Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918

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III. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft aus nationaler Perspektive

Zum 25-jährigen Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II. widmete eine Reihe prominenter Autoren dem Staatsoberhaupt eine Festschrift, in der auf die Errungenschaften während der bisherigen Regentschaft des Monarchen zurückgeblickt wird. Der von Karl Helfferich verfasste Abschnitt über Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913 erschien bald darauf auch als gesonderte Monografie, welche bis 1917 sieben Auflagen erreichte.55 Helfferichs Werk markiert damit den prominenten Höhepunkt einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versuchten, das deutsche Volkseinkommen zu beziffern: Bereits 1846 veröffentlichte der Leiter des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, Carl Friedrich Wilhelm Dieterici, eine Abhandlung über die Höhe des preußischen Volkseinkommens .56 Ihm folgten – um nur die wichtigsten zu nennen – 1875 Ernst Engel,57 1878 Adolf Soetbeer58 und 1887 Hermann Losch.59 Diese Arbeiten belegen ein reges Interesse an der quantitativen Darstellung der Entwicklung der deutschen Wirtschaft in der damaligen Zeit. Im modernen Sinne blieben sie jedoch Stückwerk, da das heute verwendete Konzept zur Messung von Produktion und Einkommen, das Bruttonationaleinkommen, damals noch nicht bekannt war. Die Autoren des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts stützten sich bei ihren Schätzungen vornehmlich auf die Einkommensteuerstatistik. Die moderne volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nimmt dagegen im Bereich der Gütererzeugung ihren Ausgang. Die Steuerstatistik blieb jedoch lange Zeit die dominierende Quelle für Volkseinkommensberechnungen, auch wenn die Schätzungen aufgrund von Steuerrechtsänderungen, Steuerfreibeträgen und Steuerhinterziehung Niveau und Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Leistung nur unvollständig abbilden. Gleichwohl griff auch die erste amtliche Schätzung des Deutschen Volkseinkommens vor und nach dem Kriege, vom Statistischen Reichsamt im Jahre 1932 vorgelegt, auf diese Quelle zurück.60 Wenige Jahre später nahm indes das Reichsamt für wehrwirtschaftliche Planung erstmals einen im Produktionsbereich der deutschen Volkswirtschaft verankerten Industriezensus vor,61 der auch für die |31◄ ►32| spätere wirtschafthistorische Forschung und die amtliche Statistik von zentraler Bedeutung war, da der nächste Zensus erst Mitte der 1950er Jahre durchgeführt wurde.

Im Gegensatz zur älteren amtlichen Statistik, die ein Volkseinkommen ermittelte, verwendet die moderne amtliche Statistik das Bruttosozialprodukt (BSP) –in der Sprache der amtlichen Statistik als Bruttonationaleinkommen bezeichnet – oder das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes. Das BSP basiert auf dem Inländerprinzip, d.h. es berücksichtigt die wirtschaftliche Leistung aller im Inland ansässigen Wirtschaftssubjekte, wohingegen das BIP auf dem Inlandskonzept beruht. Das BIP berücksichtigt alle im Inland erbrachten Leistungen. Zieht man daher vom BIP die an Ausländer gezahlten Einkommen ab und addiert die aus dem Ausland empfangenen Einkommen, so erhält man das BSP. Der Wert der in einem Jahr erbrachten wirtschaftlichen Leistung eines Landes kann von der Entstehungs-, Verwendungs- und Verteilungsseite berechnet werden. Alle drei Rechenwege sollten dabei zu einem identischen Ergebnis führen. Die Entstehungsrechnung ermittelt das BIP, indem vom Wert der gesamtwirtschaftlichen Produktion der Wert aller während der Produktion verbrauchten Vorleistungsgüter abgezogen wird. Die Verwendungsrechnung ermittelt das BIP, indem die Ausgaben für privaten und staatlichen Konsum, Nettoinvestitionen, Abschreibungen und Exporte addiert und anschließend die Importe subtrahiert werden. Die Verteilungsrechnung schließlich bildet zunächst die Summe von Arbeitsentgelten, Unternehmens- und Vermögenseinkommen, um zum Volkseinkommen (Nettosozialprodukt zu Faktorpreisen)62 zu gelangen. Zu diesem werden die indirekten Steuern und Importabgaben addiert sowie die Subventionen subtrahiert, womit das Nettosozialprodukt (NSP) zu Marktpreisen vorliegt. Zu diesem müssen schließlich noch die Abschreibungen auf den volkswirtschaftlichen Kapitalstock addiert werden, um das BSP zu erhalten. Die folgende Abbildung A2 verdeutlicht die Zusammenhänge.

