Liebe im neuen Jahrtausend

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Liebe im neuen Jahrtausend
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Can Xue

Liebe im neuen Jahrtausend

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

Mit einem Nachwort von Eileen Myles


Inhalt

Eins: Cuilan und Wei Bo

Zwei: Wei Bos Affäre mit Ah Si

Drei: Long Sixiangs Suche nach sich selbst

Vier: Wei Bos Frau Xiao Yuan

Fünf: Der Antiquitätengutachter

Sechs: Die Welt aus der Sicht des Doktors

Sieben: Wei Bo im Gefängnis

Acht: Polizist Xiao Hes unerwiderte Liebe

Neun: Lehrjahre der Gefühle

Zehn: In Chao

Elf: Die tapfere Ah Si

Eileen Myles: Inside Can Xue

Eins
Cuilan und Wei Bo

Die Witwe Niu Ciulan stand noch vor Tagesanbruch auf, um sich zu waschen und zurechtzumachen, denn sie erwartete an diesem Tag Besuch von ihrem Liebhaber Wei Bo. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, ihrer Meinung nach das beste Alter für eine Frau. Ihr Mann war vor acht Jahren gestorben. Wei Bo war achtundvierzig und arbeitete in einer Seifenfabrik, war aber für einen einfachen Arbeiter ziemlich kultiviert.

Cuilan und Wei Bo hatten sich vor einem Jahr kennengelernt, in einem Wellnesshotel, in dem man auch sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen konnte. Cuilan war dort ausschließlich zum Besuch der Thermalbäder hingegangen. Nachdem sie sich genüsslich im Bad entspannt hatte, stieg sie gemächlich aus dem Becken und ging sich umziehen. Es war noch früh am Tag. Geisterhaft bewegten sich die Badegäste durch die wabernden Dampfschwaden, und immer wieder stießen Männer sie anzüglich mit dem Ellbogen an. Angewidert spuckte Cuilan hinter ihnen auf den Boden.

In diesem Augenblick erhaschte sie einen Blick auf Wei Bo, der ein fliederfarbenes Sporttrikot trug. Einer von diesen erbärmlichen Fremdgehern, dachte Cuilan. Es war offensichtlich, was er hier suchte. Verächtlich schnaubte sie durch die Nase und fragte sich, was dieser Kerl sich wohl dabei dachte, hier im Sporttrikot herumzulaufen.

Als sich dann ihre Schultern in dem engen Korridor berührten (er war auf dem Weg zum Bereich mit den speziellen Dienstleistungen), stieß sie ihm hart den Ellbogen in die Rippen, so hart, dass er aufschrie und gegen die Seitenwand taumelte.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Kerl, einer, der zu Prostituierten ging, Cuilans Liebhaber werden sollte? Später gestand ihr Wei Bo, dass er wegen Sex im Wellnesshotel gewesen sei, doch anders als sonst sei sein Verlangen hinterher noch nicht gestillt gewesen. Etwas habe ihn durcheinandergebracht, und es habe nicht lange gedauert, bis ihm klar geworden sei, was es gewesen war. Schnurstracks war er zur Rezeption gegangen, um Cuilans Adresse herauszufinden, und hatte sich bis zu ihrer Wohnung durchgefragt. Ohne Umschweife waren die beiden Experten übereinander hergefallen und hatten sich so lange vergnügt, bis sie erschöpft und schweißgebadet voneinander abgelassen hatten.

Wei Bo hatte Familie. Und er hatte nicht wenige zwielichtige Einkommensquellen, die ihm gelegentliche Ausflüge in gewisse Etablissements gestatteten. Er war ziemlich potent und in sexuellen Dingen erfreulich bewandert. Cuilan war mit dieser neuen Situation zunächst sehr zufrieden, so zufrieden, dass sie ihre anderen Liebhaber unverzüglich zum Teufel jagte und sich leidenschaftlich ihrer neuen Flamme hingab. Seine sonstigen Qualitäten waren zwar nicht unbedingt zum Verlieben, aber als Liebhaber genügte er ihr vollauf. Eine Frau hatte ihrer Ansicht nach ein Recht auf ein erfülltes Sexualleben. Üblicherweise stattete ihr Wei Bo zwei- bis dreimal im Monat einen Besuch ab.

