Irrländer

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Caro Weidenhaus

Irrländer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Irrländer

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Impressum neobooks

Irrländer

Roman

August 2016, Irland, Dublin

Belmours Handy schrillte. Der Ton kratze an seinen Nerven. Er kam aus einem anderen Jahrhundert, als Telefone wuchtig und schwarz waren und eine Kurbel hatten. Er hatte ihn in einem sentimentalen Moment ausgewählt. Er sollte das ändern. Vielleicht die ersten Takte von Dvorak's „Aus der neuen Welt“ auf sein Handy laden. Er liebte diese Symphonie. Aber vielleicht war das zu zynisch. Er glaubte nicht an eine Neue Welt. Gib einer Handvoll Menschen ein neues Land, eine Insel oder richte ihnen eine neue Welt ein und der Kampf beginnt von vorn.

Er stellte seinen Koffer ab, griff in die Jackentasche, holte das Handy heraus und hielt es sich ans Ohr

„Sind sie angekommen?“ fragte eine Männerstimme.

„Gerade.“

„Gut. Sie melden sich, wenn alles nach Plan gelaufen ist.“

Unnötige Anweisung, dachte Belmour. Er musterte das Hotel und war überrascht. „Schade um das Haus.“ sagte er.

„Was ist mit dem Haus?“

„Ich habe nur laut gedacht. Ich steh auf alte Gemäuer.“

„Sie sollten die Nacht alleine verbringen. Ich kenne ihren Ruf. Womöglich denken sie auch im Schlaf laut.“

„O.K.“ sagte Belmour, lächelte und dachte: er hat ja sogar Humor. Er schaltete das Handy aus, ließ sich Zeit, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das Hotel und seine Umgebung. Wie ein Tourist oder wie jemand, der sich für Architektur interessierte. Er musste nicht heucheln, Gebäude interessierten ihn.

Die Hotelanlage bestand aus drei Häusern. Das Hauptgebäude hockte wie ein moderner Drache auf einem Hügel und bewachte die weitläufige Parklandschaft. Seine Haut, ein Schachbrett aus Glas und Metall, leuchtete golden im Herbstlicht. Und wer hier eine Suite bezahlen wollte, von dem musste schon ein ebenso reicher Glanz ausgehen. Östlich des Hotels versteckte sich hinter Bäumen der Wirtschafts- und Personaltrakt. Westlich am Fuß des Hügels lag das ursprüngliche, ältere Hotelgebäude. Dieses war in dem berühmten Georgian Style im 19.Jahrhundert erbaut, mit schnörkellosen dreigeschossigen Fensterachsen und Kollonaden mit zierlichen Säulen. Einst war der Bau Adelssitz, später zum Hotel umgebaut und immer wieder liebevoll instand gehalten. Das hatte er im Internet recherchiert.

Belmour spürte Bedauern oder Mitleid, wenn man denn mit einem Gebäude Mitleid haben konnte. Für ihn eine ungewöhnliche Regung, die er selten an Menschen verschwendete. Manchmal besuchte er sogar Kirchen, Kathedralen. Nicht dass er dort einen Gott suchte. Dann konnte er schon eher an die Existenz einer teuflischen Macht glauben.

In der Lobby herrschte der übliche Wochenendtrubel. Gäste irrten herum oder saßen an kleinen Tischen, raschelten mit Zeitungen, schossen nervös suchende Blicke durch die Halle, Pagen ratterten Koffer hinter sich her, Fahrstuhltüren zischten überlastet und an der Bar klirrten Eiswürfel in Gläser. Die Dame am Empfang mühte sich mit einer zeternden Touristin ab, die nicht akzeptieren wollte, dass ohne Buchung kein Zimmer

zu haben war. Da war der nächste Gast eine angenehme Routine. Ein kurzen Blick genügte, um ihn mit erfahrener Sicherheit einzuschätzen und willkommen zu heißen.