Ein Blick in die historische Statistik offenbart, dass die zur Berechnung von BSP und BIP notwendigen Daten nur teilweise verfügbar sind, weshalb weit reichende Annahmen getroffen werden müssen, um aus dem vorhandenen Datenmaterial eine Schätzung des Sozialprodukts zu erhalten. In Abbildung A2 sind diejenigen Größen, die von der damaligen amtlichen Statistik erhoben wurden, grau unterlegt. Bereits die empirischen Wirtschaftsforscher des 19. Jahrhunderts stellten fest, dass vor allem Angaben aus der Steuerstatistik genutzt werden können, um das Volkseinkommen zu berechnen. Dementsprechend nutzte auch die |32◄ ►33| erste wirtschaftshistorische Arbeit diese Quelle, um das Volkseinkommen zu ermitteln. 63 Dieses Vorgehen hat jedoch einen entscheidenden methodischen Nachteil: Die ermittelte Zeitreihe des Volkseinkommens kann mit Hilfe der Steuerstatistik nur in laufenden Preisen ermittelt werden, da zur Berechnung eines Sozialproduktdeflators die Verwendungsstruktur des Sozialprodukts bekannt sein muss, weil diese als Wägungsschema für den Preisindex verwendet wird. Der Sozialproduktdeflator wird berechnet, indem für ein bestimmtes Jahr Preise und Mengen aller im Sozialprodukt enthaltener Güter ermittelt werden. In den Folgejahren wird das Güterschema konstant gehalten, aber mit den jeweils geltenden Preisen multipliziert. Daher muss für die Berechnung des Sozialproduktdeflators die Verwendungsstruktur des Sozialprodukts für mindestens ein Jahr bekannt sein. Erst Walther G. Hoffmanns Epoche machendes Werk über Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beinhaltet, neben einer Berechnung des nominalen Sozialprodukts von der Verteilungsseiteund einer Berechnung des realen Sozialprodukts von der Entstehungsseite, auch Berechnungen des realen und nominalen Sozialprodukts von der Verwendungsseite. Der Quotient der beiden letztgenannten Datenreihen ergibt den Sozialproduktdeflator, der zur Umrechnung aller nominalen Sozialproduktreihen in reale Größen verwendet werden kann. Veränderungen des Preisniveaus werden dabei ausgeblendet.


Abbildung A2: Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung

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Damit liegen in der wirtschaftshistorischen Forschung vier Zeitreihen des realen Sozialprodukts für die Jahre 1851 bis 1913 vor: zwei Verteilungsrechnungen, eine Entstehungsrechnung und eine Verwendungsrechnung. Einschränkend muss sogleich festgehalten werden, dass alle vorliegenden Rechnungen Nettosozial- bzw. Nettoinlandsprodukte und nicht die eigentlich gesuchten Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukte ergeben, da nahezu keine Informationen über die Höhe des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks und der Abschreibungen auf diesen vorhanden sind.64 Die vorliegenden Nettoreihen sollten zudem geringfügig voneinander abweichen, da sich aus der Verwendungsrechnung das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen, aus der steuerstatistischen Verteilungsrechnung das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten sowie aus der lohn- und gewinnstatistikbasierten Verteilungsrechnung und der Entstehungsrechnung das Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten ergibt. Postuliert man das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen als die gesuchte Größe, dann sind für den Übergang vom Nettoinlandsprodukt zum Nettosozialprodukt Angaben über das Nettoeinkommen aus dem Ausland und für den Übergang vom Nettosozialprodukt zu Faktorkosten zum Nettosozialprodukt zu Marktpreisen Daten über indirekte Steuern notwendig. 65 Der Übergang vom Inlands- zum Sozialprodukt gestaltet sich hingegen etwas schwieriger, da Angaben über aus dem Ausland erhaltene bzw. an das Ausland geleistete Arbeits- und Kapitaleinkommen nicht vorliegen. Zunächst wird daher die Annahme getroffen, dass das Nettoarbeitseinkommen aus dem Ausland Null beträgt.66 Das Nettokapitaleinkommen aus dem Ausland kann mit Hilfe von verschiedenen Annahmen über die Höhe des Nettoauslandsvermögens und dessen Rentabilität ermittelt werden.67 Da die Verwendungsrechnung von |34◄ ►35| vornherein als Nettosozialprodukt zu Marktpreisen vorliegt, kann diese direkt aus dem Werk von Hoffmann übernommen werden.68 Zur Entstehungsrechnung 69 müssen die indirekten Steuern (Übergang von Faktorpreisen zu Marktpreisen) sowie das Nettoauslandseinkommen (Übergang vom Inlands- zum Sozialprodukt) addiert werden. Die auf Lohn- und Gewinndaten basierte Verteilungsrechnung 70 muss um dieselben Größen bereinigt und mit dem impliziten Sozialproduktdeflator auf das Preisniveau von 1913 basiert werden. Die auf Steuerdaten basierte Verteilungsrechnung71 muss dagegen nur um indirekte Steuern bereinigt werden, da Einkommen unabhängig vom Ort der Entstehung in der Steuerstatistik erfasst wurden. Diese Zeitreihe muss ebenfalls mit Hilfe des impliziten Sozialproduktdeflators auf das Preisniveau von 1913 umbasiert werden. Die vier Serien des realen Nettosozialprodukts zu konstanten Marktpreisen sind in Abbildung A3 dargestellt.

