Touché - und andere Generationengeschichten

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Touché - und andere Generationengeschichten
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Touché

Liam

Der Spiegel

Mein Nachlass

Der Luftballon

Als mein Vater mich verließ

Mit Oma Pischke beim Frauenarzt

Die Mancinis und der Bardolino

Schokoladenosterhasen

Der freundliche Deutsche

Omas leben ewig

Omas Frikadelle

Der Veteranentreff

Mutterschaft

Die Reise zum Regenbogen

Heldin der Kindheit

Muttertag

Vater

Bloß kein Schnee

Cola mit Zitrone

Welkende Lilie

Der Ruf der Schwalben

Großwetterlage

Der leere Spiegel

Endstation

Haus auf dem Ozean

Der hölzerne Pferdekopf

Im Park

Der Sprung

Türknallen

Allein und doch gemeinsam –

Ein Brief an dich.

Hustensaft

Klassik

Für Dich

Touché

und andere Generationengeschichten

Buchbeschreibung:

Touché und andere Generationengeschichten

Der erste Band aus der Ausschreibung Generationen des Baltrum Verlages.

Was sind die Unterschiede zwischen den Generationen und wieviel ist es wert einer Generation zuzuhören?

Diese und andere Fragen aus den Spannungsfeldern zwischen den Generationen beantwortet dieses Buch mit nachdenklichen Geschichten, aber auch mit Humor.

Über die Autor*innen:

In dieser Anthologie haben wir Autor*innen, die eine komplette Generation abbilden. Die einen beschreiben ihre Sicht auf ein Leben, auf das die anderen schon zurückblicken.

Barbara Balbierz, Herman Bauer, Stefanie Bayer, Andreas Berg, Carsten Böhn, Lisa Brüchner, Tom Davids, Matthias Deigner, Thomas Dülberg, Anna-Lena Eißler, Brigitte Fischer, Freidenker, Roland Hermes, JGM, Inés Maria Jiménez, Marina Krone, Katja Müller-Kuckelberg, Julia Laux, Markus Leibfritz, Karin Leroch, Renate Londer, Mary Mo, Kathrin Thiemann, Andrea Sach, Sabine Schmidberger, Rosemai M. Schmidt, Angela Schützler, Sofie Steinfest

Mehr über unsere Autoren finden Sie auf www.baltrum-verlag.de

Touché

und andere Generationengeschichten

Von Herausgeber

Carsten Böhn und Matthias Deigner

Baltrum Verlag

Weststraße 5

67454 Haßloch

Impressum

© 2021 Baltrum Verlag GbR

BV 2131 – Touché und andere Generationengeschichten

Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR

Illustration: Baltrum Verlag GbR

Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR

Herausgeber: Baltrum Verlag GbR

Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch

Internet: www.baltrum-verlag.de

E-Mail an info@baltrum-verlag.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Touché

Carsten Böhn

Sie sitzt mir gegenüber, zieht die linke Augenbraue hoch und schaut mich fragend an. Was war das gerade eben?

Sie hat Sommerferien und ist in einem besonderen Modus. Früh aufstehen ist nicht, das Frühstück nennen wir eigentlich Mittagessen, wenn sie überhaupt schon so früh nach unten kommt. Ihr Rhythmus geht mir vollkommen ab, genau so wie das Verständnis zwischen Laptop und Tablet, Tablet und Smartphone oder besser noch nur noch mit Kopfhörern bewaffnet zwischen Zimmer und Kühlschrank ihre Pfade anzulegen.

Die Gelegenheit miteinander zu sprechen musste ich nutzen, auch wenn es durchaus nicht sinnvoll ist, die wenigen Momente der Gemeinsamkeit, wie beim Essen, dafür zu missbrauchen und gegebenenfalls negativ zu belasten.

In den ersten drei Wochen hatte ich ja durchaus noch Verständnis, das man oder ‚frau‘ sich von dem langen Schuljahr entspannen möchte und eigentlich nichts mehr unternimmt und sich erholt. Jetzt schlendert sie aber schon in die fünfte Woche der Ferien und bewegt sich kaum.

