Buch lesen: «Der schöne Sommer»
Die vorliegenden drei Romane erschienen unter dem Titel Der schöne Sommer in einem Band 1949 in der Reihe »Supercoralli« bei Einaudi. Im Klappentext schrieb Pavese: »Ein Band, drei Romane. Jeder davon könnte ein eigenes Buch sein. Warum kommen Der schöne Sommer, Der Teufel auf den Hügeln und Die einsamen Frauen zusammen heraus? Es ist nicht das, was man Trilogie nennt, es geht um ein moralisches Klima, ein Zusammentreffen von Themen, um ein wiederkehrendes geistiges Klima im freien Spiel der Fantasie. Obwohl reich an landschaftlichen Bezügen – und Der Teufel auf den Hügeln fragt sich sogar im Ansatz, was denn Natur und Land sind –, sind es drei urbane Romane, drei Romane über die Entdeckung der Stadt und der Gesellschaft, drei Romane über jugendliche Begeisterung und gescheiterte Leidenschaft. In jeder der unterschiedlichen Handlungen und Milieus kehrt das Thema der Versuchung wieder, der Einfluss, dem alle Jugendlichen zwangsläufig ausgesetzt sind. Ein weiteres Thema ist die atemlose Suche nach dem Laster, das übermütige Bedürfnis, die Norm zu übertreten, an die Grenzen zu stoßen. Und noch ein gemeinsames Thema ist, dass die natürliche Strafe den Unschuldigsten und Wehrlosesten trifft, den ›Jüngsten‹.«
Im Manuskript ist Der schöne Sommer datiert 2. März – 6. Mai 1940 und trägt den Titel La tenda (Der Vorhang); Der Teufel auf den Hügeln ist datiert 20. Juni – 4. Oktober 1948; Die einsamen Frauen 17. März – 26. Mai 1949.
Cesare Pavese
Der schöne Sommer
Drei Romane
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 1949 unter dem Titel La bella estate bei Giulio Einaudi Editore erschienen.
Maja Pflugs Übersetzung von Der schöne Sommer sowie von Einsame Frauen, 2012 bzw. 2008 erstmals erschienen, wurde für diese Ausgabe neu durchgesehen.
»Portrait eines Freundes« von Natalia Ginzburg ist dem Band Die kleinen Tugenden entnommen. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach.
© 1989, 1996, 2001, 2016, 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
© 2021 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
Lektorat: Daniela Koch
eISBN: 978-3-85869-904-6
1. Auflage
INHALT
Der schöne Sommer
Der Teufel auf den Hügeln
Die einsamen Frauen
Statt eines Nachworts Natalia Ginzburg, Porträt eines Freundes
Cesara Pavese Ausgewählte Daten zu Leben und Werk
Der schöne Sommer
I.
Damals war immer Festtag. Es genügte, das Haus zu verlassen und die Straße zu überqueren, schon wurden die Mädchen wie verrückt, und alles war so schön, besonders nachts, dass sie, wenn sie todmüde zurückkehrten, immer noch hofften, dass etwas geschähe, dass ein Brand ausbräche, dass zu Hause ein Kind geboren würde oder dass es womöglich plötzlich Tag würde und alle Leute auf die Straße liefen und man immer weiter und weiter gehen könnte bis zu den Wiesen und hinter die Hügel. »Ihr seid gesund, ihr seid jung«, sagten sie, »ihr seid Mädchen und habt keine Sorgen, das ist selbstverständlich.« Doch sogar Tina, eine von ihnen, die hinkend aus dem Krankenhaus gekommen war und zu Hause nichts zu essen hatte, auch sie lachte unentwegt über nichts, und eines Abends, als sie hinter den anderen hertrottete, war sie stehengeblieben und hatte zu weinen begonnen, weil Schlafen eine Dummheit war und der Fröhlichkeit die Zeit stahl.
