Buch lesen: «Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2)»
Carola Schierz
Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2)
Die Rückkehr des Erben
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Sina
Farid
Finea
Ammon und Fanida
Kamir
Farid
Sina
Kamir
Sina
Sandor
Sina
Farid
Kamir
Sina
Sandor
Sarah
Farid
Sarah
Kamir
Sarah
Kamir
Sina
Kamir
Sandor und Kossmo
Sina
Ismee
Lester
Lina
Fanida
Kamir
Fanida
Kamir
Ismee
Kamir
Lina
Sandor und Kossmo
Kamir
Lina
Sina
Kamir
Farid
Lina
Kamir
Einige Wochen zuvor …
Ammon
Kamir
Ein paar Monate später ...
Impressum neobooks
Sina
Sina saß in ihren Räumlichkeiten und prüfte die Bevorratungslisten des Tempels. Vergeblich versuchte sie, sich auf die vielen Zahlen vor ihren Augen zu konzentrieren. Sie konnte es wie immer kaum abwarten, endlich ihren abendlichen Gang zur Kontrolle des Blutsiegels anzutreten. Zu groß war ihre Sorge um das Befinden von Finea, dem kleinen Ammon und Lord Arko. Obwohl Farid jegliche Verbindung zum Tempel gelöst hatte, gingen die Wächterinnen weiterhin ihrer wichtigsten Bestimmung nach: Sie wachten über das Wohl der königlichen Familie. Dabei gab es jedoch seit jeher feste Abläufe. Außer Sina waren noch zwei andere Wächterinnen dazu autorisiert, diesen ehrenvollen Gang zu absolvieren, und sie wechselten sich dabei ab. Sina war demzufolge nur jeden dritten Tag an der Reihe. Ihr fiel es unsagbar schwer, nicht häufiger nachzusehen, doch um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, hielt sie sich zurück. Heute war es endlich wieder so weit.
Als die Zeit gekommen war, musste sie an sich halten, um nicht zu rennen. Mit klopfendem Herzen trat sie schließlich an das Heiligtum heran. Angespannt nahm sie das erste Fläschchen aus dem Versteck. Mit Ammon war alles in Ordnung. Aufatmend legte sie es zurück und griff nach dem nächsten. Sie zog die Stirn in Falten, als sie sich Fineas Probe ansah. Sie war ziemlich trüb, aber das musste noch nichts Schlimmes bedeuten. Vielleicht war sie einfach nur erkrankt. Sina versuchte zunächst, vom Besten auszugehen.
Doch als sie schließlich Lord Arkos pechschwarze Probe in der Hand hielt, wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert war. Der Raum um sie herum begann sich zu drehen und ihr wurde speiübel. Sie musste sich setzen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie hatte Arko kaum gekannt. Darum war ihre Sorge um Finea und den Jungen weitaus größer als ihre Trauer um den Toten.
Sina wurde fast verrückt dabei, alle Varianten durchzugehen, die zu diesem Ergebnis geführt haben konnten. Was war passiert? War Arko vielleicht den Folgen eines Unfalls erlegen? Dann wäre Finea jetzt ganz auf sich gestellt und müsste sich allein um den Jungen kümmern. Dass es ihr dabei nicht besonders gut gehen mochte, wäre nachvollziehbar. Zumindest schien diese Erklärung sehr viel wahrscheinlicher als die schlimmste Version: Ihre Enttarnung. Oder war hier doch eher der Wunsch der Vater des Gedankens?
Irgendwie musste Sina Genaueres herausfinden. Dazu würde sie das Blutsiegel ab sofort doch täglich aufsuchen müssen, um häufiger nach den Proben sehen zu können. Wenn sie weiterhin stabil blieben, bestand die berechtigte Hoffnung, dass zumindest Finea und der Junge wohlauf waren.
Oder sollte sie ihr doch lieber einen Raben senden? Dann könnte ihn Finea mit einer Antwort zu ihr zurückschicken. Doch was, wenn Sinas Nachricht in falsche Hände geriet und sie damit ihre Schützlinge erst recht in Gefahr brachte? Sie hatten damals schließlich nicht ohne Grund vereinbart, dass Sina nur Kontakt zu Arko und Finea aufnehmen durfte, wenn sie die beiden vor einer ernsthaften Bedrohung warnen müsste.