Also fasste ich mir ein Herz und spreche sie direkt an, frage sie, ob sie nicht denkt, es wäre sinnvoll, kurzfristig mal wieder sportliche Aktivitäten aufzunehmen, da Bewegung nicht nur dem Körper, sondern auch dem immer träger werdenden Geist zugutekommt. Die Antwort kam prompt, sie schaute noch nicht einmal hoch, »Wie gut, dass zumindest du von uns allen wenigstens täglich die Ruderbank nutzt, die du dir extra vor zwei Jahren dafür angeschafft hast.«

Liam

Katja Müller-Kuckelberg

Du lachst. Du lachst so laut und ehrlich. Und ich stehe daneben und kann nicht anders als mit dir zu lachen. Wie kannst du nur so lachen? So selbstbewusst und unbeschwert? Wie kann dein Grinsen nur so breit sein auf deinem kleinen Gesicht? Sie sagen, in deinem Alter müsstest du längst sprechen und so langsam solltest du lernen, die Toilette zu benutzen, sagen sie. Aber du stehst hier vor mir, in deiner Windel, sagst kein Wort und lachst. Ich weiß nicht, wer dir in deinem kurzen Leben schon begegnet ist, ich weiß nicht was du mit deinen großen blauen Augen schon gesehen hast, ich weiß nicht, was dein schmächtiger Körper ausgehalten hat. Sie sagen, du musst Schlimmes erlebt haben. Was genau passiert ist, wissen sie nicht, sagen sie. Wahrscheinlich hat es etwas mit Drogen und Gewalt zu tun. Ich weiß gar nicht, ob ich es überhaupt wissen will. Aber ich würde wirklich gerne wissen, was ich tun soll, wenn du deinen eigenen kleinen Kopf gegen die Wand schlägst. Ich würde so gerne wissen, was ich tun soll, wenn du weinst und schreist und dein Gesicht sich vor Angst und Schmerz verzerrt. Ich kann versuchen, dich abzulenken, kann dich kitzeln, dich in den Arm nehmen. Ich kann mich zu dir auf die kalten Fliesen setzen und mit dir darauf warten, dass die Geister dich in Frieden lassen. Manchmal krallst du deine Finger dann in meinen Pullover oder legst den Kopf auf meine Schulter. Manchmal schlingst du deine Arme so fest um meinen Hals, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. Und dann lachst du wieder. Plötzlich ist das Gurgeln in deiner Kehle nicht mehr das hart heruntergewürgte Salzwasser deiner Tränen, sondern ein glucksendes Kichern. Und vor Freude schlägst du mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Wenn du nur wüsstest, wie unendlich glücklich mich dein Lachen macht. Dieses Lachen, das mir deine Zähnchen zeigt, das von deinen Mundwinkeln bis zu den Ohrläppchen reicht und deinen ganzen Körper vibrieren lässt. Dieses Lachen, das so wertvoll, so zerbrechlich ist, das jeden Moment von einem weiteren Schreikrampf abgelöst werden kann.

 

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den ganzen Tag mit dir auf dem Teppich sitzen. Ich wünsche mir, wir könnten den ganzen Tag gemeinsam Verstecken hinter unseren eigenen Händen spielen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte dich jedes Mal hochheben, wenn du mit flehendem Blick deine Arme in die Höhe streckst. Aber da sind neun andere Kinder, mit denen du dir meine Zeit und Aufmerksamkeit, meine Liebe und Geduld teilen musst. Manchmal hältst du es nicht aus, wenn es nicht du bist, der auf meinem Schoß sitzt. Dann spuckst du mich an oder trittst das Baby in meinem Arm. Dich so zu sehen bricht mein Herz. Das bist nicht du. Das sind die Geister in deinem kleinen Kopf, die du nicht gerufen hast. Es sind die Schatten einer Vergangenheit, von der ich keine Vorstellung habe.

Wenn du wüsstest, wie oft du mein Herz brichst. Jedes Mal wenn ich denke, ich hätte dein Vertrauen tatsächlich gewonnen, wenn ich denke, ich könnte deine Geister vertreiben, dann verletzt du wieder dich oder ein anderes Kind. Du hast das nicht verdient. Du hast es nicht verdient, nur eines von 10 Kindern in der Toddler Station zu sein, und du hast es nicht verdient, dass die Erzieherin mit dir schimpft, wenn du zu laut, zu lange und ohne ersichtlichen Grund schreist. Du hast Eltern verdient, die nur Augen für dich haben, deren ganzer Stolz dein unverständliches Gebrabbel ist, für die du mehr als nur ein anstrengender Aspekt ihres Berufes bist. Du hast Eltern verdient, die dich bedingungslos lieben, so wie meine Eltern mich immer geliebt haben und du hast Eltern verdient, die dich ihre Liebe jeden Tag spüren lassen, so wie ich mir der Liebe meiner Eltern jeden Tag sicher sein kann.

