Buch lesen: «Gewalt durch Gruppen»

Schriftart:

Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie

Herausgegeben von

Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,

Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.

Band 24 Gewalt durch Gruppen

von

Detlef Averdiek-Gröner

Udo Behrendes

Carsten Dübbers


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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book

1. Auflage 2019

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2019

ISBN 978-3-8011-0828-1 (EPUB)

Buch

1. Auflage 2019

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2019

Druck und Bindung: Druckerei Hubert & Co, Göttingen

ISBN 978-3-8011-0827-4

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Vorwort der Herausgeber

Silvester, Fußball und Demonstrationen – ausgelassenes Feiern zum Jahreswechsel, wöchentliche sportliche Großereignisse mit Choreografie und Emotionen, kollektive demokratisch legitimierte Meinungsäußerung – drei Anlässe, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Und doch – in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der polizeilichen Arbeitsrealität verbindet sie zunehmend eines: in aller Öffentlichkeit durch Gruppen ausgeübte Übergriffe, Randale und Gewalt.

Ein eher neues Gewaltphänomen ist das erste, geprägt vor allem durch die Ereignisse der Silvesternacht 2015/2016 in Köln mit zahlreichen Eigentumsdelikten und sexuellen Übergriffen von jungen Männern, überwiegend aus dem nordafrikanischen und nahöstlichen Raum. Im Zusammenhang mit der in dieser Zeit zunehmend geführten politischen Diskussion um wachsende Gewaltkriminalität durch Zuwanderer und Flüchtlinge hat kaum ein einzelnes Ereignis in so starkem Ausmaß Veränderungen in gesellschaftlicher Einschätzung, politischem Agieren und normativer Rechtsetzung bewirkt. Wie ist dem Phänomen polizeilich zu begegnen?

Eher altbekannt und alltäglich erscheinen dagegen die beiden anderen Phänomene.

Fußball und Gewalt sind seit langem miteinander verwoben. Nicht erst seit der Fußballweltmeisterschaft 1998 mit den Ausschreitungen deutscher Fußballfans und ihren Attacken auf den französischen Polizisten Daniel Nivel gehören Ausschreitungen und Gewalttaten rivalisierender Gruppen in Stadien, auf An- und Abreisewegen und in den Vergnügungsvierteln der Städte zum Fußballgeschehen, in zunehmendem Maße auch die gewollte Konfrontation mit Ordnungsdiensten und Polizeikräften. Im Zuge der fortschreitenden Kommerzialisierung der Eventindustrie Fußball und der damit einher gehenden Entfremdung von Fan-Gruppen sind Feindbilder und Gewaltbereitschaft gewachsen. Eskaliert die Gewalt?

Auch Ausschreitungen und Gewalt im Demonstrationsgeschehen haben eine lange Geschichte. Die „Studentenunruhen“ liegen mehr als 50 Jahre zurück. Heute sind vor allem Gewaltexzesse bei Demonstrationen anlässlich des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg, Übergriffe auf Ausländer oder andere missliebige Personen im Zuge rechtsgerichteter Aufmärsche wie jüngst in Chemnitz, die gesuchte körperliche Konfrontation von „Linken“ und „Rechten“ oder das gewalttätige Vorgehen von „Aktivisten“ gegen die Polizei bei der Räumung und dem Abriss von Baumhäusern im Hambacher Forst im Oktober 2018 in aktueller Erinnerung. Führen die spürbare Polarisierung gesellschaftlicher Positionen und ein wachsendes Konfliktpotential zu mehr Gewalt in der demokratisch legitimierten Auseinandersetzung?

Gemeinsam ist allen drei Phänomenen, dass sie – so unterschiedlich sie sind – die Polizei in ihrer Aufgabenwahrnehmung vor besondere Herausforderungen stellen.

Die Autoren dieses Lehr- und Studienbriefs setzen sich in ihren Beiträgen jeweils praxisbezogen mit dem von ihnen behandelten Phänomen auseinander, gehen Ursachen nach, zeigen Entwicklungen auf und beschreiben gesellschaftliche und polizeiliche Handlungsansätze, damit verbundene Problemstellungen und ihre Wirksamkeit oder Wirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander.