Wenn Ginia solche Krisen überfielen, ließ sie sich nichts anmerken, sondern begleitete eine der anderen heim und redete und redete, bis sie nichts mehr zu sagen wussten. Kam dann der Augenblick, sich zu verabschieden, so waren sie schon eine ganze Weile wie allein, und Ginia ging ruhig nach Hause, ohne der Gesellschaft nachzutrauern. Die schönsten Nächte waren natürlich samstags, wenn sie zum Tanzen gingen und am nächsten Tag ausschlafen konnten. Aber es genügte auch weniger, und manchmal, wenn sich Ginia morgens auf den Weg zur Arbeit machte, war sie schon glücklich über das Stück Straße, das sie erwartete. Die anderen sagten: »Wenn ich spät heimkomme, bin ich dann müde; wenn ich spät heimkomme, kriege ich eins hinter die Ohren.« Doch Ginia war nie müde, und ihr Bruder, der nachts arbeitete, sah sie nur zum Abendessen, und tagsüber schlief er. Mittags (Severino drehte sich im Bett um, wenn sie hereinkam) deckte Ginia den Tisch und aß hungrig, kaute dabei gemächlich und lauschte den Geräuschen im Haus. Die Zeit verstrich langsam, wie es in leeren Wohnungen so ist, und Ginia hatte Zeit, das Geschirr abzuwaschen, das im Spülbecken wartete, ein wenig sauber zu machen, sich dann auf dem Sofa unter dem Fenster auszustrecken und beim Ticken des Weckers aus dem Nebenzimmer einzuschlummern. Manchmal schloss sie auch die Fensterläden, damit es dunkel wurde und sie sich noch einsamer fühlte. Rosa würde sowieso um drei die Treppe herunterkommen und leise, um Severino nicht zu wecken, an der Türe kratzen, bis sie ihr antwortete, sie sei wach. Dann verließen sie gemeinsam das Haus und verabschiedeten sich an der Straßenbahn.
Ginia und Rosa hatten nichts gemein außer diesem Stück Weg und einem Stern aus kleinen Perlen im Haar. Doch als sie einmal an einem Schaufenster vorübergingen und Rosa sagte: »Wir sehen aus wie Schwestern«, merkte Ginia, wie ordinär dieser Stern war, und begriff, dass sie einen kleinen Hut tragen musste, wenn sie nicht auch wie eine Arbeiterin wirken wollte. Umso mehr, da Rosa, die noch von Vater und Mutter abhängig war, sich erst wer weiß wann einen würde leisten können.
Wenn sie vorbeisah, um Ginia zu wecken, kam Rosa herein, falls es nicht schon zu spät war; und Ginia ließ sich beim Aufräumen helfen und lachte halblaut über Severino, der, wie alle Männer, nicht wusste, was es hieß, einen Haushalt zu führen. Zum Spaß nannte Rosa ihn dann »deinen Mann«, aber nicht selten machte Ginia ein finsteres Gesicht und erwiderte, die ganze Arbeit mit dem Haushalt zu haben, aber keinen Mann, sei gar nicht lustig. Ginia meinte es nicht ernst – denn ihr Vergnügen bestand genau darin, diese Stunde allein zu Hause zu verbringen, ganz ihre eigene Herrin –, doch ab und zu musste man Rosa zu verstehen geben, dass sie keine Kinder mehr waren. Auch auf der Straße wusste Rosa sich nicht zu benehmen und schnitt Grimassen, lachte, drehte sich um – Ginia hätte sie verprügeln mögen. Aber wenn sie zusammen tanzen gingen, war Rosa unentbehrlich, denn sie duzte alle, und ihre Verrücktheiten zeigten den anderen, dass Ginia feiner war. In diesem schönen Jahr, als sie begannen, allein zu leben, hatte Ginia bald gemerkt, was sie von den anderen Mädchen unterschied, nämlich dass sie auch zu Hause allein war – Severino zählte nicht – und mit sechzehn Jahren wie eine Frau leben konnte. Deshalb ließ sie sich, solange sie den Stern im Haar trug, von Rosa begleiten, weil sie sie lustig fand. Im ganzen Viertel gab es keine Zweite, die, wenn sie wollte, so albern war wie Rosa. Sie konnte jeden aus der Fassung bringen, indem sie lachte und in die Luft schaute, und ganze Abende war alles, was sie tat und sagte, die reine Komödie. Und sie war angriffslustig wie ein Hahn. »Was hast du, Rosa?«, fragte einer, während sie noch warteten, dass das Orchester zu spielen anfing. »Angst« – und die Augen traten ihr dabei aus dem Kopf –, »ich habe da hinten einen alten Mann gesehen, der mich anstarrt, er wartet draußen auf mich, ich fürchte mich.« Der Junge glaubte es nicht. »Das wird dein Großvater sein.« – »Dummkopf.« – »Also tanzen wir.« – »Nein, ich habe Angst.« Nach der halben Runde hörte Ginia den Jungen rufen: »Du ungezogene Göre, eine Hexe bist du, hau ab und verschwinde. Geh doch zurück in die Fabrik!« Da lachte Rosa und brachte auch alle anderen zum Lachen, aber Ginia dachte im Weitertanzen, dass es wirklich die Fabrik war, die ein Mädchen so herunterkommen ließ. Übrigens brauchte man ja nur die Mechaniker anzusehen, die eine Bekanntschaft auch immer mit solchen Scherzen begannen.
