Oliver Twist

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Oliver Twist
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Oliver Twist
Hörbuch
Wird gelesen Cora McDonald
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Neuntes Kapitel: Enthält weitere Mitteilungen über den spaßhaften alten Herrn und seine hoffnungsvollen Schüler

Oliver erwachte am nächsten Morgen erst spät aus einem langen und festen Schlafe. Es befand sich nur noch der alte Jude im Zimmer, der sich zum Frühstück Kaffee kochte und leise vor sich hin pfiff. Oliver schlief zwar nicht mehr, er war aber auch noch nicht hellwach. Er sah mit halbgeschlossenen Augen den Juden und hörte sein leises Pfeifen.

Als der Kaffee fertig war, setzte der Alte die Pfanne auf den Kaminrost und stand einige Minuten unschlüssig da, als ob er nicht wisse, was er nun machen solle. Er drehte sich nach Oliver um und rief ihn an. Dieser antwortete jedoch nicht, sondern schien zu schlafen.

Der Jude beruhigte sich hierbei und verriegelte leise die Tür. Dann hob er eine Diele hoch und brachte ein Kästchen zum Vorschein, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen funkelten, als er es öffnete und hineinsah. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und nahm eine herrliche, mit Brillanten besetzte, goldene Uhr heraus.

"Aha", sagte der Jude, indem sich sein Gesicht zu einem scheußlichen Grinsen verzog, "verflucht schlaue Hunde! – Dichte gehalten bis zuletzt! Dem alten Pfaffen nicht das Versteck verpfiff! Alten Fagin nicht reingelegt. Nu, was hätt's auch genützt? Wären dem Strick doch nicht entgangen. Nein, nein, nein! Brave Jungens!"

Unter diesen und ähnlichen halblaut gesprochenen Betrachtungen legte der Jude die Uhr wieder behutsam an ihre Stelle zurück und holte dann wenigstens ein halbes Dutzend andere aus dem Kästchen, die er alle mit dem gleichen Vergnügen betrachtete. Dann kam die Reihe an Ringe, Busennadeln, Armbänder und solche Kostbarkeiten, die Oliver nicht einmal mit Namen kannte. Zuletzt nahm der Alte ein ganz kleines Geschmeide heraus. Es schien sich eine schwer zu lesende Inschrift darauf zu befinden, denn der Jude legte es auf den Tisch, beschattete es mit der Hand und brütete lange darüber. An dem Gelingen seines Versuches verzweifelnd, lehnte er sich schließlich in seinen Stuhl zurück und murmelte vor sich hin:

"Es ist doch was Schönes ums Hängen! Tote bereuen nicht und machen keine Dummheiten. Plaudern auch nichts aus. Das ist gut fürs Geschäft. Fünf aufgehängt der Reihe nach, und keiner übriggeblieben, mich zu verpfeifen."

Plötzlich fielen des Alten Augen auf Oliver, dessen Blicke in stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Er warf den Deckel des Kästchens hastig zu und ergriff das auf dem Tische liegende Brotmesser, dabei zitterte er am ganzen Körper.

"Was ist das?" schrie Fagin. "Warum beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge, schnell, wenn dir dein Leben lieb ist."

"Ich konnte nicht länger schlafen, Herr", erwiderte Oliver demütig. "Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe."

"Bist du nicht schon seit einer Stunde wach?" fragte der Jude mit finsterem Blick.

"Nein, Herr, bestimmt nicht", antwortete Oliver.

"lst's auch wahr?" versetzte der Jude, und er nahm eine noch drohendere Haltung ein.

"Auf mein Wort, es ist wahr, ich bin wirklich nicht wach gewesen", entgegnete Oliver ernst.