So beleuchtet der Beitrag von Dr. Carsten Dübbers das Phänomen der Gruppengewalt im Rahmen der Kölner Silvesternächte 2015, 2016 und 2017 mit einem besonderen Augenmerk auf die spezifischen gruppendynamischen Prozesse und die Frage, wie sie verhindert werden können. Die Schilderung der nach den Erfahrungen der ersten Silvesternacht abgeleiteten polizeilichen Folgerungen, der Fortentwicklung von Bearbeitungs- und Einsatzkonzepten sowie ihrer Umsetzung in Präsenz und verändertem Handeln polizeilicher Einsatzkräfte erweist sich als gelungene Fallstudie.

Ein umfassendes Bild über die Entwicklung von Gewalt im Kontext von Fußballspielen, dem Wandel ihrer Formen und ihrer Akteure über mehr als 25 Jahre sowie die ebenso lange währenden Anstrengungen von Vereinen, Veranstaltern, den Polizeien von Bund und Ländern sowie weiteren Netzwerkpartnern, diese Gewalt einzudämmen, zeichnet der Beitrag von Detlef Gröner. Ausgehend von dem wiederholt fortgeschriebenen Nationalen Konzept Sport und Sicherheit und den bundesweiten Erkenntnissen der polizeilichen Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze liegt ein Schwerpunkt der Darstellung auf den Leitlinien und Zielen polizeilichen Handelns sowie der Erörterung geeigneter, aber auch umstrittener Maßnahmen der Gefahrenabwehr im Vorfeld und am Einsatztag sowie zur Gewährleistung einer effektiven Strafverfolgung.

Einen noch weiteren Bogen spannt Udo Behrendes in seinem vielschichtigen Beitrag zu Gewalt bei Demonstrationen von den 1960er Jahren bis heute. Darin reflektiert er auf der Grundlage polizeilicher Erfahrungen, sozialwissenschaftlicher Befunde und der Rechtsentwicklung u. a. die Frage, wie Gewalt bei politischen Veranstaltungen und Demonstrationen entsteht, welche Formen und Akteure sie hat, welche Wirkungen das Auftreten und Verhalten der Polizei haben und in welche „Gewaltfallen“ sie geraten kann. Sein Beitrag ist ein Plädoyer für eine dialogfähige Polizei, die – ohne reflexartige Handlungsmechanismen – professionell gegen Formen von Demonstrationsgewalt agiert, dabei aber auch eine friedliche Protestkultur im Sinne des Art. 8 GG unterstützt.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge vermittelt dieser Lehr- und Studienbrief einen sachgerechten Überblick über drei gesellschafts- und kriminalpolitisch bedeutsame Themenfelder, die sich für die polizeiliche Ausbildung und Praxis in Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durch hohe Aktualität und Relevanz auszeichnen.

Wolfgang Gatzke

Horst Clages

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber

Carsten Dübbers

1Die Dynamik von Gewalt durch Gruppen am Beispiel der Kölner Silvesternächte

1.1Die Kölner Silvesternacht 2015/2016

1.1.1Ereignisse in der Nacht

1.1.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der EG Neujahr

1.1.3Aufarbeitung im Rahmen des Untersuchungsausschusses

1.1.4Folgerungen für Polizei, Kommune und Politik

1.2Die Kölner Silvesternacht 2016/2017

1.2.1Ereignisse in der Nacht

1.2.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der AG Silvester

1.2.2.1Ziele der Arbeitsgruppe

1.2.2.2Wesentliche Ergebnisse und deren Bewertung

1.2.2.3Befragungen im Rahmen der AG Silvester

1.2.2.3.1 Expertenbefragung

1.2.2.3.2 Befragung der Besucher

1.2.2.4Fazit aus der AG Silvester

1.2.2.5Symposium „Silvester 2017“

1.2.3Schlussfolgerungen für die Einsatzvorbereitung Silvester 2017

1.3Die Kölner Silvesternacht 2017/2018

1.4Fazit

Literaturverzeichnis

Detlef Averdiek-Gröner

2Fußball und Gewalt

2.1Das Phänomen in der Entwicklung

2.1.1Gewalt und Sicherheit in den Stadien

2.1.2Nationales Konzept Sport und Sicherheit 1993

2.1.3Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze der Polizei

2.1.4Akteure und Formen der Gewalt im Wandel

2.1.5Nationales Konzept Sport und Sicherheit 2012

2.1.6Fanarbeit der Vereine und Ligen

2.1.7Feindbild Liga und Feindbild Polizei

2.2Polizeiliches Lagebild

2.2.1Allgemeines

2.2.2Störerlage

2.2.3Sicherheitslage

2.2.3.1Verletzte Personen

2.2.3.2Strafverfahren

2.2.3.3Freiheitsentziehende/-beschränkende Maßnahmen und polizeilich sichergestellte/beschlagnahmte Gegenstände