Du hast Eltern. Und wenn die Richterin sie im Verhandlungssaal nach dir fragt, dann sagen sie, dass sie dich lieben. Ich muss mir auf die Lippe beißen, wenn ich das höre, denn ich weiß, es grenzt an ein Wunder, dass deine Mutter tatsächlich hier ist und dass dein Vater neben ihr steht ohne sie anzuschreien. Und ich weiß, dass keiner der beiden zu dem gerichtlich angeordneten Drogentest nächste Woche erscheinen wird.

Aber jetzt gerade stehst du vor mir und lachst und all die Schwere, all die dunklen Gedanken erscheinen wie ein leises Echo aus weiter Ferne. Du lachst so laut und ehrlich. Und ich stehe daneben und kann nicht anders als mit dir zu lachen. Wie kannst du nur so lachen? So selbstbewusst und unbeschwert? Wie kann dein Grinsen nur so breit sein auf deinem kleinen Gesicht? Du grinst mich an und nimmst meine Hand. Du willst gehen. Und du willst, dass ich mit dir gehe. Wohin? Ich weiß es nicht.

Der Spiegel

Renate Londer

Ihre Augen glänzen feucht. Inmitten der Schokotorte leuchtet eine einzelne Kerze. Daneben steht ein Glas Rotwein, noch unberührt. Ihr Blick verliert sich im flackernden Schein des zarten Lichtes. Eingetaucht in eine andere Welt, scheint sie damit zu verschmelzen. Ihre Lippen bewegen sich und sie beginnt zu sprechen:

Es war heiß. Die schwarze Schürze nahm den Schweiß auf, der mir auch in die Augen rann. Niemand fragte mich, wie es mir ging. Die Feldarbeit musste eben getan werden. Ihre Mädchen, zwei und drei Jahre alt, folgten mir auf Schritt und Tritt. Ich hatte nur noch diese eine Furche mit der Egge zu ziehen. Die Zeit wurde knapp. Die Stallarbeit. Die Ziege, die Kuh, das Schwein, die Hühner und Hasen mussten versorgt werden.

Fladenbrot backen und Maisgrieß kochen, Erdäpfel dämpfen. Kaschpel für die Tiere herrichten.

Mein Rücken, er schmerzte.

Das Gewicht des immer größer werdenden Bauches und die Anstrengung des Tages machten mir täglich mehr zu schaffen.

Es waren nur noch wenige Wochen. Die Gedanken daran, was es wohl diesmal werden würde, beschäftigten mich sehr. Wieder ein Mädchen? Hoffentlich wird es der Stammhalter werden, den er sich wünscht. Endlich ein Junge. Er war der Herr im Haus, er hatte das Sagen. Wann immer, wo immer, wie auch immer er es wollte, ich hatte bereit zu sein. Ob am Feld, bei der Hausarbeit, einmal sogar vor euch Kindern. Es war ihm egal. Sein Recht als Mann forderte er genau dann ein, wann es ihm passte. Er war stark. Er brachte das wenige Geld heim. Er roch nach Schnaps. Was sollte ich dagegen machen. Ich, die kleine Frau, deren Tag von Sorgen, Arbeit, Kindererziehung und Not geprägt war.

Es war Mai. Am Kartoffelacker. Ich spürte das Fruchtwasser, das über meine blanken Beine unter dem langen Rock herunterrann. Mühsam schleppte ich mich zurück in die Stube. Hilfe wäre so schön gewesen. Bloß nicht wieder ganz allein entbinden. Doch, wen sollte ich holen. Der nächste Hof war weit weg. Er war, wie immer, nicht zu Hause. Er wäre mir ohnehin keine Hilfe gewesen. Bei dieser grauslichen Geschichte hat er nichts dabei zu suchen, hatte er mir das letzte Mal gesagt. Euch beiden großen Mädchen schickte ich zum Nachbarhof, damit ihr dort nach der Hebamme rufen lassen konntet. Die Zeit reichte jedoch nicht, der Weg war viel zu lang. Die Wehen wurden von Presswehen abgelöst und viel schneller als bei den ersten beiden Geburten, drängte sich das Köpfchen ans Licht der Welt. Minuten später warst du geboren, meine dritte Tochter.