Im Lauf der Zeit fing sie an, ihn als eine Art heimlichen Ehemann zu betrachten. Cuilan war eine ausgesprochen unabhängige Frau, ein heimlicher Ehemann ließ sich bestens mit ihren Vorstellungen vereinbaren. Was war schon dabei, sich ein bisschen Vergnügen zu gönnen?

Eigentlich hieß er Wei Siqiang – Herr Wei mit den vier Stärken – ein ungewöhnlicher und ungewöhnlich vulgärer Vorname. Genauso ungewöhnlich war sein Verhalten, das schon immer eher das eines alten als das eines jungen Mannes gewesen war, daher hatte ihn jeder bereits mit dreißig nur noch »Bo« genannt, Onkel. Cuilan mochte es, ihn ebenso zu nennen. Wei Bo.

Sie schlang ihr Frühstück hinunter und machte sich daran, ihre Dreizimmerwohnung zu putzen, bis die beiden Schlafzimmer und das Wohnzimmer auf Hochglanz poliert waren. Dann zog sie noch einmal den Lidstrich nach. Ohne ersichtlichen Grund war sie unruhig und schreckte auf, sobald sie auf dem Flur Schritte hörte. Doch jedes Mal waren es nur die Nachbarn. Sie schämte sich für ihre Nervosität, das war eigentlich unter ihrer Würde. Schließlich war sie nie der Typ Frau gewesen, der sich albern wie ein kleines Mädchen bei Männern anbiederte. Sie ging zum Kühlschrank und nahm ein paar Mangos heraus, wusch sie, schälte sie und aß sie, bis ihre Hände und ihr Gesicht völlig verschmiert und ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up ruiniert waren. Was sprach schon dagegen, Wei Bo die wahre Cuilan zu zeigen?

Erst gegen Mittag klopfte es zaghaft an ihrer Tür. Er war es. Argwöhnisch fragte sie sich, warum sie gar keine Schritte gehört hatte. Ob Wei Bo sie zum Narren halten wollte? Sie musterte ihn, dachte an die höllischen Qualen, die sie den ganzen Vormittag über erlitten hatte, und brachte kein Wort heraus.

»Hallo Cuilan, ich wollte dir nur sagen, dass ich gleich wieder wegmuss. Bei mir zu Hause ist etwas nicht in Ordnung.«

Er wirkte vollkommen ehrlich.

»Das hättest du mir doch auch am Telefon sagen können«, bemerkte Cuilan verwirrt.

»Am Telefon?« Er schien nicht weniger verwirrt. »Wie denn das? Das wäre respektlos. Wir sind doch schließlich ein Paar. Ich liebe dich!«

Er hatte gesagt, dass er gleich wieder gehen müsse. Und er ging.

Wie in einem Traum saß Cuilan reglos am Tisch. Seit dem frühen Morgen war sie ein einziges Nervenbündel gewesen. Ihr Verhalten gab ihr selbst Rätsel auf. Immer wieder hatte sie in den Spiegel gesehen, gleich zweimal hatte sie sich hastig eine neue Frisur gemacht und ihr Make-up komplett wieder abgewischt und neu aufgetragen. Und das alles für eine zweiminütige Stippvisite dieses Mannes. Er hatte ziemlich durcheinander gewirkt, ihr nicht einmal in die Augen gesehen. Etwas wirklich Gravierendes musste passiert sein. Aber Cuilan hatte keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sie hielt sich jeden Ärger so weit wie möglich vom Hals. So ein verdammtes Pech. Ein ganzer freier Tag vergeudet, für nichts und wieder nichts. Morgen musste sie wieder in die Messinstrumentefabrik, wo sie als Lageristin arbeitete.

Am darauffolgenden Tag machte Cuilan Überstunden und kam erst spät von der Arbeit nach Hause, weshalb sie, statt zu kochen, lieber in einem kleinen Nudelladen namens Himmel auf Erden zu Abend aß. Er lag gleich bei ihr um die Ecke. Nur wenige Kunden waren um diese Uhrzeit im Himmel auf Erden, und die verließen schon bald nach ihrem Eintreten das Lokal. Sie saß allein in einer Ecke, was ihr nur recht war. Doch schnell war es mit ihrer Ruhe vorbei.