2.2.3.4Tatorte

2.2.3.5Störungen auf Reisewegen

2.2.3.6Drittortauseinandersetzungen

2.2.4Personelle Belastung der Polizeibehörden

2.3Polizeiliches Handeln

2.3.1Leitlinien und Ziele

2.3.2Gefahrenabwehrende Maßnahmen im Vorfeld

2.3.2.1Datei „Gewalttäter Sport“

2.3.2.2Arbeitsdatei „Szenekundige Beamte“

2.3.2.3Intensivtäter Gewalt und Sport

2.3.2.4Gefährderansprachen und -anschreiben

2.3.2.5Meldeauflagen

2.3.2.6Aufenthaltsverbote

2.3.2.7Verwaltungsrechtlicher Entzug der Fahrerlaubnis

2.3.3Einsatzmaßnahmen

2.3.3.1Allgemeines

2.3.3.2Begleitung und einschließende Begleitung

2.3.3.3Fan- und Bannermärsche

2.3.3.4Vermummung und Pyrotechnik

2.3.3.5Bildaufnahmen und Videografie

2.4Handeln der Netzwerkpartner

2.4.1Dialog und Kommunikation

2.4.2Stadionverbote

2.4.3Beförderungsverbote

2.4.4Alkoholverbot

2.4.5Kartenkontingentierung

2.5Unterschiedliche Standards in Europa

Literaturverzeichnis

Anlage 1 Gewalttäter Sport

Anlage 2 Lagebild Fußball

Gewaltbereite Störer der Kategorie B

Gewaltsuchende Störer der Kategorie C

Verletzte Polizeibeamte 1.– 3. Liga

Pyrotechnik

Öffentlicher Personenverkehr

Udo Behrendes

3Gewalt bei Demonstrationen

3.1Erkenntnisquellen zu Art und Ausmaß der Gewalt bei Demonstrationen

3.1.1Polizeiliche Kriminalstatistik und Verfassungsschutzberichte

3.1.2Polizeiliches Erfahrungswissen

3.1.3Wissenschaftliche Studien

3.2Entstehung von Gewalt bei Demonstrationen

3.2.1Geplante Gewaltaktionen

3.2.2Situative Gewaltaktionen

3.2.2.1Gewaltfalle „Verbotene Symbole“

3.2.2.2Gewaltfalle „Sitzblockade“

3.2.2.3Gewaltfalle „Vermummung“

3.3Zielrichtungen der Gewalt bei Demonstrationen

3.3.1Gewalt gegen Protestadressaten

3.3.2Gewalt gegen Meinungsgegner

3.3.2.1Gewalt im Rahmen von Gegendemonstrationen

3.3.2.2Gewalt gegen Meinungsgegner innerhalb einer Demonstration

3.3.2.3Gewalt gegen Meinungsgegner durch Angriffe von außen

3.3.3Gewaltaktionen außerhalb einer konkreten Demonstration

3.3.4Ausweitung von Gewaltaktionen zu „Riots“

3.4Sozialwissenschaftliche Befunde zu Eskalations- und Deeskalationsbedingungen bei Demonstrationen

3.4.1Binnenstrukturen von (Groß-)Demonstrationen

3.4.2Wechselseitige Selbst- und Fremdbilder von Demonstranten und Polizisten

3.4.3Situative Einflussfaktoren auf die Stimmungslage von Demonstranten und Polizisten

3.4.4Gewaltfördernde Einflussfaktoren

3.4.5Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse

3.5Das Deeskalationsprinzip

3.5.1Die Vorgaben des BVerfG

3.5.2Die Umsetzung des Kooperationsgebots

3.5.2.1Fallbeispiel: „Sternmarsch auf Bonn“

3.5.2.2Kooperation zwischen Versammlungsbehörde bzw. Polizeiführung und Veranstalterebene im Vorfeld einer Demonstration