Sie war wohl oder übel gezwungen abzuwarten, und Finea, ihrem klügsten und treuesten Zögling, zu vertrauen. Sie glaubte fest daran, dass die junge Frau durchaus in der Lage war, sich auch allein um Ammons Wohl zu kümmern. Inzwischen war er ja schon sechs Jahre alt und sollte aus dem Gröbsten heraus sein.
Wenn sich das Ergebnis allerdings weiter ins Negative verändern würde, musste sie sich dringend etwas einfallen lassen, um die beiden zu finden. Im Moment hoffte sie nur inständig, dass es nicht schlimmer wurde, als es bereits schon war. Ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Immer neue Szenarien tauchten vor Sinas innerem Auge auf. Keines war befriedigend. Egal, was auch immer geschehen sein mochte, eines stand fest: Die arme Finea musste sich sehr hilflos vorkommen, ohne Lord Arkos männliche Unterstützung.
Die Großpriesterin hoffte, dass die junge Wächterin im Ernstfall selbst einen Weg finden würde, um ihrerseits Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Routinemäßig kontrollierte sie noch alle anderen 'offiziellen' Proben. Dabei musste sie sich zum wiederholten Male eingestehen, dass sie bei der von Farid insgeheim auf eine Schwarzfärbung hoffte. Das entsprach absolut nicht ihrem Naturell, doch dieser Mensch schaffte es, auch in ihr dunkle Seiten zu erwecken. Erwartungsgemäß waren jedoch alle in einem tadellosen Zustand. Den Kopf voller Sorgen verließ Sina den geheiligten Ort und begab sich zurück in ihre Gemächer.
Farid
Endlich! Sie hatten die junge Blutwächterin in ihrer Gewalt. Zufrieden legte Farid das Papier mit der erfreulichen Botschaft auf den Tisch und griff nach der Weinkaraffe. Darauf musste getrunken werden! Genüsslich ließ er einen Schluck des guten Tropfens seine Kehle hinunterrinnen und lächelte, als er spürte, wie der Rebensaft seine Magenwände streichelte.
Schon am folgenden Tag wurden die Männer zurückerwartet, welche die rothaarige Hexe nach Isfadah brachten. Arko war tot. - Jetzt wirklich! Das Kind, ob es sich nun um seinen Neffen handelte oder nicht, war in den Flammen der brennenden Hütte umgekommen. Die Männer hatten sie in jener Nacht komplett umstellt und hätten definitiv gesehen, wenn auch nur eine Maus versucht hätte, das Gebäude zu verlassen. Dies bezeugte zumindest der Söldnerführer in seinem Schreiben. Auf den Mann war Verlass! Das hatte er Farid bereits in zahlreichen Situationen bewiesen. Wenn sie zurück wären, würde er sich die ehemalige Wächterin persönlich vornehmen und dazu bringen, ihm alles zu verraten, was sie wusste. Damit konnte er vielleicht gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Farid hasste Sina und ihren Tempel. Sollte die Großpriesterin in irgendeiner Form in diese Sache involviert sein - und das hielt er durchaus für möglich - würde er sie zur Verantwortung ziehen. Dann hätte er auch endlich etwas in der Hand, um sie und ihren elenden Tempel zu zerstören. Doch dazu brauchte er zuvor das Geständnis der Rothaarigen. Sina ohne ausreichende Beweise verhaften zu lassen, wäre, aufgrund ihres hohen Ansehens im Volk, nicht klug. Doch er sollte dieses Geständnis ganz sicher bekommen, dafür würde sein Folterknecht schon sorgen ... Farid wollte es genießen, dabei zuzusehen. Schon bei der Vorstellung schoss ihm das Blut in die Lenden ... Am Ende wartete unweigerlich das Schafott auf die schönen Wächterinnen. Auf beide! Sie würden, wegen Ausübung schwarzer Magie und Beihilfe zur Flucht, zum Tode verurteilt werden. Dafür müsste er allerdings öffentlich machen, dass sie Arko geholfen und damit Farid an der Nase herumgeführt hatten. Da diese Peinlichkeit von seinen Männern inzwischen jedoch erfolgreich bereinigt worden war, blieb der Schaden begrenzt. So wäre er mit einem Schlag alle Beteiligten an der Verschwörung gegen ihn los.