War einer von ihnen mit von der Partie, konnte man sicher sein, dass noch vor dem Dunkelwerden ein Mädchen wütend wurde oder, wenn sie dümmer war, weinte. Sie trieben genau solche Späße wie Rosa. Immer wollten sie die Mädchen mit in die Wiesen nehmen. Man konnte sich nicht mit ihnen unterhalten, sondern musste gleich auf der Hut sein. Aber schön war, dass dann an manchen Abenden gesungen wurde, und sie sangen gut, vor allem wenn Ferruccio mit der Gitarre kam, ein großer Blonder, der ständig arbeitslos war, aber noch ganz schwarze, rissige Finger hatte von der Kohle. Es schien unmöglich, dass diese groben Hände so geschickt waren, und Ginia, die sie einmal unter der Achsel gespürt hatte, als sie alle gemeinsam von den Hügeln zurückkehrten, achtete darauf, sie nicht anzusehen, während sie spielten. Rosa hatte ihr gesagt, dass sich dieser Ferruccio zwei- oder dreimal nach ihr erkundigt habe, und Ginia hatte geantwortet: »Sag ihm, er soll sich zuerst die Fingernägel sauber machen.« Beim nächsten Mal erwartete sie, dass Ferruccio lachen würde, aber er hatte sie keines Blickes gewürdigt.
Doch dann kam der Tag, an dem Ginia aus dem Schneideratelier trat und sich noch mit beiden Händen den Hut zurechtrückte, als Rosa unvermutet am Haustor auf sie zusprang. »Was ist los?« – »Ich bin aus der Fabrik fortgelaufen.« Gemeinsam gingen sie den Bürgersteig entlang bis zur Straßenbahn, aber Rosa blieb stumm. Ginia war verärgert und wusste nicht, was sie sagen sollte. Erst als sie in der Nähe ihres Hauses aus der Straßenbahn stiegen, murmelte Rosa leise, dass sie Angst habe, schwanger zu sein. Ginia nannte sie ein dummes Ding, und sie stritten sich an der Ecke. Dann ging die Sache vorüber, denn Rosa hatte sich nur vor Schreck in diesem Zustand geglaubt, aber unterdessen war Ginia aufgeregter als sie, weil sie sich vorkam, als habe man sie betrogen und wie ein Kind behandelt, während die anderen sich amüsierten, und noch dazu Rosa, die kein bisschen Ehrgeiz hatte. »Ich bin mehr wert«, sagte Ginia, »mit sechzehn ist es noch zu früh. Selber schuld, wenn sie sich so wegwerfen will.« Das sagte sie, aber sie konnte nicht ohne Demütigung daran zurückdenken, denn die Vorstellung, dass die anderen Mädchen alle schon in den Wiesen gewesen waren, ohne es je zu erwähnen, während ihr, die allein lebte, die Hand eines Mannes noch Herzklopfen verursachte, diese Vorstellung nahm ihr den Atem. »Warum bist du an dem Tag zu mir gekommen, um es mir zu sagen?«, fragte sie Rosa eines Nachmittags, während sie zusammen aus dem Haus gingen. »Wem hätte ich es denn sonst sagen sollen?« – »Warum hast du mir vorher nie was gesagt?« Rosa, die jetzt beruhigt war, lachte. »Wenn man nichts sagt, ist es schöner. Es bringt Unglück, darüber zu reden.« Ginia dachte: »Sie ist ein dummes Ding. Jetzt lacht sie, aber vorher wollte sie sich umbringen. Sie ist noch gar keine Frau, das ist es.« Auch wenn sie allein durch die Straßen ging, dachte sie nun oft, sie seien alle zu jung und man müsste sofort zwanzig sein, um zu wissen, wie man sich verhalten solle.