"Schon gut, schon gut, mein Lieber!" sagte der Jude, indem er sein früheres Wesen wieder annahm. Er spielte noch ein wenig mit dem Messer, ehe er es weglegte, um Oliver glauben zu machen, er hätte es nur aus Zerstreuung in die Hand genommen. "Ich wusste das schon vorher und wollte dir nur einen kleinen Schreck einjagen. Du bist ein braver Junge. Ha! ha! du bist ein braver Junge, Oliver." Er rieb sich kichernd die Hände, guckte aber unruhig nach dem Kästchen hin.

"Hast du etwas von den hübschen Sachen gesehen, Liebling?" sagte dei Jude nach einer kurzen Pause und legte die Hand auf das Kästchen.

"Ja, Herr", erwiderte Oliver.

"Ach!" rief erblassend der Jude. "Sie sind – ja sie sind mein Eigentum, Oliver, mein winziges Eigentum, mein alles für meine alten Tage. Die Leute nennen mich einen Geizhals. Ja, das tun sie."

Oliver dachte, der alte Herr müsste tatsächlich ein rechter Geizhals sein, sonst würde er nicht so elend wohnen. Dann fiel ihm aber ein, dass die Fürsorge für den Gannef und die übrigen Jungen ihn ein schönes Geld kosten möge. Oliver fragte nun bescheiden, ob er aufstehen dürfe.

"Gewiss, Liebling", antwortete der Jude. "Dort in der Ecke steht ein Krug Wasser, hole ihn, ich werde dir eine Waschschüssel geben."

Oliver tat, wie ihm geheißen, und als er sich umdrehte, war das Kästchen verschwunden. Nachdem er sich gerade gewaschen hatte, trat der Gannef mit einem jungen Kameraden ins Zimmer. Dieser wurde Oliver als Karl Bates förmlich vorgestellt, er war einer von den rauchenden Jungen des gestrigen Abends.

Sie setzten sich zum Frühstück nieder, und der Jude fragte mit einem bedeutungsvollen Blick auf Oliver den Gannef:

"Liebe Kinder, hoffentlich habt ihr heute Morgen schon fleißig gearbeitet?`

"Aber mächtig", entgegnete Dawkins.

"Wie 'n Pferd", fügte Bates hinzu.

"Ihr seid brave Jungen! Was hast du erwischt, Gannef?"

"Ein paar Brieftaschen."

"Gespickte?" fragte der Jude aufgeregt.

"So ziemlich", sagte Dawkins und holte eine rote und eine grüne aus der Tasche.

Der Alte durchsuchte sie sorgfältig und meinte dann: "Nicht so schwer, als sie hätten sein können, aber schöne Stücke, gediegene Arbeit. Nicht wahr, Oliver?"

"Ja, allerdings, Herr", erwiderter Oliver. Bei dieser Antwort brach Karl Batees in ein lautes Gelächter aus, zur großen Verwunderung Olivers, der absolut keinen Grund dazu sah.

"Und was hast du mitgebracht?" fragte Fagin den Karl Bates.

"Rotzlappen", versetzte der junge Herr; dabei zog er vier Schnupftücher aus der Tasche.

Der Jude besichtigte sie genau und sagte dann: "Sie sind gut, sehr sogar. Aber du hast sie nicht richtig gezeichnet, wir müssen die Buchstaben mit der Nadel wieder auftrennen. Das kann Oliver machen. Willst du? Ha! ha! ha!"

"Gern", sagte dieser.

"Möchtest du nicht auch so leicht wie Karl Bates Taschentücher besorgen, hättest du Lust, Liebling?" fragte der Jude.

"Große Lust, wenn Sie es mich lehren wollten, Herr."

Karl Bates fand in dieser Antwort etwas so unwiderstehlich Komisches, dass er abermals in ein schallendes Gelächter ausbrach. Er wäre dabei fast erstickt, da er gerade den ganzen Mund voll Kaffee hatte. "Er ist doch gar zu naiv!" sagte Karl gleichsam als Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. Der Gannef strich Oliver über das Haar und sagte, er würde es schon noch lernen. Als der Jude sah, dass Oliver rot wurde, brachte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Er fragte, ob bei der heutigen Hinrichtung viele Leute da waren. Aus den Antworten der beiden Jungen ging hervor, dass sie auch zugeguckt hatten. Oliver wunderte sich deshalb nicht wenig, wie sie trotzdem noch so viel hatten arbeiten können.