Hätte die Empfangsdame später als Zeugin in einem Hoteldiebstahl oder gar Mord die Gäste dieses Tages beschreiben müssen, sie hätte sich an die penetrante Touristin erinnert, aber Belmour sicher übersehen. Grau, schattenhaft, hinterließ er im Gedächtnis der Menschen kaum Spuren. Er trug einen leichten, beigen Sommeranzug. Darunter ein hellblaues Hemd. Er war schlank, hatte schütteres, dunkelblondes Haar, das altmodisch gescheitelt war. Eine leicht getönte Brille verschleierte seinen Blick. Sein Gesicht war blass und ausdruckslos. Seine Haltung schlecht, die Schultern krümmte er nach vorne. Das einzig auffällige an ihm war ein drei Zentimeter langer Krater, der unter dem linken Ohr begann und wie ein kleiner Pfeil abseits auf das Schlüsselbein zeigte. Eine Vertiefung, in der die Haut zerknüllt war und rosig glänzte.

Sein Gepäck bestand aus einem wuchtigen Lederkoffer und einer Umhängetasche. Man hätte sich fragen können, warum ein Mann für nur eine Übernachtung so viel Gepäck mit sich schleppte. Aber wer achtet schon auf die Menge des Gepäcks. Es gab viele Gründe, nur mit einer kleinen Reisetasche oder mit einem halben Kleiderschrank zu reisen.

Bei der telefonischen Buchung hatte Belmour erwähnt, dass er schon einmal im Hotel logiert hatte und damals äußerst zufrieden gewesen sei. Er erinnere sich noch an den bezaubernden Blick aus dem Fenster auf die weite Parklandschaft und wäre sich ziemlich sicher, dass er

damals das Zimmer zweiundvierzig gehabt habe, und wenn das Zimmer zufällig frei sei...? Er bekam das Zimmer.

Bescheiden lehnte Belmour die Hilfe des Hotelboys ab und trug seinen Koffer selbst. In der vierten Etage stieg er aus und betrat den Flur, an dem zu beiden Seiten je acht Zimmer lagen. Er wartete, bis ein anderer Gast den Gang verließ und setzte seinen Koffer ab. Er öffnete die Tür rechts neben dem Fahrstuhl und ließ seinen Blick durch das dahinter liegende Treppenhaus schweifen. Dann schloss er die Tür wieder.

Das Hotel hatte zwei Fahrstuhlschächte jeweils an den Giebeln des lang gestreckten Baus. Zwischen den Fahrstühlen und den Zimmern gab es auf jeder Etage Abstellräume für die Geräte und Putzmittel des Reinigungspersonals. Belmour drückte die Klinke der Kammer neben seinem Zimmer und fand sie unverschlossen. Ein kurzer Blick genügte ihm. Der Raum war mit Kanistern, Eimern und Reinigungsmaschinen voll gestellt. Leise schloss er die Tür und wandte sich dann Zimmer Nr. 42 zu. Er schloss die Tür auf und betrat den Raum. Als erstes ging er zum Fenster, öffnete es und zog die Gardine wieder ordentlich davor. Dem Ausblick gönnte er keinen Blick. Er öffnete den Schrank, zog sein Jackett aus und hängte es über einen Bügel. Den Koffer stellte er in das untere Schrankfach. Er streifte die Schuhe ab, legte die Brille auf den Nachttisch und warf sich auf das breite Bett. Er richtete die Augen auf die Zimmerdecke und sein Blick wurde leicht glasig, als dämmere er schon im Halbschlaf dahin. Doch das täuschte. In Gedanken prüfte er jedes Detail seines Plans. Irgendwann schlief er zufrieden ein.

Am frühen Abend bestellte er sich eine kalte Platte und ein Guinness beim Zimmerservice. Er verließ das Hotel erst am nächsten Morgen. Auf das Frühstück verzichtete er, ein Mann, der womöglich einen Geschäftstermin und es eilig hatte.