Einen ganzen Abend lang beobachtete sie Rosas Liebsten – Pino mit der krummen Nase, einen kleinen Kerl, der nur Billard spielen konnte und nichts tat und beim Reden die Mundwinkel verzog. Ginia verstand nicht, warum Rosa immer noch mit ihm ins Kino ging, nachdem sie erfahren hatte, wie feige er war. Ihr wollte dieser Sonntag nicht aus dem Kopf gehen, an dem sie alle zusammen Boot gefahren waren und man gesehen hatte, dass Pinos Rücken voller Sommersprossen war, wie Rost sah es aus. Jetzt, da sie alles wusste, erinnerte sie sich, dass Rosa an jenem Tag mit ihm unter den Bäumen verschwunden war. Wie dumm sie gewesen war, es nicht zu begreifen. Aber noch dümmer war Rosa, und das sagte sie ihr auch noch einmal am Eingang zum Kino.
Wenn sie daran dachte, wie oft sie Boot gefahren waren! Man scherzte, lachte, neckte die Paare. Ginia, die mehr auf die anderen Mädchen achtete, hatte Rosa und Pino nicht bemerkt. In der Mittagshitze waren sie und die hinkende Tina allein im Boot zurückgeblieben. Die anderen, einschließlich Rosa, waren an Land gegangen, wo man sie schreien hörte. Tina, die Rock und Bluse anbehalten hatte, sagte zu Ginia: »Wenn niemand kommt, ziehe ich mich aus, um mich zu sonnen.« Ginia erwiderte, sie würde aufpassen, lauschte aber stattdessen den Stimmen und dem Schweigen am Ufer. Nach einiger Zeit war es ganz still auf dem ruhigen Wasser. Tina lag in der Sonne, ein Handtuch um die Hüften. Da war Ginia ins Gras gesprungen und barfuß ein paar Schritte gegangen. Auch die Stimme von Amelia, die alle anderen hinter sich hergezogen hatte, war nicht mehr zu hören. Dumm, wie sie war, hatte Ginia sich eingebildet, sie spielten Verstecken, und nicht nach ihnen gesucht, sondern war aufs Boot zurückgekehrt.
II.
Von Amelia wusste man wenigstens, dass sie ein anderes Leben führte. Ihr Bruder war Mechaniker, doch sie tauchte an jenen Sommerabenden nur ab und zu auf und gestattete niemandem Vertraulichkeiten, lachte aber mit allen, weil sie schon neunzehn oder zwanzig war. Ginia hätte gern ihre Figur gehabt, denn an Amelias Beinen machten sich die feinen Strümpfe wirklich gut. War Amelia allerdings im Badeanzug, sah man ihre ausladenden Hüften, und ihre Gesichtszüge erinnerten ein bisschen an ein Pferd. »Ich bin arbeitslos«, sagte sie eines Abends zu Ginia, während diese ihr Kleid musterte, »ich habe den ganzen Tag Zeit, über ein Modell nachzudenken. Ich habe Zuschneiden gelernt, als ich noch wie du in der Schneiderei arbeitete, weißt du?« Ginia dachte, dass es am schönsten wäre, sich die Kleider machen zu lassen, sagte aber nichts. Vielmehr drehten sie an jenem Abend zusammen eine Runde, und Ginia begleitete Amelia bis nach Hause, denn sie fühlte sich hellwach und dachte nicht ans Schlafen. Es hatte geregnet, und der Asphalt und die Bäume waren wie frisch gewaschen: Man spürte die Kühle im Gesicht.