Offensichtlich gibt es große Unterschiede zwischen den vier Reihen, die laut Definition identisch sein sollten. Zwar weisen alle Sozialproduktreihen einen Wert von ca. 52,5 Milliarden Mark für das Jahr 1913 aus, aber für das Jahr 1871 schwanken die Schätzungen zwischen 14,7 und 18,3 Milliarden Mark. Diese unbefriedigende Situation führte zur kritischen Analyse der von Hoffmann bei der Berechnung seiner Zeitreihen gemachten Annahmen. Als Resultat wurde unter anderem eine neue Zeitreihe für die Investitionen im gewerblichen Sektor,72 das Kapitaleinkommen im gewerblichen Sektor, das Kapitaleinkommen aus dem |35◄ ►36| Ausland und die Industrieproduktion73 berechnet. Zudem wurde der Basiswert der Nettowertschöpfung in Bergbau und Industrie im Jahre 1913 berichtigt.74

 

Abbildung A3: Das Nettosozialprodukt zu Markpreisen in Milliarden Mark (in Preisen von 1913). Standardisierte Reihen nach Hoffmann, Wachstum sowie Hoffmann / Müller, Volkseinkommen.

Insbesondere Niveau und Wachstum der Industrieproduktion im Kaiserreich sind für das Verständnis der deutschen Industrialisierung wichtig. Basierend auf Hoffmanns Methodik und den in den vergangenen Jahren erstellten Reihen wird hier ein neuer Index der Industrieproduktion präsentiert.75 Wie Hoffmann verwende ich Indizes für die physische Produktion einer Reihe von Industrien und fasse diese in zwölf Branchen zusammen.76 Für diese zwölf Branchen werden anhand der in den Jahren 1882 und 1907 durchgeführten Gewerbezählungen Beschäftigtenzahlen ermittelt und diese mit der Nettowertschöpfung je Beschäftigtem in der jeweiligen Branche im Jahre 1936 – dem Jahr des ersten deutschen Industriezensus – multipliziert und anschließend in Indexgewichte transformiert.77 Anschließend werden die Produktionsreihen der zwölf Branchen mit ihrem jeweiligen Indexgewicht multipliziert, sodass in einem Zwischenschritt zwei Industrieproduktionsindizes entstehen, die im Jahr 1895 miteinander verknüpft werden, sodass ein durchgehender Index der Industrieproduktion für die Jahre 1871 bis 1913 vorliegt. Dieser Index wird mit einer Schätzung der Nettowertschöpfung von Industrie und Handwerk im Jahre 1913 multipliziert, um auf diesem Weg zu einer Schätzung der realen Nettowertschöpfung von Industrie und Handwerk für die Jahre 1871 bis 1913 zu gelangen.

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Abbildung A4: Index der deutschen Industrieproduktion, 1871–1913.

