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Carlo Fehn

Grenzgold

Die Geburtstagsparty des Welitscher Bauunternehmers Joseph Ferdinand Kaiser wird jäh beendet. Ein Unbekannter, der zu allem bereit zu sein scheint, fordert ihn zu einem Duell auf Leben und Tod.

Nachdem der zwielichtige Geschäftsmann anschließend den Mord an seinem Vater aus unmittelbarer Nähe miterleben muss, beginnen für Hauptkommissar Pytlik und sein Team die Ermittlungen in einem gefährlichen Spiel.

Erst ein Hinweis auf die Anfänge des Familienbetriebes und eine Verstrickung des Seniorchefs in einen mysteriösen Todesfall in der Vergangenheit bringen nach und nach Licht in das Dunkel.

Als die Lösung des Rätsels greifbar nahe ist, sieht Pytlik plötzlich nicht nur sein eigenes Leben in Gefahr.

Grenzgold - Hauptkommissar Pytliks 14. Fall

Carlo Fehn

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2021 Verlag Carlo Fehn

ISBN 978-3-754928-88-2

Freitag, 22. November 2013

Pytlik kochte vor Wut. Es war bereits fünf vor zwölf. Er hatte Franziska versprochen, pünktlich zur verabredeten Uhrzeit in Welitsch zu sein. Dass ihn sein Chef ausgerechnet an diesem Freitagmittag wegen einer Lappalie aufgehalten hatte, verdoppelte seinen Ärger. Er parkte seinen Dienstwagen einige Grundstücke entfernt vom Gasthaus »Roter Hirsch«. Die Anzahl der Autos, deren Windschutzscheiben vom andauernden Schneefall schon wieder leicht gezuckert waren, ließ ihn erahnen, dass es sich um eine große Geburtstagsgesellschaft handelte.

Es war sozusagen seine offizielle Einführung: Die Vorstellung des Hauptkommissars aus Kronach in den Kreisen seiner neuen Lebensgefährtin. Seit über einem Jahr waren die beiden nun ein Paar, nachdem sie sich im Sommer des letzten Jahres bei einer Floßfahrt auf der Wilden Rodach kennengelernt hatten. Pytlik hatte in der Vergangenheit mit Frauen nicht viel Glück gehabt, weswegen er es mit seiner neuen Liebe zunächst etwas langsamer hatte angehen wollen.

Der eisige Wind peitschte den Schneestaub von den am Straßenrand aufgetürmten weißen Massen. Die Kaltfront hatte in den letzten Tagen ihrem Namen alle Ehre gemacht und den Landkreis in eine ungemütliche Winterlandschaft verwandelt.

Dem Hauptkommissar gingen tausend Dinge durch den Kopf; ihm war mulmig! Wenn er Glück hatte, aßen sie bereits. Dann wäre es vermeintlich ein Leichtes, kurz zu gratulieren, seinen Diener zu machen und sich zu Franziska zu gesellen. Er wusste, dass sie ihm nicht böse sein würde.

Es kam anders, und Pytlik hatte es geahnt!

Nachdem er sich auf dem Treppenabsatz noch schnell die Schuhe abgeklopft, sie vom Schnee befreit hatte und durch die Eingangstür im Vorraum angekommen war, vernahm er die Stille der Zuhörer im Inneren. Ihm kam feuchte Luft entgegen, die mit den feinsten Gerüchen oberfränkischer Wirtshausküchen angereichert war. Der Duft würde wohl frühestens beim Abriss des historischen Gebäudes irgendwann in ferner Zukunft verblassen. Durch die Tür zum Speisesaal hörte er gedämpft eine unaufgeregt erzählende Stimme. Am liebsten hätte er genau jetzt den Rückzug angetreten.

»Aber es muss ein Wink des Schicksals…«

Pytlik hatte sich zusammengerauft. Kurz nachdem er die Tür vorsichtig geöffnet, der schlecht geölte Faulenzer sein Eintreten aber mit einem langgezogenen Quietschen verraten hatte, blickte er auch schon in erwartungsfrohe Gesichter mit offenen Mündern und fragenden Augen. Es mussten gut und gerne 80 bis 100 Leute sein!

Er lächelte mehr verlegen als souverän, bedeutete dem weißhaarigen Redner, dessen Miene sich mehr und mehr verfinsterte und der am anderen Ende des Raums in der Mitte der langen Tafel stand und innehielt, dass er sich entschuldigte. Dann sah er zum Glück Franziska gleich an einem der ersten Tische in seiner Nähe sitzen. Neben ihr war noch ein Stuhl frei.