Die Sache mit dem vermeintlichen Kindertausch würde er nur im Stillen verfolgen. Es war eh nur eine vage Vermutung und wahrscheinlich vollkommen unbegründet. Der Knabe konnte ihm so oder so nicht mehr schaden und es würde nur schlafende Hunde wecken – und Ismee verwirren.
Wieder schlich sich ein überlegenes Lächeln auf seine Züge. Beschwingt, durch die positive Entwicklung in dieser Angelegenheit, beschloss er, Ismee in ihren Gemächern aufzusuchen.
Ein wenig Plauderei und ein anschließendes Schäferstündchen mit der Frau seiner Träume würden diesen Tag zu einem perfekten werden lassen.
Er fand sie auf ihrem Balkon. Sie trank, wie fast jeden Abend, Wein. Er interpretierte das so, dass sie ihr Leben an seiner Seite jetzt doch zu genießen verstand. Sie erfüllte Farids Bedürfnisse in jeglicher Hinsicht. Sie führte ausgedehnte Unterhaltungen mit ihm, trat in der Öffentlichkeit an seiner Seite vorbildlich auf und teilte bereitwillig mit ihm das Bett. Zwar wurde Farid des Öfteren auf Ismees Gesundheitszustand angesprochen, tat ihre Blässe aber mit einem ihr angeborenen hellen Teint ab. Sie unterstrich ihre zarte Eleganz und Farid fand das eher reizvoll als besorgniserregend. Zumal Ismee ihm immer versicherte, dass es ihr an nichts fehle.
„Farid, wie schön, dass du noch vorbeischaust!“, sagte sie leise und er übersah absichtlich die kleine Falte zwischen ihren Brauen, die dort für kurze Zeit erschienen war und ihre Worte Lügen strafte.
„Ich hatte Sehnsucht nach meiner schönen Gemahlin“, erwiderte er seinerseits wahrheitsgemäß. Er trat zu ihr und küsste ihre Hand. Als er mit seinen Lippen ihren Nacken berührte, bildete sich dort sofort eine Gänsehaut, die er als Bestätigung seiner Anziehungskraft auf sie wahrnahm. Zufrieden setzte er sich zu ihr.
„Möchtest du auch ein Glas Wein?“, fragte sie beflissen.
Er lehnte sich entspannt zurück. „Wie könnte ich die Einladung einer so schönen Frau ablehnen? Vielleicht lassen wir das als gemeinsamen Schlummertrunk gelten, denn ich habe nicht vor, dich danach wieder zu verlassen. In dieser Nacht möchte ich dich mit allen Künsten der Liebe verführen.“
Sie lächelte, schwieg jedoch und nickte nur zustimmend.
'Ja, sie freut sich ebenfalls darauf' , ging es ihm durch den Kopf. 'Sie ist nur von zu edler Natur, um über diese Dinge zu sprechen.'
Gemeinsam unterhielten sie sich über die kleinen Unwichtigkeiten des Alltags. Neben dem aktuellen Hofklatsch kamen auch Linas Probleme mit dem Hoflehrer zur Sprache, von dem sie seit Kurzem in allen wichtigen Dingen unterrichtet wurde.
Die Kleine war ein wahrer Wildfang. Immer fröhlich, aber auch schwer zu bändigen. Sie hatte einen ausgesprochenen Dickkopf. Der Lehrer hatte seine liebe Not mit ihr. Sie gehorchte ihm oft nicht und konzentrierte sich nicht gern auf Dinge, die zwar wichtig, aber in ihren Augen einfach zu langweilig waren. Mit ihrer ehrlichen, frischen und manchmal etwas frechen Art, brachte sie Leben ins Schloss. Ihr Faible für Kamir war noch immer nicht verschwunden. Er musste mittlerweile recht oft mit ihr und ihren Kuscheltieren die Teestunde verbringen. Es war für jeden Beobachter amüsant zuzusehen, wie Lina jede junge Dame an Kamirs Seite mit bösen Blicken durchbohrte. Und fast immer gelang es ihr, ihren großen Freund unter einem Vorwand von diesen Damen fortzulocken. Kamir konnte ihrem flehenden Blick einfach nicht widerstehen und ließ die ein oder andere Verehrerin frustriert zurück. Und gelegentlich krönte Lina ihren Sieg, indem sie der Verliererin noch unauffällig die Zunge herausstrecke. Natürlich wagte niemand, die Prinzessin in ihre Schranken zu weisen. Unter den strengen Augen ihrer Mutter vermied das Mädchen wohlweislich derartige Entgleisungen.
