damit alles anstellt.“ Yong Zheng steigerte sich noch weiter hinein: „Xiao Sheng Xian, das ist dein Sohn. Das ist deine Erziehung. Das ist die Erziehung der Schule in FA MEN SI. Hong Li hätte besser in PEKING Schmied lernen sollen.“ Mit diesen Worten drehte er sich wirsch um und verließ den Kaiserpalast. Das hatte gesessen. Xiao Xian lief weinend in ihr Zimmer, und Hong Li fiel in sich zusammen. Aus Hong Lis größter Euphorie wurde ganz schnell tiefster Frust. Auch die Kaiserin hatte ihren Mann noch nicht so erregt gesehen. All seine Hoffnungen, die er in Hong Li gesteckt hat, schienen verloren. War es jugendliche Verrücktheit, oder war es echte Liebe? Die Kaiserin setzte sich neben ihren Sohn auf die Stufe und nahm ihn in den Arm.

„Das tut sehr weh, ich weiß. Auch mir ist das schon ein paarmal passiert … übrigens auch deinem Vater. Aber versuche, ihn zu verstehen. Dein Vater war sehr enttäuscht, als er gehört hat, dass du die Schule abgebrochen hast. Dein unüberlegter Besuch in Lhasa hat zu einem Krieg geführt. Du bist erst 13 Jahre alt und willst eine Familie gründen. Du warst sein Lieblingssohn, und nie hätte er mit so vielen Enttäuschungen auf einmal gerechnet. Wahrscheinlich sitzt er nun auf seinem Thron und ist genauso frustriert wie du selbst. Ich glaube, die Aufregung des Kaisers ging gar nicht um Xiao Xian, sondern darum, dass du deine Pflichten gegenüber deiner Schule, gegenüber deinem Stand als Prinz Bao und auch gegenüber deinen Eltern unüberlegt und leichtsinnig verletzt hast. Denke mal darüber nach.“ Die Kaiserin stand auf und ließ Hong Li sitzen. Sie hatte noch ein Herz zu trösten. Xiao Xian lag weinend auf ihrer Liege. Xiao Sheng Xian setzte sich neben sie und streichelte das Haar, das zu einem Kranz geflochten war. Die eingeflochtenen Herbstblüten waren echt.

„Xiao Xian, du bist erst zwölf, und Hong Li ist gerade mal dreizehn Jahre alt. Denkt man da schon ans Heiraten?“ „Das war Hong Li. Ich wurde dazu nicht befragt. Aber ja, ich würde in heiraten, doch auch erst in ein paar Jahren.“ Xiao Xian war relativ gefasst. „Der Kaiser hatte ja so recht. Aber für Hong Li musste diese Zurechtweisung sehr beschämend gewesen sein. Er tut mir sehr leid. Wo ist er jetzt?“ „Geh zu ihm. Er sitzt noch in meinem Arbeitszimmer und hat Trost ziemlich nötig. Sprich mit ihm. Wir Frauen sind nicht so explosiv, und mit Diplomatie kommen wir weiter wie unsere Männer.“ Xiao Xian war froh, dass sie sich so gut mit Hong Lis Mutter verstand. Wie mit einer Freundin, wie mit der eigenen Mutter.

Die Kaiserin hatte aber noch ein Herz zu trösten. Das des Kaisers. Er saß auf seinem Thron mit dem Kopf zwischen den Händen. So als ob der Hals ihn nicht tragen konnte. Er schaute die Kaiserin an und fragte: „War ich jetzt zu hart?“ „Ach mein lieber Kaiser, weißt du noch, wie es ist, wenn man sich liebt? Hong Li und Xiao Xian lieben sich wirklich.“ Sie faste ihn am Kinn und hob den Kopf, sodass er wieder fest auf den Schultern ruhte. „Diese Gefühle sind so stark und können auch erwachsene Männer durcheinanderbringen, und erst recht dann, wenn es die erste und einzige Liebe ist und man mit diesem Gefühl noch nicht umgehen kann. Dein Sohn ist derzeit nicht Fisch noch Fleisch.“ Sie strich ihm übers Haar und brachte den langen Bart in die richtige Lage. „Aber er ist dein Fleisch und Blut, und deshalb weiß ich, dass er sein Unrecht einsieht und seine Prüfungen mit Bravour nachholt. Hong Li hat das alles gebraucht. Diese Reise war für ihn sehr lehrreich. Lass dir doch von den Shaolin über die Reise berichten. Vielleicht kannst du aber auch deinen Sohn dazu befragen. Und wenn er wieder mit Xiao Xian anfängt, dann gib ihm doch die Chance zu heiraten, aber erst wenn er seinen Pflichten nachgekommen ist.“