»Ein Wink des Schicksals muss es also gewesen sein…«, fuhr der Mann fort, von dem Pytlik wusste, dass er Wilhelm Kaiser war. Der Grandseigneur und selbsternannte Vorzeigeunternehmer. Die Geschichte vom kaum erwachsenen Maurerlehrling, der ein Bauunternehmen aus dem Boden gestampft und zum größten der Region gemacht hatte und das heute sein Sohn Joseph Ferdinand leitete.

»…dass ein großer Mann der Weltpolitik, einer, der Visionen hatte, den die Menschen liebten, zu dem sie aufschauten und in den sie viele Hoffnungen setzten, just an meinem 35. Geburtstag durch einen brutalen Mord aus dem Leben gerissen wurde. Und als an diesem Tag, an dem mein Vorbild, John F. Kennedy, erschossen wurde…«

Wilhelm Kaiser machte eine theatralische Pause, nahm ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und deutete an, sich eine Träne aus dem Auge zu wischen.

»…mein Sohn auf die Welt kam, da wusste ich, dass da oben jemand sitzt, der alles zu lenken weiß.«

»Aha! Interessant!«, flüsterte Pytlik Franziska ins Ohr, die nur seine Hand drückte, ohne ihn dabei anzuschauen. Es war bekannt, dass der junge Kaiser seine Vornamen als Reminiszenz des Vaters an dessen politischen Helden bekommen hatte. Nur zu gerne rühmte sich Kaiser Junior daher schon immer mit dem Rufnamen »JFK«. Nach einigen weiteren Sätzen übergab Wilhelm Kaiser das Wort an seinen Sohn; beide umarmten sich.

»Alles Show!«, flüsterte Franziska Pytlik ins Ohr. Er drückte nur ihre Hand, ohne sie dabei anzuschauen. Sie lächelte.

»Ich möchte eigentlich nicht allzu viele Worte verlieren«, begann Joseph Ferdinand Kaiser, der an den US-amerikanischen Schauspieler Michael Douglas erinnerte. Einen Großteil seiner freien Zeit schien er auf der Sonnenbank oder an entsprechenden Orten mit viel Sonnenschein zu verbringen. Sein durchtrainierter Körper passte perfekt in den maßgeschneiderten royalblauen Anzug. Dass er keine Krawatte trug, rundete in Verbindung mit dem streng nach hinten gegelten, dunkelblonden und bereits leicht grau melierten Haar den Eindruck eines Playboys in Papas Fußstapfen ab. Nicht nur Pytlik war bekannt, dass der Senior seinem Filius in den vergangenen Jahren bei dem einen oder anderen Projekt unterstützend hatte zur Seite springen müssen.

»Da wir nun ja auch endlich vollzählig sind und ich glaube, dass die Küchenmannschaft jetzt auch schon in den Startlöchern steht, nachdem unser aller Freund und Helfer es nun doch noch vom fernen Kronach zu uns geschafft hat…«

Pytlik wäre dem arroganten Schnösel am liebsten an die Gurgel gesprungen. Franziska lächelte ladylike, drückte seine Hand aber umso heftiger. Reiß dich zusammen! schien das wohl zu bedeuten. Der Hauptkommissar beherrschte sich, grinste ebenso freundlich und nickte ein paarmal in die Runde, wo sich hämisches Lachen und ungestümes Fingerzeigen nach wenigen Sekunden wieder legten. Joseph Ferdinand Kaiser hatte Pytlik nicht einmal angeschaut. Nun fuhr er fort. Nach einigen notwendigen Dankesworten schloss er zügig. Man merkte ihm an, dass dieser Teil des Doppelgeburtstages ihn anwiderte. Seine Gedanken schienen bereits woanders zu sein.

***

Der Hauptkommissar hatte beim Mittagessen in Welitsch den beiden Geburtstagskindern gratuliert, das Essen und die Gesellschaft seiner Lebensgefährtin genossen und anschließend noch die Gelegenheit genutzt, Franziskas Mutter näher kennenzulernen. Er hatte sich dabei sichtlich wohlgefühlt. Franziska schien nicht gerade negativ von ihm berichtet zu haben.