Nur zwei Stunden Pause gönnte ich mir, schließlich musste ich zurück zur Arbeit. Schon öfters musste ich mit der flachen Hand eures Vaters Bekanntschaft machen, weil ich das vorgegebene Arbeitspensum nicht schaffte. Das Baby lag gewaschen und in Tücher gewickelt in der Strohtasche, die ich kurzerhand mit aufs Feld nahm.

So vergingen die Jahre. Fast jedes Jahr war ich wieder schwanger, und gebar nacheinander euch andere Sechs. Als fünfter kamst du zur Welt, mein Junge. Doch ich hatte mich geirrt. Es ging ihm nicht um den Stammhalter, es ging ihm darum, mich einfach nehmen zu können, wann immer er wollte.

Immer noch standen die Grauen des Zweiten Weltkrieges an der Tagesordnung und die Zeiten waren mehr als schlecht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als euch großen Kinder alsbald als Mägde und für Hilfsarbeiten auf die größeren Gutshöfe zu verschicken, wo ihr für Kost und Logis schuften musstet. Geld gab es dafür keines. Mir war es einfach unmöglich, eine zehnköpfige Familie durchzufüttern. Immer seltener kam euer Vater heim. Wenn er da war, war er missmutig, grimmig und meistens ersoff er seine Erlebnisse in Schnaps. Zeitenweise war er irgendwo im Lazarett, dann wieder war er zu weit weg, als dass er nach uns sehen konnte. Als er zum letzten Mal da war, war er schwer verletzt. Eine Granate. Sein Bein war unwiederbringlich kaputt. Ach, wie lange ist das nun her? Damals fragte ich mich jeden Tag: Wird er überhaupt wiederkommen? Will ich überhaupt, dass er heimkommt? Als hätte ich es herauf- beschworen, erreichte mich Tage später die Nachricht, dass er sein Leben im Kampf gelassen hat.

Dass die Zeiten nach seinem Ableben noch schwieriger, und der Kampf ums nackte Überleben noch härter werden würde, konnte ich mir damals kaum vorzustellen. Doch wir lebten fortan nur mehr von der Hand in den Mund, von einem Tag zum Nächsten. Er hatte mir nichts hinterlassen. Es war lächerlich wenig, was mir als Witwenrente ausbezahlt wurde. Und doch. Wir schafften es irgendwie. Ihr alle Sieben seid herangewachsen, konntet die Schule besuchen. Ihr seid zu rechtschaffenen Menschen herangewachsen. Nur zwei, zwei von euch haben diesen Irrsinn nicht überlebt. Es war unser Zusammenhalt, unsere gegenseitige Liebe, unser Familiensinn, der uns diese Zeit gemeinsam überstehen ließ.

Ihr wart es, Rudolfine, Ernestine, Justine, Hermine, meine Mädchen. Und ihr: Friedrich, Wolfhard und Ignaz. Ihr wart es, die mein ganzes Glück bedeuteten. Ihr wart der Grund, warum ich überleben musste.

Ihre weißen Haare waren zerzaust, ihr Gesicht gezeichnet von der Vergangenheit. Jede Einzelne ihrer Falten diente als Weg für die Tränen, die ihr unaufhaltsam über das müde Gesicht liefen.

Im sporadisch eingerichteten Raum saß sie, eingewickelt in eine warme Decke, auf ihrem Lehnstuhl. Aus dem Spiegel blickten sie die gerahmten Fotos ihrer sieben Kinder an.

Ganz sachte holte sie der ewige Schlaf aus der Einsamkeit ihrer letzten Jahre. Abgeschoben und vergessen in einem Altenheim.

Mein Nachlass

Kathrin Thiemann

Es ist ganz still. Sie meinten, es sei ein Schlaganfall gewesen. Ich dachte, ich hör nicht recht. Ich und ein Schlaganfall? Ich habe doch 88 Jahre gesund gelebt. Ein Schlaganfall. Vom Schlag gefällt. Bin ich eigentlich noch in der Lage etwas zu spüren? Irgendwie fühlt es sich an wie ein Faustschlag in den Magen. Es erschüttert mich, dass sie mich jetzt auf die Palliativstation gefahren haben. Weil nichts mehr zu machen sei. Mir geht das alles zu schnell.

Stille.

Mit aller Kraft versuche ich, wenigstens meine Augen zu öffnen. Oh Gott, wie schwer Augenlider sein können. Hallo? Haallo? Hört mich denn niemand?