Später an diesem Vormittag betrat ein Mann in einem dunkelgrünen Overall das Foyer. Auf der Brusttasche war ein dem Personal bekanntes Logo aufgedruckt. Es wies den Mann als Angestellten der Firma aus, die für die Wartung der Fahrstühle des Hotels unter Vertrag stand. Der Mann trug ein Käppi im gleichen Grün, unter dem krause schwarze Haare bis auf den Kragen quollen. Er hatte ein sonnengebräuntes Gesicht, das Aknenarben auf Kinn und Wangen nicht etwa entstellten, sondern noch markanter machten. Das Haar verdeckte eine lang gestreckte Narbe am Hals.

 

Er stellte sich am Empfang vor, zeigte einen Firmenausweis und scherzte mit der Angestellten. Er sprach von einer Routinekontrolle und dass er jeweils einen Fahrstuhl für einige Zeit außer Betrieb setzen müsse. Die Angestellte seufzte gespielt unwillig. Der Mann beugte sich über den Tresen, fischte mit seinem besten Flirtgesicht nach ihrem Lächeln und machte ihr mit männlich rauer Stimme Komplimente. Dann nahm er seinen Werkzeugkoffer auf und verschwand in Richtung Fahrstuhl. Er fuhr in den vierten Stock, steuerte das Zimmer mit der Nr. 42 an, zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Tür. Er holte den Koffer aus dem Schrank, öffnete ihn und machte sich an die Vorbereitungen. Nach knapp zwei Stunden war der Mann mit seinen Arbeiten an beiden Fahrstühlen fertig.

Gegen vierzehn Uhr kam Mr. Belmour ins Hotel zurück, holte sein Gepäck aus dem Zimmer und checkte aus. Bevor er in das Taxi stieg, drehte er sich um und warf einen bedauernden Blick zurück. Er konnte sich vorstellen, noch ein paar Tage zu bleiben. Aber sein Auftrag war erfüllt. Wie immer hatte er hervorragende Arbeit geleistet. Es war besser, er würde den Leuten im Hotel keinen Anlass geben, sich an ihn zu erinnern.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, verließ der letzte Gast gegen Abend das Hotel. Montag Mittag waren die üblichen Spuren des Wochenendbetriebes getilgt. Das Personal, bis auf wenige Mitarbeiter, wurde in einen Zwangsurlaub entlassen. Nachmittags überschwemmte ein Heer von Handwerkern, Technikern und dem Sicherheitspersonal das Hotel und das umliegende Areal. Schon am Abend war ein fast drei Kilometer langer Sicherheitszaun um das Grundstück gezogen. Nur noch ausgesuchtes Personal mit speziellen Ausweisen hatte ab jetzt Zugang. Man hatte nur zwei Wochen Zeit das Hotel für ein Treffen der europäischen Außenminister umzurüsten. Der Gipfel war sehr kurzfristig anberaumt worden.

2

Cork, Irland

Die Mc Cabs fuhren mit ihrem alten Volvo stadtauswärts. Mary saß vorne neben Jay Pop. Ihr Schwiegervater hatte selten Gelegenheit zum Fahren und hatte sich gleich händereibend hinter das Steuer gedrängt. Ryan saß hinten. Er war geduldiger mit ihrem fünfjährigen Sohn, der vermutlich nach kurzer Zeit anfangen würde zu quengeln. Dann erzählte Ryan Endlosgeschichten, an denen auch die Erwachsenen ihr Vergnügen hatten und in die sie sich ausschmückend einmischten. Im Moment aber schlief der kleine Liam.

Jay Pop hatte Geburtstag, sein zweiundfünfzigster, und weil er kaum noch aus seinem Laden herauskam und oft davon sprach, dass er gerne mal wieder in den Süden runter wolle, hatten Mary und Ryan ihm diese Reise geschenkt. Und um ihn zu trösten, ihm zu demonstrieren, das Leben hat noch andere Seiten zu bieten, als tagaus, tagein in einem Laden zu sitzen, der nichts mehr abwarf, der nur rote Zahlen schrieb. Der Laden gehörte jetzt der Bank und Ende des Monats mussten sie ihn räumen. Auch sie hingen an dem Laden und ein anderes Leben war kaum vorstellbar. Gleichzeitig lockten Veränderungen, zumindest wenn man so jung wie sie war.