Tabelle T3 am Ende dieses Kapitels zeigt die korrigierten Arbeitsproduktivitätsdaten für 1936 und die Beschäftigtenzahlen für die Jahre 1882 und 1907 sowie die daraus ermittelten Indexgewichte für die Jahre 1871 bis 1895 und 1895 bis 1913. Der aus den neuen Gewichten unter Berücksichtigung der neuen Zeitreihe der Bauproduktion ermittelte Index der deutschen Industrieproduktion wird in Abbildung A4 dargestellt und mit Hoffmanns klassischem Index der deutschen Industrieproduktion verglichen.

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Durchschnittlich nahm die reale Industrieproduktion um 3,7 Prozent jährlich zu, wobei das Wachstum während der 1870er Jahre besonders niedrig und während der 1880er Jahre besonders hoch war. Die beiden Jahrzehnte vor dem Weltkrieg zeichneten sich durch eine insgesamt hohe Wachstumsdynamik mit jährlichen Wachstumsraten von rund 3,8 Prozent aus. Blickt man auf die einzelnen Industrien, dann stellt man fest, dass die noch relativ unbedeutende Versorgungswirtschaft – Gas, Wasser, Elektrizität – mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 9,2 Prozent während der Jahre 1871 bis 1913 die größte Dynamik entfaltete, gefolgt von der Papierindustrie, der chemischen Industrie sowie dem großen Bereich der Metallerzeugung und Metallverarbeitung. Vergleichsweise langsam wuchsen in der Zeit des Kaiserreichs hingegen die konsumnahen Industrien: die Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie.

In Abbildung A5 wird gezeigt, dass die Standardisierung der hoffmannschen Sozialproduktreihen und die anschließenden Korrekturen die Unsicherheit über den Verlauf des Wachstumspfads während der deutschen Industrialisierung reduziert haben. Die im Vergleich zu Hoffmann vorgenommenen Korrekturen umfassen die Neuberechnung des Kapitaleinkommens im gewerblichen Sektor, der gewerblichen Nettoinvestitionen sowie der Nettowertschöpfung in Bergbau und Industrie. Die Graphik zeigt die absolute Differenz zwischen der jeweils höchsten und niedrigsten Angabe aus den vier Originalreihen und den vier korrigierten Reihen sowie eine aus den vier korrigierten Reihen abgeleitete Kompromissschätzung des deutschen Nettosozialprodukts.78 Es zeigt sich, dass die Standardisierung und Korrektur die Präzision der Daten für die Jahre zwischen Gründung des Kaiserreichs und Ausbruch des Ersten Weltkriegs erhöht hat.

Die aus den verbesserten Zeitreihen abgeleitete Kompromissschätzung des deutschen Nettosozialprodukts weist für die Jahre 1871 bis 1913 einen Anstieg des Sozialprodukts von 17,3 auf 53,7 Milliarden Mark aus. Die durchschnittliche jährliche reale Wachstumsrate betrug daher 2,7 Prozent. Da sich im gleichen Zeitraum die Bevölkerung von 41 auf 67 Millionen79 und die Zahl der Beschäftigten von 17,3 auf 31 Millionen80 erhöhte, betrug die durchschnittliche Wachstumsrate des realen Sozialprodukts pro Kopf bzw. der Arbeitsproduktivität 1,5 bzw. 1,3 Prozent jährlich. Das jährliche Wirtschaftswachstum erhöhte sich dabei |38◄ ►39| von Dekade zu Dekade. Während der 1870er Jahre wuchs die deutsche Wirtschaft im Schnitt um 2,1 Prozent jährlich, während der 1880er Jahre um 2,8 Prozent, während der 1890er Jahre um 3,0 Prozent und nach der Jahrhundertwende um 3,7 Prozent. Die durchschnittlichen Wachstumsraten sowohl des Pro-Kopf-Einkommens als auch der Arbeitsproduktivität weisen ein identisches Muster auf.


Abbildung A5: Kompromissschätzung des Nettosozialprodukts zu Markpreisen in Milliarden Mark (in Preisen von 1913) sowie absolute Differenz zwischen der höchsten und niedrigsten vorliegenden Schätzung gemäß der Angaben von Hoffmann, Wachstum bzw. Hoffmann / Müller, Volkseinkommen (Alt) und der hier korrigierten Schätzungen (Neu).