»Du gehst gern spazieren«, sagte Amelia lachend. »Was meint dein Bruder Severino dazu?« – »Um diese Zeit ist Severino bei der Arbeit. Alle Straßenlaternen zündet er an und überwacht sie.« – »Dann ist er es, der den Paaren Licht macht? Wie ist er angezogen? Wie ein Gasmann?« – »Aber nein«, sagte Ginia lachend, »er überwacht die Schalter in der Zentrale. Er verbringt die Nacht an einer Maschine.« – »Und lebt ihr allein? Hält er dir keine Moralpredigten?« Amelia redete fröhlich und unbefangen, wie jemand, der alle kennt, und Ginia fiel es nicht schwer, sie zu duzen. »Bist du schon lange arbeitslos?«, fragte sie sie.
»Eine Arbeit habe ich. Ich lasse mich malen.«
Nach der Stimme zu urteilen, klang es wie ein Scherz, und Ginia sah sie an. »Malen? Wie?«
»Von vorn, im Profil; angezogen, nackt. Modell stehen nennt man das.«
Ginia hörte zu und heuchelte Erstaunen, damit sie weiterredete, aber sie wusste längst, was Amelia da erzählte. Nur hätte sie nie geglaubt, dass Amelia mit ihr darüber sprechen würde, weil sie es nie einer von ihnen gesagt hatte, sondern Rosa das Geheimnis nur durch Portiersfrauen entdeckt hatte.
»Gehst du tatsächlich zu einem Maler?«
»Ich ging«, sagte Amelia. »Aber im Sommer kommt es ihn billiger, im Freien zu malen. Im Winter ist es zu kalt, um nackt zu posieren, und so arbeitet man so gut wie nie.«
»Hast du dich wirklich ausgezogen?« – »Aber ja«, sagte Amelia.
Dann hakte sie sich bei Ginia unter und fügte hinzu: »Es ist eine schöne Arbeit, weil du nichts tust und den Gesprächen zuhörst. Ich ging mal zu einem, der hatte ein wunderbares Atelier, und wenn Leute kamen, wurde Tee getrunken. Da lernt man, sich in der Welt zu bewegen, besser als im Kino.«
»Kamen sie einfach herein, während du Modell standest?«
»Sie klopften vorher an. Das Schönste sind die Frauen. Wusstest du, dass Frauen auch Bilder malen? Sie bezahlen ein Mädchen, um es nackt abzumalen. Warum stellen sie sich nicht vor den Spiegel? Wenn sie einen Mann malten, würde ich es noch verstehen.«
»Vielleicht tun sie das auch«, sagte Ginia.