Mary erinnerte sich, wie sie das erste mal vor dem Glaspalast, wie sie den Laden nannten, stand. Sie war gerade in eine Studentenbude ein paar Straßen weiter gezogen. Es war im Winter, Schnee lag auf den Straßen. Sie kam mit dem Fahrrad von der Uni. Sie bremste so plötzlich, dass ihr Rad ins Schlingern geriet und sie fast gestürzt wäre.

Aus dem Schaufenster leuchtete ihr ein bunter Traum, ein glitzerndes Versprechen entgegen. In der Mitte des Fensters hing eine Tafel. Ein weihnachtlich, biblisches Motiv, aus feinstem Glas gefertigt. Da hingen Sterne und Monde, Perlenschnüre und standen Engelkerzenhalter aus buntem Glas, kitschig und wunderschön. Tiffanyimitate neben modernem Design. Eine stilisierte Tanne aus durchscheinend grünen Glasplättchen war so raffiniert beleuchtet, als würden Kerzen eine weihnachtliche Stimmung zaubern. Die Beleuchtung selbst war ein Kunstwerk. Man sah keine Strahler, keine Lampen. Geschickt von oben und der Seite ausgeleuchtet, war das Fenster ein perfekt gestaltetes Bühnenbild.

Vielleicht werden Erwachsene zur Weihnachtszeit ein bisschen rührselig und bunte Kinderträume und Erinnerungen rücken wieder näher. Mary fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, in denen man sich noch verzaubern ließ. Sie betrat den Laden und kaufte einen kleinen Kerzenleuchter. Und weil sie fast täglich am Laden vorbei kam, wurde sie zur Stammkunden mit kleinem Budget. Als Ryan sie herumführte, war sie schon längst verliebt.

Das Haus war ein schmales Reihenhaus, so wie sie schon immer in diesem Stadtteil gestanden hatten. Hinter dem Laden lag eine Werkstatt, in dem Jay Pop seine Kunstwerke fertigte und ihn jetzt Ryan immer mehr ablöste. Die Küche daneben hatte ein Glastür, die in einen winzigen, vernachlässigten Garten führte. In der oberen Etage wohnten die beiden Männer. Eine Frau gab es nicht, bis ihr Ryan einen handgroßen, blauen Engel schenkte, bis sie mit Liam schwanger war und einzog.

Nun waren sie auf dem Weg nach Glangariff , auf der Halbinsel Beara. Man hat dort, behauptet man, das beste Klima Irlands. Sie waren um sechs Uhr aufgebrochen. Der Himmel lag wie ein schweres graues Tuch über der Stadt und es regnete ununterbrochen. Sie hofften, dass es im Süden besser würde.

Jay Pop ließ sich über das Wetter aus und zitierte ein irisches Sprichwort: „Four seasens on a monday.“ „Es ist doch durchaus ein Vorteil, dass wir hier so viel Regen haben. Das hält den Massentourismus fern. Hätten wir ein Klima wie in Spanien, wäre die Küste von Kerry mit Betonburgen zugeklotzt und wenn man über Land führe, würde man anstatt auf bescheidene, weißgetünchte Bauernhäuser auf pseudospanische Haciendas stoßen. Wer trotz des Wetters Irland bereist, muss ein wirkliches Interesse an unserem Land haben.“ sagte er.

„Und warum fahren wir dann runter nach Glangariff, anstatt hier den Regen zu genießen? Wenn mich nicht alles täuscht, war der Grund dein ewiges Gerede von dem wunderbaren Klima im Süden.“ Ryan frohlockte und Mary hoffte, dass die Männer nicht zu streiten anfangen würden. Streitereien, die zwar gutmütig waren, aber oft hitzig eskalierten und sich endlos ausdehnen konnten.