Als sie fertig mit Frühstücken waren, spielte der lustige alte Herr mit den beiden Jungen ein gar seltsames Spiel. Der Alte steckte nämlich eine Schnupftabakdose in die eine und eine Brieftasche in die andere Hosentasche. Eine Uhr, die an einer um den Hals geschlungenen Kette hing, brachte er in seiner Westentasche unter. An sein Hemd befestigte er eine unechte Brillantnadel. Dann knöpfte er den Rock fest zu, verstaute sein Brillenfutteral und das Schnupftuch in den Rocktaschen. Mit einem Stock in der Hand, ging er im Zimmer auf und ab, ganz so wie man alte Herren in den Straßen der Stadt umherschlendern sieht. Er blieb hin und wieder bei dem Kamin oder bei der Tür stehen und tat so, als ob er aufmerksam ein Schaufenster besähe. Dabei guckte er sich aber immer um, als wenn er sich vor Dieben fürchtete. Von Zeit zu Zeit klopfte er auf die Taschen, um sich zu überzeugen, dass er nichts verloren habe. Er meinte die Sache so natürlich, dass Oliver lachen musste, und zwar lachte er derart, dass ihm die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über waren die beiden Jungen dem alten Herrn gefolgt. Sobald er sich jedoch umdrehte, zogen sie sich mit unnachahmlicher Geschwindigkeit zurück. Schließlich trat ihm der Gannef auf die Zehen, oder strauchelte wie zufällig über seinen Stiefel, während Karl Bates ihn von hinten anrempelte. In diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit außerordentlicher Geschicklichkeit Schnupftabaksdose, Brieftasche, Busennadel, Uhr, Taschentuch und sogar das Brillenfutteral. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so kündigte er das durch einen Schrei an, und das Spiel begann von neuem.

Das war so eine ganze Weile fortgegangen, als ein paar Damen erschienen, die die jungen Herren besuchen wollten. Eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie hatten üppiges Haar, waren aber nicht ordentlich frisiert. Ihre Schuhe und Strümpfe waren im schlechten Zustande. Hübsch konnte man die Mädchen eigentlich nicht nennen, aber sie hatten ein frisches Aussehen und sympathische Gesichtszüge. Auch benahmen sie sich so gefällig und ungezwungen, dass sie Oliver für recht artige Mädchen hielt, was sie ohne Zweifel auch waren.

Die Besucherinnen blieben ziemlich lange. Man trank Schnaps und die Unterhaltung wurde bald sehr heiter und lebhaft. Schließlich meinte Karl, es wäre Zeit sich auf die Socken zu machen, was nach Olivers Vermutung ein französischer Ausdruck für Ausgehen sein musste, denn unmittelbar danach brachen alle vier auf, nachdem der freundliche alte Jude ihnen noch vorher reichlich Geld gegeben hatte.

Als sie fort waren, sagte Fagin:

"Nicht wahr, das ist ein lustiges Leben?"

"Haben sie denn ihre Arbeit schon getan?"

.Ja`, erwiderte der Jude, "das heißt, wenn sie nicht zufällig unterwegs neue bekommen. Die nehmen sie natürlich mit, darauf kannst du dich verlassen. An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, besonders an dem Gannef. Der wird noch mal werden ein großer Mann und auch dich zu einem machen, wenn du ihm dir nimmst zum Vorbilde. – Hängt mir übrigens das Schnupftuch aus der 'Tasche?"

 

"Jawohl."

"Versuch's mal herauszuziehen, ohne dass ich es merke. Du hast ja heute Mittag gesehen, wie man es machen muss."'

Oliver machte es so, wie er es beim Gannef gesehen hatte.

"Hast du es?" fragte der Jude.