Auch Gerda, Franziskas Schwester und gleichzeitig Ehefrau von Joseph Ferdinand Kaiser, hatte sich nach dem Dessert im »Roten Hirsch« zu ihnen an den Tisch gesellt. Es hatte keinerlei Nachfragen bedurft um zu sehen, dass sie nicht glücklich war. Nicht mit dem Tag, nicht mit ihrer Ehe, nicht mit ihrem Leben. Sie war die Einzige, die der Hauptkommissar bisher schon kannte. Einmal war es sogar so weit gekommen, dass sie an einem Samstagabend bei Pytlik vor der Tür stand und sich bei ihm und Franziska über ihre Situation ausheulte. Nachdem die beiden Kinder nun schon länger aus dem Haus waren, schien sie den Frust über ihre zerrüttete Ehe und die Eskapaden ihres Mannes mehr und mehr im Alkohol zu ertränken. Sie war zwar zwei Jahre jünger als Franziska, die Ähnlichkeit zu ihrer attraktiven Schwester hatte aber bereits deutlich gelitten, die Unzufriedenheit mit ihrer Situation sichtbare Spuren hinterlassen.

***

Diesmal waren Pytlik und Franziska pünktlich. Einer wie Joseph Ferdinand Kaiser würde einen Tag wie den eigenen 50. und den 85. Geburtstag seines Vaters sicherlich nicht einfach mit einem Festessen im Dorfwirtshaus in Welitsch feiern. Wer den Bauunternehmer persönlich oder vom Hörensagen kannte, wusste, dass die Party, die am Abend folgte, an den Tagen danach in aller Munde sein würde.

»Endlich mal Gesichter, die mir gefallen! Lasst euch umarmen, ihr Lieben! Kommt rein!«

Als Gerda Kaiser zuerst Pytlik und dann ihrer Schwester um den Hals fiel, bemerkten der Hauptkommissar und seine Lebensgefährtin, dass die Hausherrin den Nachmittag wohl bereits genutzt hatte, sich in Stimmung zu trinken. Pytlik warf Franziska einen vielsagenden Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und schaute skeptisch. Der Schneefall hatte aufgehört und was mittags vor dem Wirtshaus noch ungemütlich aussah, entpuppte sich auf dem großen Grundstück der Kaisers wie ein Wintertraum. Das gesamte Areal – Pytlik schätzte, dass es die Größe eines Fußballfeldes hatte – war komplett von einer zwei Meter hohen Mauer umzäunt; dahinter eine Hecke, die noch einmal deutlich nach oben ragte. Da das Grundstück im Welitscher Süden ohne direkte Nachbarschaft lag, war für die zahlreichen Nobelkarossen genügend Platz.

Als die massive Tür hinter ihnen zufiel, konnte man aus dem Innern des mächtig wirkenden Gebäudes bereits Musik, Stimmenwirrwarr und das Klirren von Gläsern wahrnehmen. Das Haus wurde rundherum vom Boden aus bestrahlt, Lichterketten vermittelten ein magisches Ambiente und die an einem freigeschaufelten Weg durch den riesigen Garten in regelmäßigen Abständen stehenden Kugelleuchten gaben dem jungfräulich wirkenden Schnee eine faszinierende Färbung. Als Pytlik ein spontaner, anerkennender Pfiff entfuhr, nachdem er außerdem auch die verschiedenen Überwachungskameras unterhalb der Traufe entdeckt hatte, hob Gerda, die vor ihnen lief, in einer Art Jubelpose ihren rechten Arm mit einem Sektglas in der Hand.

»Ein schöner goldener Käfig! Nicht wahr, Franz? Du würdest es hassen!«

Dann trank sie das Glas leer und drückte es einem Mann vom Sicherheitsdienst in die Hand, der vor dem Treppenaufgang stand und leicht nickte, so, als würde er sich dafür auch noch bedanken.

***

Im Hauptkommissar stieg leichtes Unbehagen auf. Niemand der Anwesenden – und es mochten mindestens genau so viele gewesen sein wie beim Mittagessen, auch wenn er keinen einzigen von denen hier vermutete – interessierte sich scheinbar für ihn. Vor allem die Männer musterten seine Begleiterin unauffällig intensiv, aber freundlich, während die Frauen in typischer Raubkatzenmanier das Böse hinter ihrem Blick auf Franziska gönnerhaft überspielten, so wie sie das mit einem Abdeckstift für ihre Pickel taten. Es war schlicht und einfach nicht Pytliks Welt. Er vermutete, dass er bei entsprechenden Recherchen sicherlich den einen oder anderen der Geschäftsfreunde Joseph Ferdinand Kaisers in polizeilichen Akten wiederfinden würde; da mochte ihn sein Instinkt nicht täuschen. Dass er allem Anschein nach auch noch der Einzige war, der nicht im Smoking erschienen war, ließ ihn nicht unbekümmerter werden.