Tabelle T1 fasst die zentralen Kennzahlen der wirtschaftlichen Entwicklung für die Jahre 1871 bis 1913 zusammen. Es zeigt sich, dass sich die Wachstumsdynamik, gemessen anhand des Einkommens pro Kopf oder anhand des Einkommens pro Beschäftigten, beschleunigt hat. Des Weiteren wuchs das Einkommen pro Kopf rascher als die Arbeitsproduktivität. Dies kann mehrere Ursachen haben. Beispielsweise kann die Beschäftigungsquote zugenommen haben oder es könnten Arbeitskräfte von Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität in Sektoren mit hoher Arbeitsproduktivität gewandert sein. Derartige Strukturverschiebungen vom Agrarsektor zum Industriesektor waren generell ein Kennzeichen der Industrialisierung. Weiterhin könnte verstärkter Kapitaleinsatz, beispielsweise die vermehrte Verwendung dampfgetriebener Maschinen, eine höhere Arbeitsproduktivität verursacht haben. Schließlich könnte auch der allgemeine technische Fortschritt zu einer höheren Arbeitsproduktivität geführt |39◄ ►40| haben. Die Wirkungen von Strukturwandel, Kapitalintensivierung und technischem Fortschritt werden im Folgenden beschrieben.

Tabelle T1: Kennzahlen des Wachstums


Quelle: Eigene Berechnungen.

Abbildung A6 zeigt die Arbeitsproduktivität in den vier Sektoren Landwirtschaft und Fischerei, Bergbau, Industrie und Handwerk sowie öffentliche und private Dienstleistungen für die Jahre 1875 bis 1913. Der Dienstleistungssektor wies durchweg das höchste Niveau der Arbeitsproduktivität, die Landwirtschaft dagegen immer das niedrigste Niveau auf. Das Niveau der Arbeitsproduktivität in Bergbau und Industrie lag zwischen diesen beiden Polen, wobei der prozentuale Produktivitätsvorsprung dieser Sektoren gegenüber der Landwirtschaft zwischen Gründung des Kaiserreichs und Kriegsausbruch bei circa 90 Prozent verharrte. Auch der Produktivitätsnachteil von Bergbau und Industrie gegenüber dem Dienstleistungssektor blieb im Großen und Ganzen konstant. In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutet dies, dass die Wanderung von Arbeitskräften vom traditionellen Agrarsektor hin zu den modernen Industrie- und Dienstleistungsbranchen mit einem gesamtwirtschaftlichen Wachstum der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität einherging.

Tatsächlich entwickelte sich die Erwerbsstruktur zu Lasten der Landwirtschaft, wie Tabelle T2 ausweist. Zur Reichsgründung war etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei tätig. Erst im letzten Friedensjahr waren mehr Menschen in Industrie und Handwerk als in der Landwirtschaft beschäftigt. Auch der Dienstleistungssektor konnte seine Bedeutung ausbauen und erhöhte seinen Beschäftigtenanteil. Das stärkste Wachstum wies jedoch der Bergbau auf, der seinen Beschäftigtenanteil ungefähr verdoppeln konnte. Gleichwohl blieb er mit einem Beschäftigungsanteil von weniger als drei Prozent der mit Abstand kleinste Bereich.

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Abbildung A6: Die Arbeitsproduktivität in den vier Sektoren Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft; Bergbau; Industrie und Handwerk; öffentliche und private Dienstleistungen; in Mark (Preise von 1913). Quellen: Nettowertschöpfung in Bergbau und Industrie, siehe Text; Nettowertschöpfung der Landwirtschaft aus Hoffmann, Wachstum, S. 331–332; Nettowertschöpfung des Dienstleistungssektors als Residuum. Beschäftigtenzahlen aus Hoffmann, Wachstum, S. 204–206.

Man stellt somit einen Wandel der Erwerbsstruktur zugunsten von Sektoren mit einer hohen Arbeitsproduktivität fest. Die Arbeitnehmer wanderten von der Landwirtschaft in die Industrie und den Dienstleistungssektor. Zudem gewannen mit Bergbau und Industrie Sektoren mit einem hohen Wachstum der Arbeitsproduktivität an Bedeutung. Über den gesamten Zeitraum 1871 bis 1913 steigerte sich die Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft jährlich um durchschnittlich 1,1 Prozent, im Bergbau um 1,6 Prozent, in der Industrie um 1,7 Prozent und im Dienstleistungsbereich um 1,2 Prozent. Gewichtet man diese Wachstumsraten mit dem jeweiligen Beschäftigungsanteil einer Branche im Jahre 1871 bzw. 1913, dann ergibt sich ein durchschnittliches Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,29 bzw. 1,34 Prozent. Dass das durchschnittliche Wachstum der Arbeitsproduktivität höher ausgewiesen wird, wenn man ein auf Beschäftigtenzahlen von 1913 basiertes Gewichtungsschema wählt, zeigt, dass im Durchschnitt Sektoren mit einem relativen hohen Wachstum der Arbeitsproduktivität ihren Beschäftigungsanteil ausbauten. Der Strukturwandel trug insofern positiv zum Wirtschaftswachstum bei.81