"Hier ist es, Herr."

"Du bist ein gewandter Bursche", sagte der alte Herr und fuhr mit der Hand über Olivers Haar. "Ich habe niemals einen gelehrigeren Jungen gesehen. Hier hast n' Schilling. Fahr nur weiter so fort, dann wirste noch werden der größte Mann deiner Zeit. – Und nun werde ich dir zeigen, wie man die Namen aus den Schnupftüchern macht."

Oliver konnte nicht recht begreifen, wie er dadurch, dass er dem alten Herrn im Scherze das Schnupftuch aus der Tasche gezogen hatte, ein großer Mann werden könne. Er dachte aber, der Jude müsse das besser wissen, war dieser doch um soviel älter als er. Er machte sich also unbekümmert daran, die Buchstaben aus den Taschentüchern zu entfernen.

Zehntes Kapitel: Oliver lernt seine neuen Bekannten besser kennen und muss die Erfahrung teuer bezahlen

Oliver blieb eine Reihe von Tagen dauernd im Zimmer des Juden und fing an, sich nach frischer Luft zu sehnen. Er machte die Zeichen aus den Taschentüchern heraus, die in ziemlich großer Zahl ins Haus gebracht wurden. Hin und wieder nahm er auch an dem erwähnten Spiel teil, das Fagin regelmäßig jeden Morgen mit den beiden Jungen aufführte. Oliver hatte den alten Herrn verschiedene mal gebeten, mit Jack und Karl gemeinsam auf Arbeit ausgehen zu dürfen, endlich erhielt er die ersehnte Erlaubnis. Da seit einigen Tagen keine Schnupftücher da waren, an denen Oliver hätte arbeiten können, so gab der alte Herr wohl aus diesem Grunde seine Zustimmung.

Die drei Jungen zogen los und schlenderten gemächlich die Straße-entlang. Oliver fand keinen Geschmack an dem langsamen Gang seiner Genossen und kam auf die Vermutung, dass sie den alten Herrn betrögen und der Arbeit aus dem Wege gingen. Der Gannef hatte außerdem noch die üble Gewohnheit, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen, während Karl Bates ziemlich freie Ansichten hinsichtlich des Eigentumsrechts an den Tag legte. Von den Ständen der Straßenhändler ließ er hier einen Apfel, dort eine Zwiebel verschwinden. Dies missfiel unserm Oliver so sehr, dass er gerade zu erklären beabsichtigte, er wolle nach Hause gehen, als er durch das eigenartige Benehmen des Gannefs von diesem Vorhaben abgebracht wurde. Dieser stand plötzlich still, legte den Finger an die Lippen und hielt seine Genossen zurück.

"Was ist los?" fragte Oliver.

"Pst!" machte der Gannef. "Siehst du jenen alten Knacker-an der Bücherbude?"

"Den alten Herrn da drüben? Ja, den sehe ich."

"Bei dem wollen wir arbeiten", sagte Dawkins.

"Scheint erstklassig zu sein", bemerkte Karl.

Oliver guckte in größter Überraschung von einem auf den anderen. Die beiden Jungen gingen unauffällig auf die andere Straßenseite und schlichen sich dann dicht hinter den alten Herrn. Oliver harrte mit stummer Verwunderung der weiteren Vorgänge.

Der alte Herr schien den besseren Kreisen anzugehören, trug Puder in den Haaren und hatte eine goldene Brille auf. Er hatte sich aus einem Regal ein Buch genommen und sich so ins Lesen vertieft, als säße er zu Hause in seinem Lehnstuhl. Möglich, dass er dort zu sein wähnte, denn er war offensichtlich durch die Lektüre so abgelenkt, dass er weder für die Straße noch für die Jungen ein Auge übrig hatte.