»Entspann dich, Franz! Heute Nachmittag bei dir zuhause warst du doch auch sehr locker – wenn ich das mal anmerken darf!«

Sie zog ihn zu sich heran und küsste ihn sanft. Franziska verblüffte den Hauptkommissar immer wieder. Von Anfang an hatte er bei ihr das Gefühl ehrlicher Sympathie und Zuneigung gehabt, auch wenn der Start auf einem Floß mit einer Wasserleiche im Jahr zuvor ungewöhnlich gewesen war.

»Du machst es einem ja auch nicht allzu schwer!«, flüstere er ihr ins Ohr und schob noch einen Wunsch hinterher: »Ich glaube, wir sollten das von heute Nachmittag noch einmal wiederholen. Ist doch ohnehin eine ganz schön spießige Gesellschaft hier. Was meinst du?«

Franziska trank von ihrem Wein und presste anschließend lasziv die Lippen aufeinander.

»Es ist gerade mal 19 Uhr! Lass uns erst hier ein bisschen Spaß haben. Entspann dich! Rede mit den Leuten, da sind interessante Männer dabei!«

»Und Frauen?«, forderte Pytlik sie heraus. Aber Franziska blieb souverän.

»Keine, die dir das bietet, was ich dir zu bieten habe. Aber du wirst dich noch wundern! Ich habe gehört, dass JFK…«

»Nennen die ihn wirklich alle so?«, unterbrach Pytlik sie.

»Wer was auf sich hält und damit prahlen möchte, im Dunstkreis des Herrn Kaiser Junior zu sein, der kann das ›Dschäi-Eff-Käi‹ gar nicht breit genug aussprechen. ›Hey, Dschäi-Eff-Käi! Wie geht´s? Alles klar, Mann?‹ Wirst du heute noch hundertmal hören!«

Pytlik schüttelte verwundert den Kopf.

»Und die Geschichte…?«

»Naja, du weißt, sie haben beide am 22. November Geburtstag. John F. Kennedy wurde an diesem Tag erschossen. Und wenn du nicht glaubst, dass die beiden, also der Joseph Ferdinand und der alte Wilhelm, den so richtig glorifizieren, dann schau dir später mal genau das kleine Planschbecken im Souterrain an, wenn JFK die Poolparty eröffnen wird.«

Franziska hatte bei der Beschreibung des Schwimmbades mit ihren Fingern Gänsefüßchen in die Luft gezeichnet.

»Und dabei komme ich noch mal auf das Thema Frauen zurück: Wenn du mit mir nicht ausgelastet bist, kannst du dich heute sicherlich noch mit ein paar osteuropäischen Tänzerinnen vergnügen. JFK ist bekannt dafür, dass er seine dubiosen Kontakte immer wieder mal zu seinen Gunsten nutzt.«

Pytliks Hals war von Franziskas Erzählungen trocken geworden, er hatte mit offenem Mund zugehört. Sie hatte wohl recht! Er sollte sich einfach locker machen.

***

Nachdem Franziska eine Bekannte getroffen hatte, mit der sie über alte Zeiten sprach, nutzte Pytlik die Gelegenheit, sich an einer der verschiedenen kleinen Bars und Theken etwas zu trinken zu holen. Danach ging er über eine der Treppen hinauf auf die Galerie und suchte sich am gusseisernen Geländer einen freien Platz, um hinunterzuschauen. Was für ein unglaublich großes Haus! Was für eine fantastische Architektur, dachte er sich, der mit seiner Doppelhaushälfte nicht unzufrieden war; gerade jetzt, wo Franziska fast schon mehr bei ihm als in ihrer eigenen Wohnung in Pressig lebte.

Nach der Scheidung von ihrem Mann hatte sie das Dachgeschoss in ihrem Elternhaus ausgebaut. Ihre Mutter war glücklich, eine ihrer Töchter wieder unmittelbar bei sich zu haben. Und Pytlik war froh, Franziska gefunden zu haben. Er begann gerade, in Gedanken an sie zu versinken, als er spürte, wie jemand seinen Arm um ihn und die Hand auf seine linke Schulter legte. Instinktiv drehte sich Pytlik nach rechts und schaute Joseph Ferdinand Kaiser direkt in die Augen.

Dschäi-Eff-Käi schoss es Pytlik durch den Kopf. Er sprach es aber nicht aus.

»Herr Kaiser! Ich…«

Der Hausherr nahm die Hand schnell wieder von Pytliks Schulter und breitete beide Arme aus, so als wollte er einen guten Freund begrüßen. Zur Umarmung kam es aber nicht.