Scheppernd wurde die Glastür des Lokals aufgestoßen und herein trat ein geschniegelter Beau. Cuilan kannte ihn, er war ein namhafter Gutachter für Antiquitäten und Wertgegenstände, jemand, der sich sonst nicht so ungehobelt benimmt. Der Mann, sein Familienname war You, nahm ungefragt ihr gegenüber Platz. Cuilan starrte an ihm vorbei zum Fenster hinaus, ihr war nicht nach Gesellschaft. Sie war müde und nicht in bester Laune.

»Waren Sie mal wieder im Wellnesshotel? Die haben ein neues Premiumangebot namens ›Fischbad‹. Ein Schwarm winziger Fische nibbelt einem den Dreck von der Haut. Ziemlich originell, finden Sie nicht?«

Beim Sprechen entblößte Herr You zwei Reihen blendend weißer Zähne, die Cuilan an einen Schäferhund erinnerten. Statt einer Antwort schnaubte sie nur durch die Nase. Wollte er sie provozieren?

»Ich saß dort gestern zusammen mit einem Herrn im Becken, den Sie ziemlich gut kennen.«

Die Nudelsuppe mit Pilzen und Gemüse wurde serviert und Cuilan widmete sich ganz ihrem Essen.

»Interessiert Sie denn gar nicht, was ich Ihnen zu erzählen habe?« Herr You ließ seinen Blick keine Sekunde von ihr ab. »Nein. Nicht im Geringsten!«

Cuilan stand auf und ging zum Tresen, um zu zahlen. Sie hörte Herrn You hinter sich theatralisch seufzen. Eisern bezwang sie ihre Neugier und drehte sich nicht nach ihm um. Wie Nadelstiche spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken.

Niu Cuilan war entschlossen, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Und das hieß für sie, zu dem relativ ruhigen Dasein zurückzukehren, das sie geführt hatte, bevor Wei Bo zu ihrem festen Liebhaber geworden war. Affären hatte sie immer wieder gehabt, aber die waren meist so schnell vorbei, wie sie begonnen hatten. Cuilan war stets überzeugt gewesen, nicht der Typ Frau zu sein, der keinen deutlichen Schlussstrich zu ziehen vermochte. Sicher, Wei Bo war auf seine Art ziemlich gut gewesen, aber satt wurde man davon nicht – und das musste man schließlich auch, ganz abgesehen von dem, was das Leben sonst noch zu bieten hatte. Genauer betrachtet war zwischen ihnen auch nichts weiter gewesen, von Verbindlichkeit konnte keine Rede sein. Cuilans Ideal war noch immer die Liebe, die so flüchtig war wie Morgentau.

 

Zwei Monate waren vergangen seit jenem freien Tag, an dem Wei Bo sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte. Cuilan kam sich sehr ruhig vor. So ruhig, dass es sie beunruhigte.

Ihre Arbeit in der Messinstrumentefabrik war monoton, aber wenig anstrengend, nichts, was Cuilan als der Rede wert erachtete. Auch das Verhältnis zu den Kollegen war weder besonders kühl noch besonders herzlich. Heiße Thermalbäder waren Cuilans bevorzugte Abwechslung, aber das einzige Wellnesshotel ihrer Stadt war gleichzeitig ein Stundenhotel. Ihr Wunsch nach Entspannung siegte am Ende über ihre Abneigung gegen solche Etablissements, und so ging sie eines Sonntags wieder hin. Solange sie nicht ausgerechnet diesem Herrn You begegnete, wäre alles in Ordnung, befand sie.

Samstagnacht hatte Cuilan einen Traum. Sie macht im Thermalbecken Schwimmzüge, als sie plötzlich jemandes Fuß berührt. Erschrocken richtet sie sich auf und blickt sich um, doch sie sieht nur dichte Dampfschwaden. Dann dringt aus dem künstlichen Bambuswald auf der anderen Seite eine Stimme, die ruft: »Niu Cuilan! Niu Cuilan!« Sie eilt zu den Umkleidekabinen, zieht sich an und sieht auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Warum ist sie hier? Als sie zum Ausgang läuft, findet sie die Tür verschlossen. Ihr Herz klopft wie wild, kalter Schweiß rinnt ihr über die Stirn. Da tauchen die Umrisse eines Mannes auf, und erstaunt stellt Cuilan fest, dass es sich um Wei Bo handelt. Sie zwingt sich zu einem Lächeln, bringt aber nur eine Grimasse zustande. »Hier, um es dir besorgen zu lassen?«, fragt sie ihn. »Bestens! Sag mir, wo ich jemanden finde, der mir die Tür aufschließt.« Wei Bo verspricht, jemanden aufzutreiben, dreht sich um und verschwindet im Hauptgebäude. Cuilan setzt sich auf einen Stuhl neben dem Wandelgang, wo sie wartet und wartet, bis ihr die Augen zuzufallen drohen. Plötzlich packt sie jemand von hinten an der Hüfte und hält sie fest. Sie strampelt verzweifelt und schreit um Hilfe. Dann wachte sie auf.