Jay Pop schaltete das Radio an. „...in der letzten Woche haben die Auswanderungsanträge die Rekordzahl von über achttausend erreicht. Jetzt sind es nicht nur junge, gut ausgebildete Menschen, die ihr Glück auf dem Kontinent suchen, jetzt packen ganze Familien ihr Hab und Gut... „

„Nicht jetzt.“ sagte Mary und schaltete das Radio wieder aus. Sie befürchtete, dass die Nachrichten den Männern wieder Stoff für endlose Debatten liefern würden. In den letzten Wochen sind diese hitziger geworden und oft laut eskaliert. Denn auch Ryan und sie überlegten ernsthaft, das Land zu verlassen. Es galt nur noch und das war die schwerste Hürde, Jay Pop zu überzeugen. Und der sträubte sich vehement. Ignorierte, dass der Kampf längst verloren war, hatte selbst keine Pläne und hielt sich mit Phrasen aufrecht. Phrasen wie: - die Iren haben noch jede Krise bewältigt. – sollen sie doch abhauen, die Ratten. Dadurch wird es nur leichter, das Schiff durch das Unwetter zu steuern.- Als verstünde er etwas von der Seefahrt.

Natürlich tat er Mary leid. Er war ein alternder Mann, der wenige Veränderungen in seinem Leben erleben musste und jetzt auch keinen Wunsch mehr nach Neuanfängen verspürte. Und er hatte im letzten Jahr zu viele Schläge einstecken müssen. Auch wenn schon in den letzten Jahren die Wirtschaftskrise immer offener ihre Fratze zeigte, bisher hatten sie sich mit dem Laden über Wasser halten können. Bis in der Nähe ein Einkaufstempel seine Glastore öffnete und mit Billigpreisen lockte. Eine Kette, deren Logo in allen Einkaufspassagen der europäischen Städte zu sehen war. Diese Entwicklung war der Ruin für die kleinen Läden in Dublin. Bis dahin wegen ihres nostalgischen Charmes und als Touristenfang gehätschelt und gehuldigt, wurden die Innenstädte plötzlich freigegeben für die großen Raubritter der Wirtschaft. Auch anderen kleinen Läden und Handwerksbetrieben ging es ähnlich wie ihnen. Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden, der Großhandel stellte seine Lieferungen ein und die Banken gaben erstaunlich freigiebig Kredite, um die kurzfristigen Engpässe zu überbrücken. Die Engpässe waren Tunnel, an deren Ende die Banken und Investoren lauerten. Meistens dauerte es nicht einmal ein Jahr, dann wechselte der Laden, das Haus, die Werkstatt den Besitzer.

Jay Pops Hausbank verhielt sich noch großzügig. Nach Abzug aller Hypotheken und anderer Verbindlichkeiten wurde ihnen noch ein Rest ausgezahlt, der reichen konnte, um sie ein paar Monate, maximal ein halbes Jahr über Wasser zu halten. Am ersten des nächsten Monats war die Übergabe.

Und dann? Mary hatte Angst um Jay Pop. Und malte ihm aus, wie sie sich eine neue Existenz aufbauen würden. Es war ja schon vielen vor ihnen gelungen. Vielleicht sollten sie nach Deutschland , von dem es hieß, es sei immer noch ein relativ stabiles Land, auswandern. „Stell dir vor, etwas kleines, exklusives, ein winziger Laden mit deinen Glassachen und ein Regal mit englischsprachigen Büchern und eine Leseecke, in der wir Tee und Gebäck anbieten.“ Sie hatte gerade ihr Studium der Englischen Literatur abgeschlossen.

„Du liest mehr als du lebst.“ zog Jay Pop sie manchmal auf. Zu ihren Träumen schwieg er verbissen.

Als würde sich das übrige Europa in einem steilen Aufschwung befinden, warb es massenweise Iren an. Man versprach ihnen Eingliederungshilfen, Arbeit und Wohnung. Es lockte und gaukelte den Menschen wie vor Jahrhunderten das goldenen Amerika schöne Träume vor. Auch Mary und Ryan glaubten den Versprechungen. Und wenn sie es nüchtern betrachteten, schlimmer als in diesem Irrenhaus konnte es kaum werden. Die Zeitungen stockten täglich die Zahlen derer auf, die an der „neuen Pest“ erkrankten. Die Folgen der Ausfälle wurden immer schmerzhafter. Irland war zu einem Staat verkommen, der seine Diener nicht mehr bezahlen konnte, der Rentner ohne Rente und Arbeitslose ohne Unterstützung vor geschlossenen Ämtern stehen ließ. Der Schulen und Krankenhäuser schloss und den öffentlichen Verkehr so reduzierte, dass Pendler Mühe hatten, ihren Arbeitsort zu erreichen. Jeden Tag flohen hunderte Iren aus dem Land. Sie handelten verzweifelt und überstürzt, denn jeder hatte Angst, zu spät zu kommen. Denn irgendwann musste das Ausland mit Arbeitskräften gesättigt sein und dann würden die Türen zugeschlagen. Wer zu lange zögerte, konnte dann sehen, wie er überlebte in einem Land, das längst jede Verantwortung für seine Kinder abgelegt hatte.