»Ich bitte dich! Franz! Du gehörst doch jetzt fast schon zur Familie! Ich bin der JFK!«

Kaiser hatte das Dschäi-Eff-Käi genauso breit ausgekaut, wie es Franziska vorhin beschrieben hatte.

»Franz!«, erwiderte Pytlik und stieß sogleich mit Kaiser an, der auch nicht lange fackelte, mit dem neuen Familienmitglied Tacheles zu reden.

»Franz und Franzi! Na, wenn das nicht passt wie Arsch auf Eimer!«

Kaiser lachte laut, als hätte er den Witz des Jahrhunderts erzählt und schlug Pytlik mit der Hand gegen den Oberarm. Der Hauptkommissar war sichtlich bemüht, den Spaß mitzumachen. Dann lehnte sich Kaiser mit dem Rücken gegen das Geländer, so dass beide Männer sich nun gegenseitig anschauen konnten. Seine nächsten Worte waren erstaunlich. Er senkte die Stimme.

»Weißt du, du hast ein Riesenglück, Franz!«

Er machte eine Pause, erwartete wohl Pytliks Reaktion. Der vermutete zu wissen, was nun kam und schwieg. Stattdessen schaute er stur nach unten. Kaiser wurde ungeduldig. Er schien nicht mehr nüchtern zu sein.

»Hey, willst du gar nicht wissen, warum du Riesenglück hast?«

In diesem Moment trafen sich Franziskas und Pytliks Blicke. Freude huschte in sein Gesicht, und so als ob Joseph Ferdinand Kaiser nicht neben ihm stehen würde, ja gar nicht existieren würde, prostete er seiner Liebsten zu und übertrieb es mit einer deutlichen Kusshand. Das Spiel hatte begonnen!

»Entschuldige, Joseph! Nochmal bitte! Ach so, Glück – warum ich deiner Meinung nach Riesenglück habe! Also, meiner Meinung nach – vielleicht deckt sich das ja – habe ich verdammtes, saumäßiges Riesenglück, weil ich neben einem super Job mit super Kollegen, großartigen Nachbarn und Freunden auch noch eine umwerfende und intelligente Frau an meiner Seite habe.«

Pytlik machte eine kurze Pause. Er spürte, dass Kaiser merkte, dass er ihn provozieren wollte. Aber eine Retourkutsche vom Mittagessen musste auch noch sein.

»Und weil ich sehr gerne auch Freund und Helfer bin!«

Kaiser lächelte, wollte nicht eingestehen, dass ihm die forsche Art des Hauptkommissars in seinem eigenen Haus gar nicht schmeckte. Er ließ es sich nicht anmerken, setzte aber zum Gegenstoß an.

»Ja, alles schön und gut mit deinem Job und den anderen Leuten da! Prima! Allerdings habe ich von Riesenglück gesprochen und meine damit tatsächlich diese Frau da unten.«

Kaiser deutete unauffällig in Franziskas Richtung.

»Enttäusch sie nicht! Das ist ein gutgemeinter Rat, denn sonst…«

»Denn sonst was?«, unterbrach ihn Pytlik, dem diese Belehrung einfach zu weit ging. Danach herrschte für Sekunden Funkstille. Kaiser quälte ein Lächeln hervor, hob sein Glas und lud Pytlik ein, mit ihm anzustoßen. Was er dann sagte, nahm ihm der Hauptkommissar nicht ab.

»Denn sonst wird auch die zweite Preuß-Tochter unglücklich enden!«

Der Klang der Gläser, die sich sanft trafen, war kaum zu hören. Die Blicke der beiden Männer durchdrangen den jeweils anderen. Pytlik versuchte, der angespannten Situation eine andere Richtung zu geben.

»Ich habe gehört, du hast ein schönes kleines Schwimmbad…«

Joseph Ferdinand Kaiser fühlte sich anscheinend perfekt abgeholt. Womöglich hatte er aus dieser ersten Konfrontation mit dem Hauptkommissar die für ihn notwendigen Schlüsse gezogen.

»Komm mit! Du bekommst eine exklusive Führung!«

***

Kaiser hatte seinen Zeigefinger elegant über das winzige Display gleiten lassen. Ein kurzes Summen erfolgte und der Hausherr drückte die mit Holz umrahmte Glastür auf. Es schien wie eine eigene kleine Welt in diesem Traumschloss zu sein. Wie von Geisterhand wurde eine große Halle in dezentem Licht erleuchtet. Über eine breite Treppe gelangten Pytlik und Kaiser in eine Art Vorraum, in dem bereits ein weiteres Buffet mit allerlei Köstlichkeiten vorbereitet war. Pytlik versuchte, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Allerdings wusste Kaiser, dass es niemanden kalt lassen würde, was er im Keller seines Hauses zu bieten hatte.