Yong Zhengs Miene wurde schon wieder etwas heller. „Sei ehrlich: Xiao Xian ist dir sehr ähnlich. Würde sie Hong Li genauso beraten, wie du mich berätst?“ „Ich bin mir sicher.“ Mit einem Kuss auf des Kaisers Stirn verließ die Kaiserin den Thronsaal.

Xiao Xian setzte sich neben Hong Li. Sie sagte aber nichts. Ihre Hände fanden sich, und es war ein schönes Gefühl, das noch Stunden anhalten konnte. Irgendwann platzte Hong Li heraus: „Der Kaiser hat ja so recht. Das war so was von blöd von mir, so spontan, so unüberlegt.“ „Ja, aber es war auch so ehrlich, so überzeugend. Kannst du es mir noch einmal sagen?“ Hong Li schaute Xiao Xian an, und er konnte nicht anders. Er musste sie küssen.

Es war ein schwerer Gang in die Halle der höchsten Harmonie. Der Kaiser arbeitete noch bei Fackelschein. Als Hong Li den Thronsaal betrat, schickte der Kaiser die Schreiber und Eunuchen fort. „Hast du Zeit, mit mir zu sprechen?“ Hong Lis Stimme wirkte gebrochen. „Wenn du keine Verrücktheiten mit mir besprechen willst, dann habe ich immer Zeit für dich.“ Die Stimme des Kaisers wirkte versöhnlich. „Du hattest mit deinen Vorwürfen recht. Ich habe das Kaiserreich und dich in Gefahr gebracht.“ Yong Zheng wandte sich zu Hong Li hin. „Du hast noch etwas viel Schlimmeres gemacht. Du hast dich selbst in Gefahr gebracht. Gott sei Dank ist diese Verrücktheit gut ausgegangen. Einen Krieg in der Provinz NEPAL konnten wir abwenden, weil wir LHASA mit 3000 Soldaten besetzt hatten und deinem Freund, dem Dalai Lama Kelsang Gyatsho, eine Regierungsinstanz vorgesetzt hatten. Er darf nun zwar Religionsführer sein, aber kein Herrscher über das Land. Das wirst du einmal sein. Sofern du deine Prüfungen schaffst.“ Hong Li konnte wieder lachen. „Und wie ich die schaffe. Ich hatte keine Angst, dass ich durchfalle. Ich hatte nur den Glauben an KAN YU, an CHI und an die Drachen verloren. Es erschien mir so unnütz, so unehrlich, an einem Drachennest zu arbeiten, wo es doch keine mehr gab.“

„Schau, die Kaiser der Vergangenheit und die Kaiser der Zukunft waren und sind die Schirmherren über die Drachen. Wir sollten sie beschützen und unterstützen. Vor nicht allzu langer Zeit gab es noch lebende Drachen. Weil ein oder zwei Kaiser ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt haben, haben uns die Drachen verlassen. Der Legende nach kommen sie aber wieder, wenn die Menschheit wieder an sie glaubt. Und wenn wir als Kaiser schon an den Drachen zweifeln, wie sollten dann die Menschen daran glauben?“ Hong Li hatte in der Vergangenheit viel zu wenig mit seinem Vater geredet. Das musste nachgeholt werden. Jetzt war er aber müde. Vater und Sohn waren froh. Der Streit war beigelegt. So schläft es sich besser.

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