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Tabelle T2: Beschäftigungsstruktur


Quelle: Eigene Berechnungen.

Ein Instrument zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Strukturwandel und Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist die Anteilsverschiebungsrechnung. 82 Mit dieser kann man den Anstieg der Arbeitsproduktivität während eines Zeitraums in einen statischen, einen dynamischen und einen intrasektoralen Effekt zerlegen. Der statische Effekt misst die Auswirkungen der Verschiebung von Arbeitskräften von einem Sektor in einen anderen Sektor, während der dynamische Effekt die Interaktionseffekte zwischen Arbeitskräfteallokation auf die verschiedenen Sektoren und Veränderungen der Arbeitsproduktivität innerhalb dieser Sektoren misst. Der intrasektorale Effekt gibt an, inwiefern Produktivitätszuwächse innerhalb der Sektoren zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum der Arbeitsproduktivität beitragen. Der statische Effekt hat ein positives Vorzeichen, wenn der Anteil der Arbeitskräfte, die in Sektoren mit einem überdurchschnittlichen Niveau der Arbeitsproduktivität beschäftigt werden, zunimmt. Der dynamische Effekt ist hingegen positiv, wenn Sektoren, die ein relativ hohes Wachstum der Arbeitsproduktivität aufweisen, ihren Beschäftigtenanteil im Zeitablauf ausdehnen. Mathematisch lässt sich dieses Konzept wie folgt beschreiben: Bezeichnet man mit Yt und Lt die Nettowertschöpfung bzw. den Arbeitseinsatz in Periode t und mit dem Zeichen Δ die Veränderung einer Variable zwischen zwei Zeitpunkten 0 und t, dann lässt sich die Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität, Δ(Y/L), als die Summe aus (Yi,0/Li,0)*Δ(Li/L), Δ(Yi/Li)*Δ(Li/L) und L0*Δ(Yi/Li) schreiben, wobei i ein Index für den Sektor – Landwirtschaft, Bergbau, Industrie, Dienstleistungen – ist. Der erste Teil der Summe, der statische Verschiebungseffekt, ergibt sich aus dem Produkt der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität in einem Sektor i während |42◄ ►43| der Basisperiode 0 und der Veränderung des Anteils der Beschäftigten in diesem Sektor zwischen der Basisperiode und der Bezugsperiode t. Der zweite Teil der Summe, der dynamische Verschiebungseffekt, ergibt sich aus dem Produkt der Änderung der Arbeitsproduktivität in einem Sektor zwischen der Basis- und der Bezugsperiode sowie der Änderung des Beschäftigtenanteils dieses Sektors in diesem Zeitraum. Der dritte Teil der Summe, der intrasektorale Effekt, ergibt sich aus dem Produkt des Beschäftigtenanteils eines Sektors in der Basisperiode und dem Wachstum der Arbeitsproduktivität dieses Sektors zwischen Basis-und Bezugsperiode. Die Anteilsverschiebungsrechnung für die Jahre 1871 bis 1913 ergibt, dass vier Fünftel des Anstiegs der Arbeitsproduktivität in der deutschen Volkswirtschaft auf das Wachstum der Arbeitsproduktivität innerhalb der Sektoren zurückgeführt werden kann. Demgegenüber tragen sowohl der dynamische als auch der statische Verschiebungseffekt jeweils nur ein Zehntel bei. Dies bedeutet, dass die Reallokation von Arbeitskräften von Sektoren mit niedrigem Produktivitätswachstum in Sektoren mit hohem Produktivitätswachstum sowie die Umlenkung von Arbeitskräften von Sektoren mit niedrigem Produktivitätsniveau in Sektoren mit hohem Produktivitätsniveau verhältnismäßig wenig zum Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität beitrugen. Das Produktivitätswachstum innerhalb der Sektoren ist wesentlich wichtiger als der Strukturwandel.