3.5.2.3Kooperation zwischen Polizei und Veranstalterebene vor Ort

3.5.3Die Umsetzung des Differenzierungsgebots

3.5.3.1Die Heterogenität von (Groß-)Demonstrationen

3.5.3.2Differenzierungsgebot vs. „polizeiliche Standards“

3.5.3.3Isolierung gewaltaffiner Gruppen

3.5.3.4Fallbeispiel: Integration gewaltaffiner Gruppen

3.5.3.5Differenzierung zwischen unterschiedlichen gewaltaffinen Gruppierungen

3.5.4Die Ambivalenz des Deeskalationsbegriffs

3.5.4.1Die Ausgestaltung des Deeskalationsprinzips in der PDV 100

3.5.4.2Deeskalation durch Stärke

3.5.5Vertrauensbildende Maßnahmen

3.6Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Zu den Autoren

Carsten Dübbers

1Die Dynamik von Gewalt durch Gruppen am Beispiel der Kölner Silvesternächte

Dieser Aufsatz betrachtet das Phänomen der Gruppengewalt im Rahmen der Kölner Silvesternächte 2015, 2016 und 2017 und des polizeilichen Umgangs mit ihm.

Hierbei wird die Silvesternacht 2015/2016 nur kursorisch behandelt, da der Schwerpunkt des Aufsatzes darauf liegt, die Nutzung der Erkenntnisse aus dieser „ersten“ Silvesternacht in der polizeilichen Praxis in den beiden Folgejahren zu beschreiben. Die Ereignisse während und nach der ersten Silvesternacht haben diese Republik verändert und sind aus sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert worden. Im Rahmen dieser Diskussionen ging es aber kaum um die Entstehung von Gewalt in Gruppen; vielmehr hatten die großen Migrationsströme insbesondere aus Nordafrika und dem Nahen Osten die öffentliche Meinung erhitzt und die Asyldebatte geprägt.

Insbesondere ist der Blickwinkel dieses Aufsatzes darauf gerichtet, wie gruppendynamische Prozesse, wie sie Silvester 2015/2016 am und im Kölner Hauptbahnhof stattfanden, verhindert werden können. Relevant ist diese Fragestellung deshalb, weil die Entstehung und Entfaltung dieser Prozesse nicht zuletzt dem Umstand geschuldet war, dass die Polizei keine Eingriffsmöglichkeiten hatte und die Anzahl der eingesetzten Kräfte und die Anzahl der Störer in einem vorher nicht zu erahnenden Missverhältnis standen. Die polizeiliche Prävention solcher gruppendynamischer Prozesse in der Zukunft ist daher von erheblichem Interesse und eine detailliertere Schilderung davon, wie das Polizeipräsidium Köln in den Folgejahren erfolgreich eine solche Entwicklung mit unterschiedlichen Konzepten verhindern konnte, bietet sich als Fallstudie an.

1.1Die Kölner Silvesternacht 2015/2016

Wenige Ereignisse haben in den letzten Jahren einen so starken kriminalpolitischen Einfluss gehabt wie die Kölner Silvesternacht 2015/2016. Die in dieser Form in Deutschland erstmalig aufgetretenen massenhaften und gemeinschaftlich begangenen Eigentumsdelikte durch zahlreiche Männergruppen sind insbesondere deshalb in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten, weil sie zum Teil tateinheitlich mit sexuellen Übergriffen begangen wurden. Auch wenn die weithin publizierten zahlreichen Vergewaltigungen nicht der realen Kriminalitätslage entsprechen, haben eine offenkundige Schutzlosigkeit und die für die betroffenen Frauen extrem belastenden sexuellen Übergriffe den Blick auf die Themenfelder des sexualstrafrechtlichen Schutzes von Frauen und des Umgangs mit Flüchtlingen aus dem nahöstlichen und nordafrikanischen Raum, insbesondere den sogenannten „Maghreb-Staaten“, gelenkt.

Der Kölner Polizei wurde vorgeworfen, dass sie in der Nacht, aber auch schon bei der Lageeinschätzung und Einsatzplanung im Vorfeld, versagt habe. Gestützt wurde die Einschätzung des Versagens durch die mindestens als ungeschickt zu bezeichnende Pressearbeit der Kölner Polizei in diesem Zusammenhang.

Neben den zahlreichen Medienberichten und internen Nachbereitungsberichten hat insbesondere der Landtag NRW die Vorfälle in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet, dessen 1.352 Seiten umfassender Abschlussbericht öffentlich zugänglich ist.1

1.1.1Ereignisse in der Nacht 2

Um den Herausforderungen gerecht zu werden, die Silvester in der Kölner Innenstadt an die Wahrnehmung polizeilicher und ordnungsrechtlicher Aufgaben stellt, wurde seit Jahren eine sogenannte Besondere Aufbauorganisation (BAO) genutzt, da es auch in den Jahren vor 2015 immer wieder zu anlasstypischen Delikten kam. Hier sind insbesondere die, an jedem Wochenende mehr oder weniger intensiv stattfindenden, alkoholtypischen Gewaltdelikte zu nennen, aber auch das seit einigen Jahren bekannte Phänomen, mit Böllern und Raketen auf Menschengruppen zu zielen. Punktuell war es auch immer zu Eigentumsdelikten gekommen und auch an Silvester wurden – grundsätzlich immer zu erwartende – Sexualdelikte begangen.