Als Farid, seiner Meinung nach, genug mit Ismee geredet und auch getrunken hatte, führte er seine Frau zum Bett. Er setzte sich, während sie auf seinen Wunsch hin ihre Kleider ablegte. Sofort reagierte seine Männlichkeit aufs Heftigste und er erhob sich. Langsam umkreiste er die nackte Ismee und entledigte sich langsam seiner eigenen Sachen. Genießerisch fuhr er mit seinen Fingern über die weiblichen Rundungen ihres Körpers. Ihre Brustwarzen reagierten auf seine Berührung und formten sich zu harten Knospen. Er küsste ihren Nacken und massierte mit den Händen gleichzeitig ihre Brüste. Dann zog er sie zum Bett und legte sich so, dass sie rittlings auf ihm Platz nehmen konnte. Sie hielt ihre Augen geschlossen, während sie ihn tief in sich einließ und ihren sündigen Rhythmus aufnahm. Kurz bevor er zu kommen drohte, warf er sie auf den Rücken und führte die letzten Stöße in der ihm gebührenden überlegenen Position aus. Stöhnend gab er seinen Samen frei, der bisher leider noch immer nicht auf fruchtbaren Boden gefallen war.
Als sie später nebeneinander lagen, hatte Ismee ihm ihre schöne Kehrseite zugewandt. Farid betrachtete sie ausgiebig. Er konnte ihr keinen Vorwurf im Bezug auf die Kinderlosigkeit ihrer Ehe machen. Zum einen hatte sie schon ein Kind bekommen und war damit nachweislich nicht der Grund dafür, zum anderen hatte das Blutsiegel ihnen genau dies prophezeit.
Seine Mutter hörte jedoch überhaupt nicht mehr damit auf, ihn diesbezüglich zu bedrängen. Langsam musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und eine der Hofdamen schwängern. Um einen Thronerben zu zeugen, konnte er nicht einfach eine dahergelaufene Magd packen und solange beschlafen, bis sie ein Kind empfing. Seine Mutter war schon emsig dabei, die Damen bei Hofe nach Gesundheit, Intelligenz und Schönheit einzustufen. Wenn Farid dann eine Wahl getroffen hätte, müssten Verhandlungen mit der Familie der Auserwählten aufgenommen werden. Die Position als offizielle Mätresse des Königs wäre nicht die schlechteste. Und als Mutter des Thronerben hätten sowohl die junge Frau als auch deren Familie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt.
Er empfand die Vorstellung lästig. Denn anders als jene Frauen, die ihn ab und zu seine 'anderen' sexuellen Gelüste stillten, müsste er diese umwerben und ihr sein Interesse heucheln. Es widerte ihn jetzt schon an. Nach wie vor war Ismee die einzige Frau im Universum, die es schaffte, sein Herz zu berühren. Wenn er mit ihr das Bett teilte, war er nahezu wunschlos glücklich. Sie brachte das Monster in ihm zum Schweigen. Er griff mit einer Hand in ihr weiches Haar und schlief so ein.
Am nächsten Morgen warteten dringende Staatsgeschäfte auf ihn, darum verabschiedete er sich widerwillig in aller Frühe von seiner Gemahlin.