Man denke sich Olivers Entsetzen, als er sah, wie der Gannef dem alten Herrn das Schnupftuch aus der Tasche zog und es dann Karl Bates zusteckte. Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, der Uhren und Kleinodien des Juden klar. Als er die beiden wegrennen sah, fing er auch aus Leibeskräften zu laufen an. Doch gerade als Oliver Reißaus nahm, griff der alte Herr nach seinem Tuch in die Tasche und wandte sich rasch um, als er es nicht finden konnte. Wie er nun den Jungen so Hals über Kopf davonlaufen sah, kam er auf den naheliegenden Gedanken, dass dieser ihn bestohlen hätte. Das Buch in der Hand haltend, lief er mit dem Ruf: "Haltet den Dieb!" hinter ihm her. Doch. er war nicht der einzige, der dieses Geschrei erhob. Der Gannef und Karl Bates hatten, um nicht durch Rennen aufzufallen, sich in den ersten besten Torweg an der Ecke zurückgezogen. Sobald sie das Gebrüll: "Haltet den Dieb" vernahmen und Oliver laufen sahen, errieten sie schnell den Zusammenhang. Sie schlossen sich dessen Verfolgern an und riefen kräftig mit.

"Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!" Es liegt ein Zauber in diesem Rufe. Der Krämer verlässt seinen Ladentisch, der Kutscher seinen Wagen, der Schlächter seine Fleischbank, der Bäcker seinen Trog, der Milchmann seine Kannen, der Junge seine Murmel, der Steinsetzer seine Ramme, der Straßenhändler seinen Karren und das Kind seine Fibel. Alles eilt, Hals über Kopf, im hellen Haufen fort, schreit, brüllt, überrennt ruhige Spaziergänger und macht die Hunde wild. Straßen, Gassen, Höfe – alles hallt von dem Rufe wider.

"Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!" Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist der menschlichen Brust tief eingepflanzt. Ein armes, atemloses Kind, keuchend vor Erschöpfung, Todesangst im Auge und große Schweißtropfen im Gesicht, strengt alle seine Kräfte an, den Verfolgern einen Vorsprung abzugewinnen. Man lässt aber nicht von ihm ab. Jeden Augenblick rückt man ihm näher. Je mehr seine Kräfte sinken, desto lauter wird der Lärm, das Gebrüll und der Ruf: "Haltet den Dieb!"

Endlich ist er eingeholt, niedergeschlagen und liegt auf dem Pflaster. Die Menge drängt sich um ihn. Jeder will den Verbrecher sehen.

"Tretet zurück!" "Lasst ihn doch zu Atem kommen!"

"Ach was, er verdient es nicht!" "Wo ist der Herr?"

"Da. er kommt die Straße herunter." "Platz für den Herrn!" "Ist das der Junge, Herr?" "Ja."

Oliver lag, ganz beschmutzt, mit blutendem Munde da. Er blickte verwirrt auf die ihn umgebende Menge.

"Ja, ich fürchte, dass er es ist", wiederholte der alte Herr. "Der arme Junge hat sich sicher verletzt."

"Das war ich, Herr", sagte ein großer, ungeschlachter Kerl "Ich schlug ihn in die Fresse, dass er hinfiel."

Der Bursche griff grinsend an seine Mütze und erwartete wohl eine Belohnung für seine Tat. Der alte Herr warf ihm jedoch einen Blick des Abscheus zu und sah sich ängstlich um, als ob er selbst davonzulaufen gedächte. Da kam endlich ein Polizist, wie denn bei solchen Anlässen die Polizei gewöhnlich immer zuletzt kommt. Er hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte Oliver nun beim Kragen.

"Aufgestanden", brüllte er.

"Ich bin's wirklich nicht gewesen, Herr. Es waren zwei andere Jungen", sagte Oliver mit gefalteten Händen, dann sah er sich um: "Sie müssen hier in der Nähe sein."

"Ach nein, es ist keiner da", sagte der Polizist. Er meinte es ironisch, dabei war es die reine Wahrheit, denn der Gannef und Karl Bates hatten sich bei der ersten Gelegenheit, aus dem Staube gemacht. "Steh auf!"