Am Kinsale Head machten sie eine Rast. Die Regenwolken hatten sich aufgelöst und der Atlantik glitzerte im Morgenlicht. Felsen wie aztekische Pyramiden stiegen steil aus dem Meer. Vom rauen Klima angegriffen, zerbröckelnd und doch so massig, dass sie weitere Millionen Jahre dort stehen würden. An ihren Sockeln peitschte gierig der Atlantik mit haushohen Wellen. In der Luft jagten die Seevögel kreischend gegen das Donnern der Brandung an. Und oben auf dem Plateau so weit man schauen konnte smaragdgrüne Matten, die selbst im Herbst noch genauso frisch leuchteten wie im Mai.

Ryan hatte am Abend vorher Sodabrot gebacken, dazu aßen sie Bücklinge, die sie unterwegs in einer kleinen Räucherei gekauft hatten, und tranken heißen Tee aus Thermoskannen.

Nach der Pause wollten sie wenig befahrene Nebenstraßen in Richtung Bantry nehmen, sich Zeit lassen, um etwas von der Landschaft zu sehen. Aber kurz vor Clonakilty schien ihre Reise erst einmal zu Ende. Die schmale Straße war von einem Demonstrationszug blockiert.

Jay Pop fuhr auf den Seitenstreifen und kurbelte das Fenster herunter. Er verwickelte sich in ein Gespräch mit einem jungen Paar. Der Mann trug ein Pappschild wie eine Monstranz vor sich her. Entmachtet die Banken, stand in dicken schwarzen Buchstaben darauf. Von Banken flossen rote Blutstropfen. Eine Dramatik wie in einem Gruselfilm.

„Lasst den Wagen stehen und kommt mit.“ sagte der Mann.„ In Cork und in Dublin und vielen anderen Städten wird heute demonstriert.“ Das Gesicht des Mannes leuchtete begeistert und seine Augen bohrten sich in Marys und lockten: komm mit!

 

Die Frau hinter ihm tänzelte leichtfüßig und spielte auf einer Fiddle eine altirische Ballade. Die Menschen strömten zu fünft, sechst nebeneinander, zu hunderten hintereinander einen Hügel hinunter auf Mary zu. In der Ferne tanzten sie wie bunte Segelschiffe auf einem langen Fluss.

Der Sog zerrte an ihr, dass ihr schwindelig wurde und

ihr Herz heftig gegen die Rippen polterte. Sie fühlte sich aufgerüttelt wie ein Kaleidoskop, in dem Bilder in schneller Folge durcheinanderwirbelten und sich zu immer neuen Szenen zusammensetzten. Wie sie als junges Mädchen ihrer erste Demo erlebt hatte. Sie war am Anfang begeistert aus Solidarität mit den Kommilitonen mitgezogen. Aber allmählich, umso mehr sie mit den politischen Zuständen und den Forderungen der Demonstranten vertraut wurde, hatte die Wut auch sie angesteckt. Sie hatte zugesehen, wie Schaufenster zu Bruch gingen und Autos brannten.