Stille.

Ein leises Klopfen, die Tür geht auf, Schritte nähern sich. Ich spüre einen kühlen Hauch.

»Vater?« Es ist Peter, mein Ältester. Geschäftsmann durch und durch, erfolgreich, korrekt, gewiss wieder in Schlips und Kragen. »Was meinen Sie, Doktor« fragt er. »Wird er diese Woche noch sterben? Wir haben für Samstag einen Urlaub gebucht.«

»Das kann ich Ihnen so genau nicht sagen.« Eine fremde Stimme. Aber Peter, möchte ich sagen, ich bin doch dein Vater. Es geht nicht. Die Schritte entfernen sich und ich versinke im Dunkeln.

Stille.

Ein stechender Geruch weckt mich, den ich leider nur zu gut kenne. Gerrit, mein jüngerer Sohn, immer schon unser Sorgenkind. Künstler wollte er sein mit all seinen Flausen im Kopf. Ich sehe ihn förmlich vor mir: ausgelatschte Turnschuhe, eine schmutzige und leicht bepinkelte Jogginghose, ein Anorak mit kaputtem Reißverschluss und großem Fünfer am Ärmel, ungeschnittenes und ungewaschenes Haar – und die gigantische Bierfahne.

Was höre ich da?

»He Doc, was meinen Sie? Können Sie Papa nicht einen ordentlichen Joint organisieren, dass er noch mal kurz auf die Beine kommt? Ich würde ihn zu einer Hure fahren, dass er einen letzten schönen Tag erleben kann.«

Ich höre den Arzt förmlich nach Luft schnappen. Meine beiden Söhne – mein Nachlass.

Wieder kommt das Dunkel.

Der Luftballon

Tom Davids

Der Mann ließ den Blick über die unberührte Landschaft schweifen und sog die erfrischende Luft tief in seine Lungen. Es roch nach Frühling. Doch die Freude über die beruhigende Idylle erreichte seine Augen nicht. Sie wirkten leer und leblos. In sich gekehrt beobachtete er den Appenzeller Sennenhund, der lebhaft am Waldrand herumtollte. Gemächlich folgte er dem Hund den knirschenden Schotterweg entlang.

»Komm Rocky, lass uns etwas in den Wald gehen.«

 

Doch der Appenzeller hörte nicht. Aufgeregt schnüffelte er im Graben und blickte den Mann erwartungsvoll mit mandelförmigen Augen an.

»Rocky, nun komm schon!«

Nachdenklich ging er ein paar Schritte auf den Hund zu. Es war ungewöhnlich, dass er seinen Kommandos nicht folgte. Immer wieder sah der Vierbeiner ihn flehend an, während er ihn mit heller Stimme anbellte.

»Was hast du denn da gefunden?«

Mit ausdrucksloser Miene bückte sich der Mann und starrte in den Graben.

»Ein Luftballon.« murmelte er.

Grimmig musterte er den herzförmigen roten Ballon. An einer silbernen Schnur war ein kleines Kärtchen befestigt. Er griff nach dem Luftballon und nahm die verzierte Karte in die Hand. In einem kunstvoll geschwungenen Herz waren die Worte »Anna & Basti« abgedruckt.

Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er die beiden Namen las. Er wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe.

»Wir wünschen euch …«, flüsterte er leise, als er endlich in der Lage war, weiterzulesen. Mit einem edlen silbernen Stift hatte jemand handschriftlich »... dass ihr die besten Eltern auf der ganzen Welt werdet« daruntergeschrieben.

Kraftlos sank seine zitternde Hand hinab neben die Hüfte. Wie gelähmt fixierte er die Äste im Graben. Doch er ließ den Zettel nicht los. Mit starrem Griff klammerte er sich daran fest. Wie an einem Anker, der Rettung, Erlösung versprach. Bis sein gequälter Blick auf die Rückseite der Karte fiel, einen kurzen Moment lang das Foto des glücklichen, verliebten Paars streifte. Die verkrampfte Hand löste sich. Das Kärtchen glitt aus den mutlosen Fingern und segelte langsam aber unaufhaltsam zu Boden.