 

Neben Verschiebungen der Wirtschaftsstruktur können auch erhöhter Kapitaleinsatz oder die bessere Nutzung von Arbeit und Kapital im Produktionsprozess – »technischer Fortschritt« – das Wirtschaftswachstum positiv bedingen. Zur Berechnung des technischen Fortschritts sind Annahmen über die zugrunde liegende Produktionsfunktion notwendig. Geht man von der neoklassischen Cobb-Douglas-Produktionsfunktion Yt = τt * Atα * Ktβ aus, dann ergibt sich das Sozialprodukt der Periode t (Yt) aus dem Arbeitseinsatz in dieser Periode (At), dem Kapitaleinsatz in dieser Periode (Kt), dem technischen Wissen in dieser Periode (τt) sowie aus zwei zeitinvarianten Parametern der Produktionsfunktion, α und β. Trifft man die beiden zusätzlichen Annahmen, dass α + β = 1 gilt und dass die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nach ihrem jeweiligen Grenzprodukt entlohnt werden, dann entsprechen die Parameter α und β der Lohn- bzw. Kapitaleinkommensquote. Damit sind alle Variablen der Produktionsfunktion mit Ausnahme von τt in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beobachtbar, sodass τt als Residuum ermittelt werden kann. Derjenige Teil des Produktionsanstiegs zwischen Periode t und t-1, der nicht mit Veränderungen des Faktoreinsatzes erklärt werden kann, wird als »technischer Fortschritt« bezeichnet. Das nicht beobachtete Niveau des technischen Wissens wird dazu in der Basisperiode gleich eins gesetzt und mit Hilfe der als Restgröße ermittelten Wachstumsrate des technischen Wissens in der Zeit fortgeschrieben. Mit der Frage nach dem Wachstum der totalen Faktorproduktivität begibt man sich somit|43◄ ►44| in den Raum der kontrafaktischen Geschichtsschreibung, da man eine Antwort auf die Frage sucht, wie hoch das Sozialprodukt in einem Jahr gewesen wäre, hätte man diejenigen Mengen und Qualitäten an Arbeit und Kapital eingesetzt, die man im Vorjahr einsetzte. Somit wird die Differenz zwischen dem beobachteten Sozialprodukt und dem kontrafaktischen Sozialprodukt als technischer Fortschritt bezeichnet. Das kontrafaktische Sozialprodukt selbst wird jedoch nie beobachtet, weshalb die Falsifikation einer Hypothese über das Ausmaß des technischen Fortschritts nicht möglich ist.83 Dieser unbeobachtbaren Residualgröße werden 42 bis 64 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Wachstums sowie 26 bis 38 Prozent des Wachstums der gewerblichen Produktion, 53 Prozent des Wachstums der landwirtschaftliche Produktion und 26 Prozent des Wachstum der Dienstleistungsproduktion zugeschrieben.84

Abbildung A7 zeigt die Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität für die gesamte Volkswirtschaft und für den gewerblichen Sektor für die Jahre 1875 bis 1913. Es zeigt sich, dass die Gesamtfaktorproduktivität sowohl in der Gesamtwirtschaft als auch im Industriesektor zwar über den gesamten Zeitraum betrachtet um rund 60 bzw. 30 Prozent anstieg, aber am Anfang der Untersuchungsperiode zunächst gefallen war. In der Gesamtwirtschaft wurde erst 1884 wieder das Produktivitätsniveau des Jahres 1875 erreicht, im industriellen Sektor sogar erst 1893.85 Dies kann darauf hindeuten, dass der während des Gründerbooms der frühen 1870er Jahre erstellte Sachkapitalbestand in den folgenden Jahren nicht voll ausgelastet war, was sich negativ auf die Gesamtfaktorproduktivität auswirkte, da nicht alle Produktionsfaktoren verwendet wurden.