Sie hatte schon lange an keiner Demo mehr teilgenommen. Die Familie, das Studium, ließen keine Zeit und Energie mehr für andere, wichtige Dinge. Sie fühlte eine übermächtige Sehnsucht nach einer Freiheit, die sie so lange nicht mehr gespürt hatte. Selbst nach der Gefahr, sich Knüppeln und Tränengas auszusetzen. Dabei sein, sich diesen Menschen zugesellen, sich wieder wichtig fühlen. Das war wie in eine andere Haut oder Rolle schlüpfen. Ihr Blick fiel auf Liam, der neugierig den Kopf über die Schulter seines Großvaters nach vorne reckte. Heute sollte sie für ihn kämpfen, für seine Zukunft, das wusste sie plötzlich. Sie fühlte sich dabei so ernst und verantwortungsbewusst wie damals, als sie ihn das erste mal im Arm hielt und ihm leise versprach, dass sein Leben wunderbar sein und sie alles dafür tun würde.

„Die Banken haben unseren Laden geschluckt. Ich gehe mit.“ sagte sie „ Ich muss das einfach tun. Ihr drei Männer werdet auch ohne mich ein paar schöne Tage haben.“ Und bevor die Männer protestieren und sie verunsichern konnten, nahm sie ihre Umhängetasche, öffnete die Tür und stieg aus. Ein paar Leute in unmittelbarer Nähe klatschten Beifall.

Sie waren mehr als zwei Stunden gelaufen, hatten einige kleinere Orte passiert und manchmal hatten sich ihnen Leute spontan angeschlossen. Mary hatte Blasen an den Füßen und ihr Hals war rau und trocken. Eine Frau, die schon eine Weile neben ihr hergelaufen war, bemerkte ihren gierigen Blick und reichte ihr eine Flasche mit Wasser. „Nimm, ich habe genug.“ sagte sie. Mary trank dankbar. Das Wasser war lauwarm und schmeckte metallisch. Einige Kilometer später wurde ihr übel. Sie kämpfte mit einem Brechreiz. Ihr war schwindelig. Die Anstrengung, dachte sie, oder es kommt vom Wasser. Vielleicht hat die Frau es aus einem dreckigen Brunnen oder aus einem Bach geschöpft und ich habe mich vergiftet. An die „Neue Pest“ wollte sie noch nicht denken. Daran sind schon Menschen gestorben.

Sie schleppte sich noch eine Weile weiter. Dann bekam sie furchtbare Bauchkrämpfe. Sie ließ sich am Straßenrand ins Gras fallen. Plötzlich wollte sich ihr Darm unkontrolliert entleeren und sie raffte sich mit aller Kraft auf, schaffte es aber nur wenige Schritte in die Wiese hinein. Hinterher fühlte sie sich schwach, aber die Krämpfe waren nicht mehr ganz so quälend. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht alleine litt. Alle paar Meter hockten Menschen auf der Wiese, von hohem Gras oder niedrigen Büschen kaum geschützt, und jammerten und stöhnten. Am Straßenrand ratlose Zuschauer. Ein groteskes, peinliches Schauspiel.

Von der Energie, die den kilometerlangen Menschenzug angetrieben hatte, war nichts mehr zu spüren. Als läge ein Fluch über der Demo und die Menschen erkrankten nur auf Grund ihrer Teilnahme. Die Leute hockten sich an den Straßenrand und versuchten über ihre Handys den ärztlichen Notruf und Krankenwagen zu rufen. Aber es schien kaum noch freie Leitungen zu geben. Als letzten Ausweg rief man Freunde, Verwandte, jeden den man erreichen konnte und der über ein Auto verfügte, an.

Mary bekam von all dem nichts mehr mit. Sie lag mit geschlossenen Augen im Gras. Sie brannte vor Hitze und die Schmerzen waren so heftig wie damals bei Liams Geburt. Irgendwann trug sie ein fremder Mann auf seinen Armen zu einem Auto und stopfte sie zu zwei anderen Frauen auf die Rückbank. Er hatte vor Stunden einen Anruf von seiner Tochter bekommen, aber weil er sie in dem Chaos unmöglich finden konnte, hatte er sich die nächsten Kranken eingeladen. Er hoffte, dass auch seine Tochter Hilfe von einem fremden Samariter bekommen würde. Er fuhr an diesem Tag noch mehrere Touren ins Hospital von Cork.