Aufgrund der Erfahrung der Vorjahre, dass sich die Abwanderung von Menschenmengen nach Mitternacht immer weiter hinauszögert, wurden ca. 50 Beamte mehr als im Vorjahr in den Einsatz genommen. So standen letztlich ungefähr 170 Polizeibeamte zur Verfügung. Daneben hatte auch das Ordnungsamt wieder eigene Planungen durchgeführt. Die für den inneren Bahnhofsbereich zuständige Bundespolizei hielt dort ebenfalls zusätzliches Personal im Dienst bereit. Die Einsatzführung der Kölner Polizei lag in den Händen eines erfahrenen Dienstgruppenleiters des gehobenen Dienstes, der auch im Vorjahr schon die BAO geleitet hatte.

Der Einsatz verlief zunächst wie geplant, allerdings stellten die Einsatzkräfte eine nach ihrem Eindruck ungewöhnlich hohe Anzahl an arabisch und nordafrikanisch aussehenden kleinen Gruppen junger Männer fest. Diese fielen durch offensichtlichen Alkohol- und Drogenkonsum und wachsende Aggressivität auf. Insbesondere bewarfen sich die Gruppen ohne Rücksicht auf Unbeteiligte mit Böllern.

Aufgrund dieser nicht erwarteten Ansammlung von aggressiven Männern auf dem Bahnhofsvorplatz und der Domtreppe stellte der Einsatzführer seine Konzeption um. Er verlagerte die Mehrzahl der ihm zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte an diesen Brennpunkt. Hier war zunächst der Blickwinkel nicht auf Eigentums- oder Sexualdelikte gerichtet, sondern auf Gefahrenlagen wie Panik oder Treppenstürze. Auch bei den Einsatzmaßnahmen zeigte sich eine hohe Aggressivität vieler Störer. Vereinzelt wurden Einsatzkräfte bereits von belästigten Frauen aufgesucht, diese wurden zur Anzeigenerstattung an die nahe gelegenen Wachen der Landes- und Bundespolizei verwiesen. Dass dort schon ein Anzeigenstau entstanden war, der dazu führte, dass in den polizeilichen Systemen am nächsten Morgen erst wenige Anzeigen aufgenommen waren, konnte zunächst nicht erahnt werden. Dies war aber u. a. eine Ursache für eine viel diskutierte Pressemeldung am Morgen des Neujahrstages, die auf dieser Datenlage basierte.

Neben der Presseveröffentlichung war noch intensiv diskutiert worden, warum das Polizeipräsidium Köln nicht schon nach 22 Uhr die sogenannte Landeseinsatzbereitschaft der Bereitschaftspolizei angefordert hatte. Bei der Entscheidung über eine solche Anforderung in der Einsatzsituation war der Einsatzleiter davon ausgegangen, dass sich nach Mitternacht die Situation wieder entspannt. Diese Prognose hat sich auch als zutreffend erwiesen. Zwischen Anforderung und Eintreffen der Kräfte liegen aber ca. drei Stunden. Es war zu diesem Zeitpunkt also schon erkennbar, dass eine Anforderung keinen positiven Einfluss auf den Einsatzverlauf mehr gehabt hätte.

Dass dies der Kölner Polizei bis heute als gravierender Fehler vorgehalten wird, ist m. E. aus einsatztaktischer Sicht nicht nachvollziehbar.

Das Ausmaß straftatbestandlicher Aktivitäten wurde erst in den Folgetagen sichtbar, da in der Silvesternacht kaum Anzeigen aufnehmende Beamtinnen oder Beamte zur Verfügung standen und daher nur wenige Anzeigen aufgenommen wurden. Dieses Versäumnis hatte die Kölner Polizei zu verantworten. Die Geschädigten wollten nach dem Erlebten in der Nacht verständlicherweise nicht mit einer Anzeigenerstattung warten, bis sie bei einer Wache vorstellig werden konnten.