"Ach, tun Sie ihm nichts", sagte der alte Herr mitleidig.

"Ich tue ihm schon nichts", antwortete der Polizist und riss ihm zum Beweise dafür die Jacke beinahe vom Leibe. "Nun komm schon! Donnerwetter, steh auf, du kleiner Strolch, du!"

Oliver versuchte mühsam aufzustehen', er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Polizist packte ihn beim Kragen und zerrte ihn im Laufschritt durch die Straßen. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her und eine johlende Menge begleitete die drei auf ihrem Weg.

Elftes Kapitel: Handelt von dem Polizeirichter Herrn Fang und gibt eine kleine Probe seiner Gerechtigkeit

Das Vergehen war in der unmittelbaren Nachbarschaft eines sehr bekannten Polizeiamtes der Hauptstadt begangen. Die johlende Menge hatte daher nur das Vergnügen, Oliver durch zwei oder drei Straßen zu begleiten. Angekommen, wurde Oliver in eine furchtbar schmutzige Zelle gesperrt. Der alte Herr sah, als sich der Schlüssel in dem Schloss drehte, fast ebenso kläglich wie Oliver aus. Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf das Buch, das die unschuldige Ursache dieses aufregenden Auftritts gewesen war.

"Es ist etwas im Gesicht des Jungen", sagte der alte Herr gedankenvoll zu sich selbst, "ein Ausdruck ist darin, der mich rührt und mich für ihn einnimmt. Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, wie – ja wie –", hier hielt der alte Herr plötzlich inne; "Herrgott im Himmel, wo habe ich ein ähnliches Gesicht früher schon mal gesehen?"

Der alte Herr sann einige Augenblicke nach und trat dann in ein Wartezimmer des Polizeiamtes. Hier zog er sich in einen Winkel zurück und ließ eine Reihe von Gesichtern an seinem geistigen Auge vorbeiziehen. "Nein, es muss Einbildung sein", sagte der alte Herr, den Kopf schüttelnd. Er stieß einen Seufzer aus und vertiefte sich wieder in die alte Schwarte.

Ein Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter und ersuchte ihn, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Er schloss eilig das Buch und stand alsbald dem berühmten Herrn Fang gegenüber.

Das Amtszimmer lag nach vorn hinaus und hatte getäfelte Winde. Herr Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke. Neben der Tür war ein hölzerner Verschlag in dem sich bereits der arme, am ganzen Körper zitternde Oliver befand. Herr Fang war ein Mann von mittlerer Größe. Mager, glatzköpfig, hatte er ein finsteres, stark gerötetes Gesicht. Wenn er wirklich nicht mehr trank, alt ihm zuträglich war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Verleumdungsklage anstrengen können. Beträchtlicher Schadenersatz wäre ihm sicher gewesen.

Der alte Herr verbeugte sich höflich, trat an das Pult und überreichte seine Karte. Zufälligerweise las Herr Fang gerade in der Zeitung einen Artikel, der eine seiner neuen Entscheidungen abfällig besprach. Er war daher höchst übel gelaunt und guckte ärgerlich auf.

"Wer sind Sie?" herrschte er den alten Herrn an.

Der alte Herr wies etwas überrascht auf seine Karte.

"Gerichtsdiener", sagte Herr Fang, indem er mit der Zeitung die Karte verächtlich vom Pult fegte, "wer ist dieser Mensch?"

Mein Name", sagte der alte Herr würdig, "mein Name, Herr, ist Brownlow. Gestatten Sie mir nun auch, nach dem Namen des Richters zu fragen, der ohne irgendeinen Anlass einen anständigen Mann so beleidigend behandelt."

"Gerichtsdiener!" fuhr Herr Fang unbeirrt fort, "wessen ist dieser Bursche angeklagt?"

"Euer Gnaden, er ist kein Angeklagter, sondern tritt als Kläger gegen diesen jungen auf", erwiderte der Gerichtsdiener.