»Kann gut sein«, sagte Amelia, indem sie am Haustor stehenblieb, und zwinkerte Ginia zu. »Aber manchen Modellen zahlen sie das Doppelte. Na wenn schon, die Welt ist schön, weil sie bunt ist.«
Ginia fragte, warum sie sie nicht einmal besuchen käme, und ging dann allein zurück über den schimmernden Asphalt, den die laue Wärme der Nacht schon fast getrocknet hatte. »So alt, wie sie ist, erzählt sie zu viel von sich«, dachte Ginia zufrieden. »Wenn ich ihr Leben führte, würde ich es schlauer anstellen.«
Ginia war ein wenig enttäuscht, als sie merkte, dass die Tage vergingen und Amelia sie nicht besuchte. Offenbar hatte sie an jenem Abend doch nicht versucht, Freundschaft zu schließen, aber dann – dachte Ginia – heißt das ja, dass sie diese Sachen jedem erzählt und dass sie wirklich dumm ist. Vielleicht hält sie mich für ein Kind, für eine von denen, die alles glauben. Und eines Abends erzählte Ginia den anderen Mädchen, sie habe in einem Geschäft ein Gemälde gesehen, für das Amelia Modell gestanden habe, das begreife man sofort. Alle glaubten es, aber Ginia wollte noch erklären, sie habe sie am Körper erkannt, denn wenn das Modell nackt sei, veränderten die Maler extra das Gesicht. »Glaub bloß nicht, dass die so viel Rücksicht nehmen«, sagte Rosa, und alle lachten Ginia aus wegen ihrer Naivität. »Ich wäre froh, wenn mich ein Maler porträtieren und auch noch dafür bezahlen würde«, sagte Clara. Dann diskutierten sie darüber, ob Amelia schön sei, und Claras Bruder, der mit ihnen Boot gefahren war, sagte, nackt sei er schöner. Alle Mädchen lachten, und Ginia sagte: »Wenn sie nicht gut gebaut wäre, würde kein Maler sie malen«, aber niemand hörte auf sie. An jenem Abend fühlte sie sich gedemütigt und hätte am liebsten vor Wut geweint; aber die Tage vergingen, und als sie – aus der Straßenbahn steigend – Amelia wieder einmal traf, schlenderten sie plaudernd zusammen weiter. Ginia war sogar eleganter als Amelia, die ihren Hut in der Hand trug und beim Lachen die Zähne zeigte.
Am darauffolgenden Nachmittag kam Amelia sie besuchen. In der Hitze erschien sie in der weit geöffneten Tür, und Ginia sah sie aus dem Dunkeln, ohne selbst gesehen zu werden. Sie begrüßten sich freudig, nachdem Ginia die Fensterläden aufgestoßen hatte, und Amelia blickte sich um, während sie sich mit dem Hut Luft zufächelte. »Die Idee mit der offenen Tür gefällt mir«, sagte Amelia. »Du hast Glück. Bei mir zu Haus ginge das nicht, wir wohnen im Erdgeschoss.« Dann warf sie einen Blick in das andere Zimmer, wo Severino schlief, und sagte: »Bei uns ist ständig Rummel. Wir sind zu fünft in zwei Zimmern, die Katzen nicht mitgezählt.« Als es Zeit war, machten sie sich gemeinsam auf den Weg, und Ginia sagte zu ihr: »Komm zu mir, wenn du dein Erdgeschoss satthast; hier hat man seine Ruhe.« Sie wollte Amelia zu verstehen geben, dass sie es nicht sagte, um ihre Familie schlechtzumachen, sondern weil sie sich darüber freute, wie gut sie miteinander auskamen. Und Amelia sagte weder Ja noch Nein, lud sie aber zu einem Kaffee ein, bevor sie die Straßenbahn nahm. Am nächsten Tag ließ sie sich dann nicht blicken und am übernächsten auch nicht. Sie kam vielmehr eines Abends, ohne Hut, setzte sich und bat lachend um eine Zigarette. Ginia spülte gerade die letzten Teller, und Severino rasierte sich. Er hielt Amelia eine Zigarette hin und gab ihr mit nassen Fingern Feuer, und sie scherzten alle drei über die Laternen. Severino musste sich beeilen, fand aber noch Zeit, Ginia zu sagen, sie solle nicht die ganze Nacht aufbleiben. Amelia sah ihm belustigt nach, als er hinausging.
»Willst du nicht mal in ein anderes Tanzlokal?«, fragte sie Ginia. »Diese Jungen sind ja sehr nett, aber zu anhänglich. Genau wie deine Freundinnen.«
Sie gingen ins Zentrum, alle beide ohne Hut, die kühlen Alleen entlang, und als Erstes kauften sie sich ein Eis, betrachteten, während sie es leckten, die Leute und lachten. Mit Amelia war alles einfacher, man amüsierte sich prächtig mit ihr, als wäre nichts wichtig und als könnten an diesem Abend die verschiedensten Dinge geschehen. Ginia wusste, auf Amelia, die zwanzig war, sich frech bewegte und schaute, konnte sie sich verlassen. Amelia hatte nicht einmal Strümpfe angezogen wegen der Hitze; und als sie an einem Tanzlokal vorbeikamen, einem mit gedämpft spielendem Orchester und Lämpchen auf den Tischen, fürchtete Ginia, sie müsse mit ihr hineingehen. Sie war noch nie dort gewesen und hielt den Atem an. Amelia fragte: »Du willst doch nicht etwa hier reingehen?«
»Es ist heiß, und wir sind nicht passend angezogen«, sagte Ginia. »Lass uns spazieren gehen, das ist schöner.«
»Dazu habe ich auch keine Lust«, sagte Amelia, »aber was machen wir sonst? Du willst doch nicht bloß an einer Ecke stehen und über die Leute lachen, die vorbeikommen?«
»Was möchtest du denn?«
»Wenn wir keine Frauen wären, hätten wir ein Auto und wären jetzt längst an einem See beim Baden.«
»Komm, wir bummeln und unterhalten uns ein bisschen«, sagte Ginia.