»Und? Wie gefällt es dir?«

Kaisers Frage war überflüssig, ein typischer Einsteiger. Just in dem Moment, als Pytlik zur Antwort ansetzen wollte, betraten beide durch eine breite Glasschiebetür das Hallenbad – das »Planschbecken«, wie Franziska es genannt hatte. Kaiser spuckte die Daten wie ein Computer aus, noch bevor Pytlik höflich fragen konnte.

»Die Halle hat eine Grundfläche von 30 mal 15 Metern. Das Becken ist 15 Meter lang und sieben Meter breit. Das Fassungsvermögen beträgt etwa 160 Kubikmeter, natürlich individuell beheizbar. Lichtspiele ohne Ende und so weiter und so weiter! Die Fliesen…«

Pytlik hörte sich gute zehn Minuten lang eine detaillierte Beschreibung an. Kaiser ließ nicht die geringste Kleinigkeit aus, um Pytlik in Erstaunen zu versetzen. Dem Hauptkommissar gefiel alles sehr gut, das musste er zugeben.

»Erstaunlich! Durchdacht bis ins letzte Detail! Da kann man sich ja richtig austoben!«

Kaiser war Pytliks Wertschätzung wohl ganz egal. Außerdem hatte der Hauptkommissar das Gefühl, dass all das nicht in erster Linie einem funktionalen Zweck diente, sondern eher eine Art Vorzeigeobjekt darstellen sollte. Zu unbenutzt sah alles aus, unabhängig davon, dass für die bevorstehende Poolparty alles auf Hochglanz gebracht worden war.

»Wann seid ihr hier eigentlich eingezogen?«, wollte er wissen.

»Vor 15 Jahren! Alles muss irgendwie zusammenpassen bei uns, weißt du! Mein Vater hat immer gesagt: ›Mit 70 höre ich auf! Dann wirst du die Firma übernehmen!‹ Sein freundliches Lächeln dabei und das aufmunternde Schulterklopfen habe ich einfach hingenommen.«

Kaiser leerte sein Glas mit einem verbittert wirkenden Gesichtsausdruck, dann holte er sich aus einem großen Kühlschrank ein neues Getränk.

»Willst du auch?« Pytlik nutzte die Gelegenheit.

»Gerne! Also hattest du einen anderen Lebensplan?«

Die beiden stießen an. Joseph Ferdinand Kaiser spielte in der einen Hand mit dem Kronkorken zwischen Zeigefinger und Daumen, während er einen kräftigen Schluck aus der Flasche nahm.

»Es gab keine Chance für einen anderen Lebensplan! Mein Vater hat damals mit gerade einmal 18 Jahren die Firma mit einem Freund gegründet. Die beiden waren ein gutes Team, die Firma wuchs sehr schnell und wurde immer größer. 1961 kam der Kompagnon meines Vaters durch einen Unfall ums Leben. War wohl eine harte Zeit für meinen alten Herren, aber er hat sich durchgebissen. Nachdem sein Erstgeborenes ein Junge war, war der weitere Weg somit vorgegeben.«

Kaiser trank erneut, die Flasche war danach leer, er holte sich Nachschub. Pytlik blieb stumm und hörte nur zu.

»Ich habe eine Lehre auf dem Bau gemacht, danach Bauingenieurwesen studiert. München ist eine schöne Stadt, wenn du verstehst. Hat ein bisschen länger gedauert mit dem Studium. Habe es dann mehr schlecht als recht abgeschlossen. 1988 bin ich dann offiziell mit in die Firma eingestiegen, als angestellter Geschäftsführer neben meinem Vater. Im selben Jahr kam unser Sohn auf die Welt, zwei Jahre später unsere Tochter.«

Je mehr Kaiser seinen Lebenslauf vor Pytlik darlegte, desto mehr hatte der Hauptkommissar das Gefühl, es würde den Bauunternehmer zunehmend anwidern, darüber zu sprechen.

»Und dann hat dein Vater dir alles übergeben, aber er ist immer noch fleißig mit im Tagesgeschäft dabei. Das heißt, es hat sich nichts geändert!«

Wieder nahm Kaiser einen kräftigen Schluck, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, er starrte auf den Boden und nickte.