Er bekam nicht mit, was geschah, als er den Raum verlassen hatte. Wie jedes Mal, nach einer Nacht mit Farid, sprang Ismee aus dem Bett, sobald sich seine Schritte entfernt hatten. Dann rief sie nach der Magd und befahl ihr, ein heißes Bad herzurichten. Sie eilte zum Schrank und spülte mit Branntwein mehrere Male den Mund aus. Dabei vermied sie es, in den Spiegel zu sehen. Erst nach dem Bad hatte sie weniger das Gefühl, eine schmutzige Hure zu sein …
Finea
Die Zeit im Kerker verging nur langsam. Es war kalt hier und roch muffig. Finea war dennoch froh, dass die beschwerliche Reise vorüber war. Man hatte sie verkehrt herum auf ein Pferd gesetzt und ihr die Hände auf den Rücken gefesselt. So kam der Trupp schneller voran als mit einem Wagen und sie hatte trotzdem keine Chance zu fliehen. Nicht nur einmal war Finea fast vom Pferd gefallen.
Doch das alles war nichts gegen den seelischen Schmerz, den sie gewaltsam zu unterdrücken versuchte. Arko und die Kleinen waren tot. Sie hatte eindeutig die Schreie beider Kinder gehört und Fanida sogar als Schatten am Fenster gesehen. Kurz darauf war der Dachstuhl eingestürzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch lebend aus dem Haus herausgekommen waren, ging gegen null. Würde sie sich jedoch gänzlich ihrer Trauer hingeben, hätte sie ihrem Leben bereits ein Ende gesetzt. Das Mittel dazu, die tödlichen Beeren der Maruccapflanze, hatte sie schon seit Langem in ihrem Ärmelsaum eingearbeitet. Diese Vorsichtsmaßnahme traf sie, nachdem der Stadtvater von Limera ihr Wächterinnenmal entdeckt und sie vor Sorge kein Auge mehr zubekommen hatte. Ein bis zwei davon würden ausreichen, um eine Frau von ihrer Statur in den schnellen und sicheren Tod zu schicken. Doch sie hoffte, zuvor noch einmal Sina sehen zu können. Finea wusste: Sobald ihre Meisterin davon erfuhr, dass sie hier war, würde diese versuchen, zu ihr in den Kerker zu gelangen.
Etwas später vernahm sie Schritte und das Geräusch eines Schlüssels im Schoss des Gitters. Ein Mann betrat die Zelle und brachte ihr einen Krug Wasser und etwas Brot. Als er schon wieder gehen wollte, erkannte sie in ihm jenen Wärter, den Sina damals bestochen hatte, um Arko den befreienden Trank zukommen zu lassen.
„Wartet!“, rief sie ihm nach. Zögerlich drehte er sich um und kam zu ihr zurück. „Ich erkenne Euch wieder. Ihr seid der Wärter, der …!“
„In Dreiteufelsnamen schweigt! Oder wollt ihr mich gleich mit aufs Schafott nehmen?“, fuhr er sie an.
„Verzeiht! Aber Ihr seid meine letzte Chance. Bitte sagt Sina, dass ich hier bin. Ich muss sie unbedingt sprechen.“
Er sah sie mitleidig an. „Es tut mir leid, aber ich muss Euch jegliche Hoffnung auf Rettung nehmen. Der König hat angeordnet, dass jeder Gefangene, der in diesen Mauern stirbt, seinen Männern präsentiert werden muss, bevor der Leichnam abtransportiert werden darf. Die stoßen den Toten ihren Dolch ins Herz, um sicherzugehen, dass so etwas wie bei Lord Arko sich nicht wiederholt.“
„Seit wann weiß er davon, dass Arko geflohen ist und wie hat er es überhaupt erfahren?“, wollte Finea wissen.
„Keine Ahnung. Offiziell ist auch nichts davon bekannt. Kurz nach dem fünfjährigen Thronjubiläum des Königs wurde plötzlich dieser Befehl herausgegeben. Und noch etwas Seltsames geschah: Der Totengräber wurde wegen Leichenschändung zum Tode verurteilt. Ich bin mir sicher, dass es nur einen Grund dafür geben kann: Der König wusste spätestens zu diesem Zeitpunkt von Lord Arko. Das Ihr jetzt hier seid, ist für mich der letzte Beweis.“
Finea nickte zur Bestätigung. „Sie haben uns vor ein paar Tagen in Blumare gefunden. Ich bin die einzige Überlebende unserer kleinen Familie.“ Eindringlich hob sie den Blick. „Ich muss mit Sina sprechen. Bitte versucht es.“
Der Mann sah sie hoffnungslos an. „Ich werde es probieren, aber macht Euch keine Hoffnung. Es ist nahezu unmöglich.“ Mit diesen Worten ließ er sie allein.