»Wir könnten auf den Hügel gehen, einen Wein trinken und was singen. Magst du Wein?«
Ginia verneinte, und Amelia betrachtete den Eingang des Lokals. »Aber ein Gläschen trinken wir. Los, komm. Wer sich langweilt, ist selber schuld.« Das Gläschen tranken sie im ersten Café, das sie fanden, und als sie wieder herauskamen, spürte Ginia eine Frische in der Luft, die vorher nicht da gewesen war, und dachte, wie schön es war, dass Likör im Sommer das Blut abkühlte. Unterdessen erklärte Amelia ihr, wer den ganzen Tag nichts tue, habe wenigstens das Recht, sich abends zu zerstreuen, doch manchmal komme der Augenblick, da fürchte man sich als Frau davor, wie die Zeit vergeht, und wisse nicht mehr, ob es sich lohne, so zu rennen. »Geht dir das nicht so?« – »Ich renne nur auf dem Weg zur Arbeit«, sagte Ginia, »ich amüsiere mich so wenig, dass ich keine Zeit habe, darüber nachzudenken.« – »Du bist jung«, sagte Amelia, »mir passiert es, dass ich nicht mal bei der Arbeit stillhalte.«
»Als du Modell gestanden hast, musstest du stillhalten«, sagte Ginia im Gehen.
Amelia begann zu lachen. »Keinesfalls. Die geschicktesten Modelle sind solche, die den Maler zur Verzweiflung treiben. Wenn du dich nicht ab und zu bewegst, vergisst er, dass du für ihn posierst, und behandelt dich wie ein Dienstmädchen. Wer sich zum Schaf macht, wird vom Wolf gefressen.«
Ginia antwortete nur mit einem Lächeln. Doch ein Wort brannte ihr auf der Zunge, noch unwiderstehlicher als der Likör. Da fragte sie Amelia, warum sie sich nicht irgendwo ins Kühle setzten und noch ein Gläschen tranken. »Aber ja«, sagte Amelia. Sie tranken es an der Bar, weil das billiger war.
Nun begann Ginia, sich erhitzt zu fühlen, und sagte im Hinausgehen mühelos zu Amelia: »Ich wollte dich etwas fragen. Ich würde dich gern mal Modell stehen sehen.«
Sie sprachen noch eine Weile darüber, und Amelia lachte, denn das Modell, ob nackt oder bekleidet, interessiere die Männer, nicht ein anderes Mädchen. Das Modell hält einfach still, was gibt es da zu sehen? Ginia sagte, sie wolle zusehen, wie der Maler sie male: Sie habe noch nie jemanden mit Farben hantieren sehen, das müsse schön sein. »Nicht heute oder morgen«, sagte sie, »jetzt bist du arbeitslos. Aber du musst mir versprechen, mich mitzunehmen, wenn du wieder hingehst.« Amelia lachte noch einmal und erklärte ihr, was die Maler angehe, das sei das wenigste: Sie wisse, wo sie wohnten, und könne sie hinbringen. »Aber pass auf, das sind Schufte.« Auch Ginia lachte.
Dann setzten sie sich auf eine Bank, und niemand kam vorbei, denn es war weder früh noch spät. Sie beendeten den Abend in einem Tanzlokal auf dem Hügel.