»Das Grundstück hier hat er mir geschenkt, während er in Pressig in unmittelbarer Nähe zum Firmengelände residiert. Da ist es natürlich nicht einfach und sicher auch nicht gewollt, sich von heute auf morgen aus allem rauszuhalten und zu sagen: ›Jetzt mach du mal!‹ Er hat schon immer alles genau unter seiner Kontrolle haben wollen. Aber ich lasse mich halt nicht gerne kontrollieren! Ich habe auch noch ein eigenes Leben. Verstehst du?«

Kaisers Stimme war lauter geworden. Nachdem er Pytlik nicht angeschaut hatte, hätte man meinen können, er klage gerade seinen Vater an. Dem Hauptkommissar war die Situation nun doch etwas unangenehm. Schließlich hatte er Franziskas Schwager gerade einmal kennengelernt und nicht den besten Eindruck von ihm gewonnen, da schüttete dieser ihm bereits sein Herz aus. Kaisers nächster Satz ging Pytlik durch Mark und Bein.

»Wenn er mal nicht mehr da sein wird, verkaufe ich alles und verschwinde hier!«

Für einige Sekunden hallten die Worte nach. Keiner der beiden regte sich. Dann ging Kaiser zum Schwimmbecken, stellte sich breitbeinig an den Rand und schaute auf die spiegelglatte Oberfläche. Pytlik folgte ihm langsam, stellte sich mit etwas Abstand daneben und blickte auf den Boden des hellblau gefliesten Pools, der in gewisser Weise das Dilemma widerspiegelte, in dem Joseph Ferdinand Kaiser sich zu befinden schien.

»Schau dir das an! Hätte ich nicht einfach Thomas, Stefan, Dieter oder Martin heißen können? Musste es unbedingt Joseph Ferdinand sein? Nur, damit er sein Idol in mir weiterleben lassen kann! ›Dschäi-Eff-Käi‹! Wie ich es hasse!«

Pytlik fand die etwa zwei Quadratmeter große, in dunkelblau abgesetzte Fläche in der Mitte des Beckenbodens optisch nicht einmal so unpassend. Dass darauf allerdings die drei bekannten Buchstaben prangten, hatte etwas Dekadentes.

Plötzlich begann Kaiser erst langsam und nachdenklich, dann immer lauter zu lachen. Pytlik musste aufpassen, sich nicht anstecken zu lassen. Kaiser ging sogar in die Knie, nahm die freie Hand vor den Mund und hatte nun schon Tränen in den Augen. Er setzte sich auf eine der gepolsterten Liegen und kam erst nach und nach wieder zur Ruhe.

»Was hast du?«, wollte Pytlik wissen. Er hatte mehr und mehr den Eindruck, dass Kaiser nicht nur bereits zu viel Alkohol getrunken hatte. Er hatte schon einige Menschen mit Drogenproblemen kennengelernt. Der Bauunternehmer zeigte entsprechende Verhaltensweisen.

»Dahinter steckt mehr als nur die plakative Botschaft der Verehrung seines politischen Helden. Tatsächlich steckt dahinter mehr!«, redete Kaiser weiter.

»Aber was erzähle ich da?«

Pytlik schaute zu Kaiser hinüber, der ignorierte den Hauptkommissar allerdings.

»Nein, doch! Es stimmt doch, verdammt noch mal! Hinter diesen drei Buchstaben versteckt mein Vater eines der größten Geheimnisse, die es im Landkreis Kronach jemals gegeben hat. Und ich muss, nein, ich darf...«

Kaisers Lachanfall kam zurück und dauerte einige Sekunden, bevor er fortfuhr.

»Wie verrückt! Ich darf das alles tatsächlich ausbaden!«

Wieder brach er in schallendes Gelächter aus. Dem Hauptkommissar wurde es nun zu unangenehm. Außerdem wollte er Franziska nicht länger allein lassen.

»Ich glaube, ich werde jetzt mal wieder hochgehen. Wirklich sehr beeindruckend das alles hier! Danke, dass ich schon mal vorab schauen durfte.«

Pytlik wartete nicht auf eine Antwort Kaisers; der war ohnehin wieder in Gedanken verloren. Ein kaum wahrnehmbares »Ja, schon gut! Geh nur!« begleitete Pytlik auf seinem Weg.

***

»Hast du Gerda gesehen?«

Pytlik hob die Schultern und verzog das Gesicht. Er wollte Franziska damit signalisieren, dass er nichts verstanden hatte. Der Lärm in der überfüllten Schwimmhalle ließ eine normale Unterhaltung nicht mehr zu. Die diversen Diskokugeln und die laute Musik erzeugten Clubatmosphäre.