Die Uhr an der Wand tickte. Rocky schlummerte friedlich auf einer kuscheligen Decke. Das Wohnzimmer war klein und spartanisch eingerichtet. Es hingen keine Bilder an den Wänden. Keine Erinnerungen. Nichts. Müde rieb sich der Mann die Schläfen. Es war spät. Weit nach Mitternacht. Er wusste nicht, wie lange er schon so da saß. Zweifel spiegelten sich in dem von Sorgenfalten zerfurchten Gesicht. Kopfschüttelnd stand er schließlich auf und holte sich eine Jacke. Rocky hörte das Klappern des Hausschlüssels und eilte treu an seine Seite. »Komm, mein Junge. Wir müssen nochmal in den Wald.«

Der Mann schluckte schwer, als er durch die Windschutzscheibe des Wagens das Haus betrachtete. Immer wieder legte er seine Hand an den Türgriff. Zögerte. Zog sie zurück. Haderte. Gequält verzog er das Gesicht, als Sehnsucht, Scham und Angst miteinander rangen.

Plötzlich schlug er mit der Faust auf das Lenkrad. Die Haut an seinem Fingerknöchel platzte auf. Doch er hieß den Schmerz willkommen. Er war zweihundert Kilometer gefahren, um sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen. Entschlossen öffnete er die Tür des Autos und lief mit verbissener Miene auf das Haus zu. Ein letztes Mal atmete er tief durch. Dann drückte er auf den Klingelknopf und schloss angespannt die Augen.

Er hörte Schritte, riss die Augen auf. Und starrte wortlos in das Gesicht, das er so vehement verdrängt hatte.

»Du?« Die Frage klang überrascht. Aber auch anklagend. Ablehnend. Verletzt. »Was zum Teufel willst du hier?«

Seine Stimme brach, als er nach Worten rang. »Ich wollte dich sehen.«

»Du wolltest mich sehen?«, wiederholte sie ungläubig. »Sag mal, spinnst du? Was fällt dir eigentlich ein?«

Wortlos griff er in seine Gesäßtasche und holte das Kärtchen hervor, das er an dem Luftballon im Wald gefunden hatte. »Der Wind hat dich zu mir getragen.«

Verbissen starrte sie auf die Karte in seinen zitternden Händen. Dann hob sie den Kopf. Ein feindseliges Funkeln flammte in ihren Augen auf. »Lass mich einfach in Ruhe!«

»Anna, ich habe mich geändert.« Beschämt blickte er zu Boden. Seine Stimme bekam einen flehenden Unterton. »Es ist vorbei.«

»Das freut mich für dich«, erwiderte sie kalt. »Aber für mich ist es auch vorbei.«

Machtlos sah er zu, wie sich die Tür vor seiner Nase schloss. Das Geräusch war wie ein dumpfer Schlag ins Gesicht. Er sank zu Boden und blinzelte mutlos in die Morgensonne.

Der Aufstieg hatte etwas Reinigendes. Im Gegensatz zur beklemmenden Einsamkeit seiner Wohnung liebte er es, sich allein mit Rocky in der freien Natur aufzuhalten. Das Unterhemd klebte bereits auf dem schweißnassen Rücken. Die Gegend, in der er heute lebte, war flacher. Weite Felder, dichte Wälder. Nicht so viele Hügel und Berge wie hier. Er atmete die entfernt vertraute Luft in seine Lungen. Spürte, wie sehr er das Walberla vermisst hatte. Das Tor zur Fränkischen Schweiz. Den einzigen Zufluchtsort, der ihm einst vermutlich das Leben gerettet hatte, als die heile Welt auseinanderbrach, die er mit verzweifelten Lügen zusammenhalten wollte.

Schwer atmend erreichte er das Gipfelkreuz am nordwestlichen Hang des Tafelberges. Erschöpft ließ er sich auf der Bank nieder und ließ seinen Blick über das weitläufige Tal schweifen. Rocky legte sich neben ihm auf den steinigen Boden und ruhte sich ebenfalls aus. Es war ein kühler Vormittag. Der Wind strich dem Mann erfrischend über seine geröteten Wangen. Die Ruhe auf dem verlassenen Berg war genau richtig, um die turbulenten Gedanken zu ordnen, die wie ein Wirbelsturm durch seinen Kopf fegten.

»Sie hat ja recht«, seufzte er traurig zu sich selbst. »Ich habe sie alle im Stich gelassen.«

Die Erinnerungen trafen ihn schwer, als er seine alte Heimat von dem Aussichtspunkt aus der Vogelperspektive betrachtete. Die vielen Fehler. Versäumnisse, die nicht mehr aufzuholen waren. Lügen, die er nicht ungeschehen machen konnte. Tief in seinen bedrückenden Gedanken versunken, bemerkte er die sich nähernden Schritte erst, als direkt hinter ihm die Kieselsteine knirschten.