Seine Gnaden wussten das sehr gut, konnten jedoch auf diese Weise ohne Gefahr unverschämt werden.

"Tritt als Kläger gegen den Jungen auf, – so, so!" sagte Herr Fang und maß Brownlow mit einem verächtlichen Blick. – "Nehmen Sie ihm den Eid ab."

"Ehe man mich vereidigt, bitte ich ein paar Worte sagen zu dürfen", sprach Herr Brownlow: "nämlich, dass ich nie geglaubt hätte, wäre es mir nicht selbst passiert –"

"Halten Sie den Mund, Herr!" rief Herr Fang im Befehlston.

"Nein, Herr", versetzte der alte Herr.

"Wenn Sie nicht augenblicklich den Mund halten, lasse ich Sie hinausführen" brüllte Herr Fang. "Sie sind ein ganz unverschämter Mensch. Wie können Sie es wagen, einen Richter anzuschnauzen?"

"Was sagen Sie da?" rief der alte Herr puterrot.

"Vereidigen Sie den Menschen!" sagte Fang zu einem Schreiber. "Ich will nichts mehr hören. Vereidigen Sie ihn."

Herrn Brownlows Entrüstung war aufs höchste gestiegen, und er wollte seinen Gefühlen auch Luft machen. Da er aber befürchtete, damit Oliver zu schaden, so unterdrückte er sie und ließ sich vereidigen.

"Nun", beginn Herr Fang, "wessen wird der Junge beschuldigt. Was haben Sie vorzubringen, Herr?"

"Ich stand an einer Bücherbude –"

»Schweigen Sie, Herr!" unterbrach ihn Herr Fang. "Wo ist der Polizist? Hier, vereidigen Sie den Polizisten. Nun, was wissen Sie von der Sache?"

Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, was ihm von der Anklage bekannt geworden war. Er habe auch Oliver untersucht und nichts bei ihm gefunden. Weiter könne er nichts angeben.

"Sind Zeugen da?" fragte Herr Fang.

"Nein, Euer Gnaden", erwiderte der Polizist.

 

Herr Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sprach mit immer zunehmender Heftigkeit:

"Wollen Sie nun endlich sagen, wessen Sie diesen Knaben beschuldigen? Sie haben geschworen. Wenn Sie Ihr Zeugnis verweigern, so werde ich Sie wegen Nichtachtung des Gerichts in Strafe nehmen. Ja, das will ich bei –"

Bei wem oder bei was ließ sich nicht vernehmen, denn der Schreiber und der Gefängniswärter brachen in diesem Augenblick in ein lautes Husten aus. Ersterer ließ auch noch ein schweres Buch auf die Erde fallen, zufällig natürlich, so dass man das Wort nicht verstehen konnte.

Unter mancherlei Unterbrechungen und wiederholten Beleidigungen gelang es endlich Herrn Brownlow, den Tatbestand auseinanderzusetzen. Er drückte dabei den Wunsch aus, dass das Gericht so nachsichtig, als es das Gesetz erlaube, mit dem Jungen verfahren möchte. "Er ist bereits verletzt", schloss der alte Herr seine Ausführungen, "und ich fürchte, er fühlt sich gar nicht wohl."

"Ich glaube es auch", sagte Herr Fang höhnisch lächelnd. "Höre mal, du kleiner Landstreicher, mach hier kein Theater, damit kommst du bei mir nicht durch. Wie heißt du?"

Oliver wollte antworten, konnte aber keinen Ton herausbringen. Er wurde leichenblass, und alles schien sich um ihn zu drehen.

"Wie heißt du, verstockter Lümmel?", schrie ihn Herr Fang wiederholt an. "Gerichtsdiener, wie heißt er?"

Dieser, ein alter Mann, beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage. Als er fand, dass der Junge tatsächlich außerstande war zu antworten, nannte er, um den Richter nicht noch wütender zu machen, aufs Geratewohl einen Namen.