Nur wenig später hörte sie erneut Schritte. Es schienen mehrere Personen zu sein.
Die kurz aufkeimende Hoffnung, es könne sich um Sina handeln, wurde spätestens in dem Moment zerstört, als plötzlich Farid vor ihr stand und sie herablassend anlächelte.
„Welch eine Freude, Euch zu sehen, ehrwürdige Wächterin. Viel zu lange haben wir Euer liebreizendes Antlitz entbehren müssen.“ Langsam trat er an sie heran und griff nach einer ihrer langen roten Haarlocken. Genüsslich ließ er sie durch seine Finger gleiten und näherte sich mit seinem Mund ihrem Ohr. „Schade, dass uns diese Schönheit bald für immer verloren geht. Der Henker hat selten ein solches Prachtweib in seine tödlichen Finger bekommen. Die öffentliche Auspeitschung vor Eurer Hinrichtung wird vielen unserer Untertanen eine Augenweide sein.“ Er richtete sich wieder auf und sah sie abwartend an.
„Wie habt Ihr uns gefunden?“, fragte sie mit gefasster Stimme.
Er sah sie triumphierend an. „Erinnert Ihr Euch an den Stadtvater von Limera? Ihr wart ihm in einer misslichen Lage behilflich und glaubt mir, sein Dank ist Euch auf ewig gewiss. Er war mein Gast, während der Feierlichkeiten zu meinem Thronjubiläum. Auf einem Gemälde im Ballsaal entdeckte er das Zeichen der Wächterinnen.“ Er holte einen Dolch hervor und schnitt ihr Kleid an der Schulter entzwei. Angewidert strich er über die Narbe, die das Mal ersetzte, das Finea einst als Wächterin des Tempels auswies. „Eines ergab das andere. Den Rest kennt Ihr selbst.“ Er machte eine Pause und legte den Kopf schief. Eindringlich betrachtete er sie. „Es wäre nett von Euch, meine Liebe, wenn Ihr mir sagen könntet, ob es sich bei dem Knaben, von dem jener Stadtvater sehr angetan sprach, um meinen Neffen handelte. Und genauso gern würde ich wissen, inwiefern die ehrwürdige Sina in die ganze Sache involviert war. Und ich bin überzeugt, dass sie es war.“
Finea schwieg. In ihrem Inneren fragte sie sich voller Verzweiflung, warum sie vor Arko nicht darauf bestanden hatte, dass sie Bluemare verließen. Sie hätte besser auf ihr Gefühl hören und nicht Arkos Verharmlosungen Glauben schenken sollen. Es war allerdings auch für sie wesentlich angenehmer gewesen, darauf zu hoffen, dass sie dort gemeinsam leben könnten, bis Ammon alt genug war, um sein Erbe einzufordern. Jetzt war alles aus. Finea sah keinen Sinn mehr darin, am Leben zu bleiben. Wohin immer ihre Seele nach dem Tode auch ging, sie wollte dort sein, wo ihre Familie war. Doch eines stand für sie fest: Von ihr würde Farid kein Wort erfahren! „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet. Ich habe Arko damals allein befreit. Ich hatte mich im selben Moment in ihn verliebt, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Das war lange bevor er angeklagt wurde. Wir hielten unsere Liebe geheim, aus Rücksicht auf meine Stellung im Tempel. Als er dann zum Tode verurteilt wurde, wollte ich mit ihm fliehen und ein gemeinsames Leben aufbauen. … Sina hätte das Ganze niemals unterstützt! Das sollte Euch eigentlich klar sein! Ich gab Arko den Trank, der ihn zum Schein sterben ließ, schon vor dem Prozess. Unauffällig ... als ich mit der Königin im Kerker weilte. Der Junge war unser gemeinsames Kind. Ich war bereits im vierten Monat schwanger, als wir flohen.“
Farid sah sie beinahe freundlich an, bevor er ausholte und ihr mit der flachen Hand fest ins Gesicht schlug. Finea spürte einen brennenden Schmerz und schmeckte Blut, vermied aber jeden Laut. Er sollte sie nicht jammern hören. Der Schmerz des Schlages überdeckte für einen Moment den der Trauer und das tat beinahe gut.