Die im Produktionsprozess erzielten Einkommen wurden auf die Lieferanten der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt und von diesen für Konsum und Investitionen verausgabt. Tendenziell reduzierte sich dabei der Einkommensanteil der Arbeitnehmer im Zeitablauf, d. h. die unbereinigte Lohnquote sank. Zwischen 1871 und 1913 entfiel im Schnitt ein Viertel des Volkseinkommens auf das Kapitaleinkommen und dementsprechend drei Viertel auf das Arbeitseinkommen. Diese Quoten waren freilich im Zeitablauf nicht konstant. Während der 1870er und 1880er Jahre hatten die Kapitaleinkommensempfänger zunächst lediglich 21,6 Prozent des Volkseinkommens bezogen – und die Empfänger von Arbeitseinkommen dementsprechend 78,4 Prozent. In den darauffolgenden Dekaden bis zum Ersten Weltkrieg stieg dann der Anteil des Kapitaleinkommens |44◄ ►45| auf 27,9 Prozent des Volkseinkommens an. Der Anteil des Arbeitseinkommens ging entsprechend auf 72,1 Prozent zurück. Neben der funktionalen Einkommensumverteilung dürfte es vermutlich auch zu einer personellen Einkommensumverteilung gekommen sein, da das Kapitaleinkommen tendenziell personell stärker konzentriert ist. Die Umverteilung von Arbeits- zu Kapitaleinkommen war besonders im gewerblichen Sektor ausgeprägt, sodass dort der Verfall der Profitrate aufgehalten werden konnte. Im sekundären Sektor der deutschen Volkswirtschaft stieg der Kapitalkoeffizient, der das Verhältnis von Kapitaleinsatz zu Nettowertschöpfung misst, von 2,4 im Durchschnitt der Jahre von 1871 bis 1890 auf 3,3 im Durchschnitt der Jahre von 1891 bis 1913 an. Dies impliziert, dass die Kapitalproduktivität, also der reziproke Wert des Kapitalkoeffizienten, von 41 auf 31 Prozent gefallen ist. Die sinkende Kapitalproduktivität würde zu einer sinkenden Profitrate führen, wenn die funktionale Einkommensverteilung stabil bliebe. Da sich die funktionale Einkommensverteilung in der Industrie besonders stark zugunsten des Faktors Kapital verschob – hier betrug der Anteil des Kapitaleinkommens am Gesamteinkommen im Durchschnitt der Jahre 1871 bis 1889 nur 12,1 Prozent, im Durchschnitt der Jahre 1890 bis 1913 hingegen 24,9 Prozent – konnte die sinkende Profitrate aufgefangen werden.


Abbildung A7: Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität in der Gesamtwirtschaft und in der Industrie für die Jahre 1875 bis 1913 (1875 = 100). Beschäftigtenzahlen aus Hoffmann, Wachstum, S. 204– 206. Kapitalstockdaten für die Gesamtwirtschaft und den Industriesektor gemäß Burhop / Wolff, Compromise estimate. Industrieproduktion gemäß der oben vorgestellten Neuschätzung.

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Nachdem Einkommen durch den Produktionsprozess entstanden und auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt worden sind, können sie nun von den Einkommensbeziehern verwendet werden. Die Einkommensverwendung umfasst den privaten und öffentlichen Konsum sowie die Nettoinvestitionen und den Nettoexport. Da die drei ersten Größen faktisch die gesamte Verwendung umfassen, wird nur ihre Entwicklung umrissen. Es zeigt sich, dass zwischen 1871 und 1913 durchschnittlich rund 79 Prozent des Volkseinkommens für den privaten Konsum ausgegeben wurden, während lediglich 13 bzw. acht Prozent auf den öffentlichen Konsum bzw. die Nettoinvestitionen entfielen. Im Zeitverlauf nahm, analog zum relativen Bedeutungsverlust des Arbeitseinkommens, die Bedeutung des privaten Konsums ab. Sein Anteil verringerte sich in der Periode von 1890 bis 1913 gegenüber dem Zeitraum von 1871 bis 1889 um drei Prozentpunkte auf rund 77,6 Prozent. Dieser Rückgang des privaten Konsums wurde größtenteils durch die Bereitstellung öffentlicher Güter – dazu gehören beispielsweise die Sozialversicherung, aber auch das Militär – aufgefangen. Der Anteil des öffentlichen Konsums am Volkseinkommen wuchs von rund 11,3 Prozent auf 14,5 Prozent. Die dritte wichtige Komponente der Einkommensverwendung, die Nettoinvestitionen, blieb demgegenüber fast konstant: Ihr Anteil stieg von 7,3 Prozent im Schnitt der Jahre 1871/89 auf 8,1 Prozent im Mittel der Jahre von 1890 bis 1913.