"Er sagt, er heiße Tom White, Euer Gnaden!"

"Wo wohnt er?" fuhr Herr Fang fort.

"Wo er kann, Euer Gnaden", antwortete der Gerichtsdiener, indem er sich so anstellte, als spräche er Oliver nach.

"Hat er Eltern?" fragte Herr Fang.

"Er sagt, sie seien in seiner frühesten Jugend gestorben, Euer' Gnaden", entgegnete der Gerichtsdiener, indem er auf gut Glück die in solchen Fällen übliche Antwort gab.

Oliver hob jetzt den Kopf hoch, sah mit flehenden Blicken um sich, und bat leise um einen Schluck Wasser.

"Quatsch!" sagte Herr Fang. "Willst mich wohl zum Narren halten?"

"Ich glaube, ihm ist wirklich schlecht, Euer Gnaden", wandte der Gerichtsdiener ein.

"Ich weiß das besser", brüllte Herr Fang.

"Halten Sie ihn, Gerichtsdiener", rief der alte Herr, unwillkürlich die Hände ausstreckend, "er fällt gleich."

"Nichts da, Gerichtsdiener", schrie Herr Fang, "lassen Sie ihn fallen, wenn er Lust hat."

Oliver machte von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch und fiel ohnmächtig zu Boden.

"Ich wusste, dass es Verstellung war", sagte Herr Fang. "Lasst ihn liegen, er wird's bald müde werden!"

"Wie gedenken Sie in diesem Falle zu verfahren, Herr?" fragte leise der Gerichtsschreiber.

"Summarisch", antwortete Herr Fang. Er wird drei Monate eingesperrt –, natürlich mit harter Arbeit. Schafft ihn fort!"

Einige Beamte schickten sich gerade an, den bewusstlosen Oliver in seine Zelle zu tragen, als ein ältlicher Mann von anständigem, aber erbärmlichem Äußern atemlos ins Zimmer stürzte und vor den Richter trat:

"Halt, halt! Tragt ihn noch nicht fort. Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!"

"Was ist los? Wer sind Sie? Hinaus mit dem Menschen. Räumt den Gerichtssaal!" schrie Herr Fang.

"Ich will aussagen", rief der Mann. "Ich lasse mich nicht hinauswerfen. Ich sah alles mit an. Ich bin der Besitzer der Bücherbude. Ich verlange vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abweisen. Sie müssen mich anhören, Herr Fang. Sie dürfen mein Zeugnis nicht ablehnen!"

Der Mann war in seinem Rechte und trat bestimmt auf. Man konnte nicht darüber hinweggehen.

"Lassen Sie den Menschen schwören", knurrte Herr Fang mürrisch. "Nun, was haben Sie zu bekunden?"

"Folgendes. Ich sah drei Jungen – diesen hier und zwei andere – auf der anderen Seite der Straße dahinschlendern, als dieser Herr vor meiner Bude stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Jungen begangen. Ich habe es genau gesehen und auch bemerkt, dass dieser Junge hier darüber ganz erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen war!"

"Warum kamen Sie nicht schon früher?" fragte Fang nach einer Pause.

"Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierhergeeilt."

"Also der Ankläger las, nicht wahr?", fragte Fang nach einer weiteren Pause.

"Ja", erwiderte der Mann, "im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!"

"So – in diesem Buch? Ist es denn bezahlt?" erkundigte sich Herr Fang.

"Nein, noch nicht", erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.

"Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen", sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.

"Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen", sagte Herr Fang und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.

"Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal."

"Donnerwetter", schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch. "Donnerwetter, ich will –"

"Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?" brüllte der Richter.

Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und des Trotzes darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Oliver auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblass, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper. "Armes Kind!" sagte Herr Brownlow, als er sich über ihn beugte. "Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?" Man holte einen und bettete Oliver auf einen Sitz, während Herr Brownlow auf dem anderen Platz nahm.

"Darf ich Sie begleiten?" fragte der Buchhändler.

"Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren."

Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.