Die Beleuchtung war auf ein Minimum reduziert, der Pool wirkte wie ein großer, verführerischer Schlund in Hellblau; immer wieder fielen Gäste gewollt oder ungewollt samt der kompletten Bekleidung ins gut temperierte Nass; andere hatten wohl von der Option gewusst und genossen das Treiben in entsprechendem Outfit im Wasser, die Ellenbogen lässig auf dem Beckenrand und ihre Drinks vor sich abgestellt.

Pytlik meinte, nun zu wissen, wie es im alten Rom zugegangen sein musste. Die nur mit dem Notwendigsten umhüllten Tänzerinnen hatten keinerlei Mühe, sich nach und nach an die entsprechenden Männer heranzumachen, mit denen sie von Zeit zu Zeit in Nischen oder vorbereiteten Zimmern verschwanden.

Die zahlreichen Angestellten des Sicherheitsdienstes hatten gut zu tun, die Lage im Griff zu behalten. Bei manchen Gästen hatte man den Eindruck, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Franziska kam mit ihrem Mund nahe an Pytliks Ohr. Sie hatten sich nach dessen Poolbesichtigung zusammen amüsiert, immer wieder hatte Franziska aber auch Bekannte getroffen, so dass dem Hauptkommissar genug Zeit blieb, Leute zu beobachten.

Er hielt sich mit dem Alkoholkonsum zurück. Er hatte an diesem Abend seiner Lebensgefährtin den Fahrdienst versprochen. Mittlerweile war es halb zwölf und er hoffte insgeheim, dass Franziska nicht mehr allzu lange würde bleiben wollen. Er hatte genug!

»Hast du Gerda gesehen?«, wiederholte Franziska ihre Frage. Pytlik schaute sie kurz an und schüttelte den Kopf.

»Niemand weiß, wo sie ist! Ich mache mir Sorgen!«

»Sie ist alt genug! Sie wird schon wissen…«

Pytliks gutgemeinte Floskel hörte sich Franziska nicht bis zum Schluss an. Mit suchendem Blick und besorgter Miene wendete sie sich bereits wieder von ihm ab.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Schwimmbeckens kam gerade ein junger Typ aus einem Nebengang zurück. Nur wenige Sekunden nach ihm bewegten sich die beiden rubinroten Vorhanghälften erneut. Eine etwas reifere Frau, leicht schwankend, folgte dem Casanova unauffällig. Sie richtete sich die Frisur, und als sie an ihm vorbeilief, fasste sie ihm mit einer Hand noch einmal kräftig an den Hintern und blickte ihn zufrieden lächelnd an. Dann verschwand sie in der Menge, hob die Hände in die Höhe und begann wie wild zu tanzen. Ihr vermeintlicher Glücksbringer erzählte derweil einem anderen Typen von seinen Erlebnissen.

Pytlik schmunzelte. Er stellte sich vor, was jetzt wohl los wäre, würde eine Sondereinheit der Polizei aufgrund irgendeines besonderen Verdachtes hier aufschlagen und das Haus sowie die Anwesenden einer sorgfältigen Kontrolle unterziehen. Er hoffte weiterhin, bald nach Hause gehen zu können.

Er wollte sich gerade noch einmal am Buffet umsehen, als die Musik etwas leiser gedreht wurde und die Stimmung plötzlich deutlich auf einen Höhepunkt zuzusteuern schien. An der Hinterseite der Halle, mit dem Blick hinaus in den beleuchteten und verschneiten Garten, bildete sich ein Spalier und die Gäste begannen rhythmisch zu klatschen.

›Dschäi-Eff-Käi‹ erklang ein auffordernder und immer lauter werdender Chor aus Dutzenden heiserer Kehlen, die Menge war enthusiastisch und außer Rand und Band. Wie ein Weitspringer bei seinem letzten Versuch im vollbesetzten Stadion stand Joseph Ferdinand Kaiser mit einem Abstand von einigen Metern zum Wasser bereit, um seinen Gästen das wohl erwartete Highlight des Abends zu präsentieren. Und als ob dies nicht schon genug Zurschaustellung von Ego und Macht gewesen wäre, setzte eine seiner Amüsierdamen dem noch die Krone auf, indem sie dem Gastgeber dessen Einstecktuch, versehen mit einem frischen Lippenabdruck, in die Brusttasche seines Jacketts steckte und ihm anschließend noch etwas ins Ohr flüsterte. Welche Schmach, dachte Pytlik, muss das nur für die bedauernswerte Gerda sein! Er schaute sich kurz um, so gut es ging. Weder Franziska noch ihre Schwester wohnten dem Spektakel bei.

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