»Ich wusste, dass ich dich hier finde.« Die Stimme fuhr ihm durch Mark und Bein. Schweigend harrte er aus, wagte es nicht, sich umzudrehen. »Hier hast du schon immer nach Vergebung gesucht.«

»Das stimmt«, erwiderte er leise mit zugeschnürter Kehle. »Dieser Ort hat etwas Magisches, findest du nicht?«

Sie setzte sich ans andere Ende der Bank und musterte die traumhafte Landschaft. »Bist du wirklich trocken?«

Der Mann nickte langsam. »Ja. Seit vier Jahren schon.«

»Warum hast du dich nie mehr gemeldet?«

»Ich hatte genug mit mir selbst zu kämpfen.« Zum ersten Mal, seit sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, blickte er sie direkt an. »Und ich habe mich geschämt. Wollte, dass ihr mich vergesst.«

»Nach Mamas Tod hätten wir dich mehr denn je gebraucht.«

Der Mann nickte stumm. Er wusste, dass er versagt hatte. Doch der Kampf um ein normales Leben, das ausweglose Duell gegen den Alkohol, hatte ihm alle Kraft abverlangt, die er aufzubringen vermochte.

»Ich habe gelesen, es ist eine Krankheit, nicht wahr?«

»Ja, das ist es«, flüsterte er heiser.

»Warum bist du nach all den Jahren wieder hierher gekommen?«

»Der Luftballon hat die Nachricht deiner Hochzeit zu mir getragen. Ich wollte dich sehen, dir gratulieren.«

»Was versprichst du dir davon?«

Der Mann schluckte. Ratlos starrte er auf den kleinen Felsen unter seinem rechten Fuß, um ihr nicht in die anklagenden Augen zu schauen.

»Du warst ein miserabler Vater.« Es klang mehr wie eine Feststellung als ein Vorwurf. Doch für den Mann machte das die Aussage umso bitterer.

»Ja, das war ich«, wisperte er. »Und es tut mir schrecklich leid.«

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich bei seiner Tochter entschuldigt hatte. Aber Anna quittierte die überfälligen Worte mit Schweigen. Er hörte ihre bebenden Atemzüge. Lauter und angestrengter als nach dem steilen Aufstieg. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie ihren Blick über die ländliche Weite schweifen ließ und die wärmenden Strahlen der Sonne in sich aufsaugte. Zu gerne hätte er gewusst, was sie dachte. Was er sagen musste, damit sie ihm vergeben konnte.

»Du wirst mir niemals verzeihen, oder?«

Anna seufzte tief. Dann rutschte sie auf der Bank an ihn heran, so dass sie sich beinahe berührten. Der Mann hielt den Atem an. Unruhig wartete er auf ihre Antwort. Sie mied die flehenden Augen. Doch plötzlich griff sie mit den Fingerspitzen nach seiner Hand. Er war überrascht, aber zuckte nicht zusammen. Doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die schlagartige Nähe erweckte Hoffnungen, von denen er nie zu träumen gewagt hatte.

»Nein«, sagte sie nachdenklich. »Vermutlich nicht.«

Er schloss die Augen, wollte die Hand wegziehen. Doch sie ließ seine Finger nicht los.

»Es ist einfach zu viel passiert, verstehst du?«

Er nickte stumm, unfähig zu sprechen.

»Die Narben sind zu tief. Und selbst wenn ich dir vergebe, werde ich dir nie vertrauen können.«

Seine Miene war wie versteinert.

»Aber vielleicht kann er es eines Tages.«

Wie vom Donner gerührt fuhr er herum. Er? Wovon redete sie?

Langsam hob sie mit ihren zarten Fingern seine Hand, führte sie wie in Zeitlupe an ihren Bauch und legte sie sachte dort ab.

»Versprich mir, dass du ihn nie so enttäuschen wirst wie mich.«

Der sanfte Wind trug ihre eindringlichen Worte durch den kalten Frühlingsmorgen. Und die stumme Träne des Mannes glitzerte in der tröstenden Sonne. Ehrfürchtig nickte er mit dem Kopf.

»Das verspreche ich dir«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Ihn werde ich nicht enttäuschen.«