Farid schloss die Augen und atmete tief durch. „Verzeiht! Ein Ausrutscher. Ich lasse mich nur nicht allzu gern vorführen. Zufälligerweise hat uns Sina erklärt, Ihr würdet den Tempel andernorts vertreten. Warum sollte sie so etwas behaupten, wenn Ihr zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu den Wächterinnen gehört habt? Und dann noch Eure Aussage gegenüber dem Stadtvater von Limera. Ihr sagtet ihm, der Junge wäre Euer Neffe. Das Kind Eurer Schwester. Warum diese Geschichte?“
„Ich schätze, Sina wollte den Tempel nicht in Schande stürzen. Eine schwangere Wächterin, die durchbrennt, ist nicht gerade eine Ehre für den Orden. Sie wusste von der Schwangerschaft, aber nicht wer der Vater des Kindes war! Was meine Erklärung gegenüber dem Stadtvater von Limera betrifft: Ich war der Überzeugung, der Mann würde sich früher oder später erinnern, wofür das Mal steht. Eine Wächterin, die Mutter ist, wäre ihm seltsam vorgekommen. Hingegen eine Wächterin, die für einen gewissen Zeitraum ihre Familie unterstützt, eher nicht. Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich und damit auf Arko lenken, um uns zu schützen. Wie man sieht war dies durchaus notwendig, aber leider erfolglos.“
Sie sah Farid an, dass er ihren Worten nicht traute. Nur mühsam beherrschte er seinen Zorn. „Gut! Ich dachte, wir könnten uns das ersparen, aber ... Da ich mir noch immer ziemlich sicher bin, dass Sina hinter alldem steckt, werden wir unsere kleine Unterhaltung im Beisein des Folterknechtes fortsetzen. Ich lasse Euch jetzt eine Stunde Zeit zum Nachdenken. Entweder Ihr sagt freiwillig gegen die Großpriesterin aus und beeidet dies schriftlich oder man bringt Euch dazu. Ihr habt die Wahl!“ Er nickte seinen Begleitern zu und ließ sie allein.
Finea wusste, sie hatte keine Chance. Sie hielt nichts mehr in dieser Welt und jede Stunde, die sie länger lebte, würde Sina nur unnötig in Gefahr bringen. Sie war sicher nicht zimperlich, doch einem Verhör, unter den Händen eines Folterknechtes, war sie nicht gewachsen. Irgendwann, wenn die Schmerzen zu groß wären, würde sie zusammenbrechen und alles gestehen, was Farid von ihr verlangte. Und im Gegensatz zu ihr hing Sina an ihrem Leben. Sie sollte es behalten. Diese Welt war besser mit Sina darin.
Entschlossen riss sie ihren Ärmelsaum auf und holte die fünf winzigen getrockneten Beeren hervor. Sie lächelte, als sie sie sich in den Mund schob. Sie schmeckten, wider erwarten, angenehm süß. 'Wie schön, mit diesem lieblichen Geschmack auf der Zunge, die Reise zu Arko und den Kindern anzutreten', war das Letzte, was Finea dachte, bevor sich ihr Geist von ihrem Körper löste und sie diese Welt für immer verließ.
Als Farid später mit seinem Gefolge zurückkehrte, fand er sie lächelnd vor, den Blick ins Unendliche gerichtet. Er stieß laut einen derben Fluch aus und verließ, bebend vor Zorn, den Kerker.
Seine schlechte Stimmung sprach sich unter den Dienstboten schnell herum. Da sich alle Mägde weigerten, sein Gemach zu betreten, um sein Bett für die Nacht vorzubereiten, wurde ausgelost wer sich der Gefahr seiner Nähe aussetzen musste. Schließlich sah man die beiden unglücklichen Verliererinnen, mühsam ihre Tränen zurückhaltend, in Richtung seiner Gemächer eilen. Jeder, der ihnen auf ihrem angstvollen Weg begegnete, senkte den Blick betreten und wünschte ihnen im Geiste, dass sie verschont bleiben mögen.