Beinahe wäre sie wegen des verstörenden Traums nicht ins Wellnesshotel gegangen. Sie ließ sich noch ein wenig Zeit, aber um neun Uhr vormittags machte sie sich schließlich auf den Weg.

Im Frauenbereich des Thermalbeckens war nicht viel los, nur drei andere Besucherinnen ließen sich dort auf dem Rücken liegend treiben wie Tote. Momentan hatte Cuilan tatsächlich den Eindruck, eine davon wäre eine Leiche. Die Frau trieb vollkommen reglos, mit aufgeblähtem Bauch und hervortretenden Augäpfeln auf dem Wasser. Cuilan wollte gerade vor Schreck aufschreien, als die drei Frauen anfingen, laut miteinander zu plaudern; sie schienen eng befreundet zu sein. Erleichtert lehnte sich Cuilan an den Beckenrand und genoss mit halb geschlossenen Augen die Wärme. Das Thermalbecken war makellos sauber, das Wasser sprudelte angenehm aus den Düsen, der Boden bestand aus einer dicken Schicht feinen, weißen Sands und den Beckenrand zierten schöne alte Schnurbäume.

Während sich ihr Körper entspannte, drang das Gespräch der Frauen an ihr Ohr. Anfangs rauschten die Stimmen an ihr vorbei, doch allmählich hörte sie heraus, worum es ging. Sie redeten über eine Prostituierte, die im Begriff war, ihren Beruf aufzugeben und zu heiraten. Alle drei hatten einen echten Knochenjob in einer Baumwollfabrik und beneideten die ehemalige Kollegin, die die anstrengende Stelle vor vier Jahren gekündigt hatte, um als Prostituierte im Wellnesshotel zu arbeiten. Und jetzt verabschiedete sie sich sogar ganz aus dem Arbeitsleben. Angeblich hätten mehrere Männer sie finanziell dabei unterstützt, sich eine Wohnung in einem neuen Apartmentkomplex zu kaufen.

Cuilan war beim Zuhören eingenickt, schreckte aber schnell wieder aus dem Halbschlaf auf, als der Name Wei Bo fiel. Sie öffnete die Augen und sah, wie die drei Frauen aus dem Becken stiegen und zu den Umkleiden gingen. Hatten sie tatsächlich gerade über Wei Bo gesprochen? War er einer der Männer, die der Prostituierten zu einer eigenen Wohnung verholfen hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er finanziell dazu in der Lage war, doch sie meinte sich dunkel daran zu erinnern, wie er einmal von »einträglichen Nebeneinkünften« gesprochen hatte. Ihrer Meinung nach hatte er damals nur geblufft, um sie zu beeindrucken. Heutzutage hatte doch jeder irgendein »Nebeneinkommen«, und in ihrer Beziehung zu Wei Bo hatte Geld keine Rolle gespielt. Cuilan war finanziell unabhängig.

Ein Gefühl von Niedergeschlagenheit überwältigte sie. Sie war hergekommen, um sich zu entspannen und nicht, um Geschichten über Wei Bo zu hören. Noch dazu dieser seltsame Traum der vergangenen Nacht. Als ob dieses ganze verdammte Wellnesshotel Wei Bo gehörte. Das Thermalbad füllte sich zunehmend mit Badegästen. Bedrückt stieg Cuilan aus dem Becken.

Als sie sich auf den Ausgang zubewegte, nahm sie die Tür genauer in Augenschein und versuchte sich an Einzelheiten ihres Traums zu erinnern. Das war nicht die Tür, die sie gesehen hatte. Dann hörte sie hinter sich eine Stimme.

»Ich bin ganz sicher, dass seine Gefühle echt sind. Die anderen wollen einfach nicht glauben, dass es so etwas gibt.«

Es war eine der Textilarbeiterinnen, die Frau, die wie eine Tote mit aufgeblähtem Bauch im Becken getrieben war.

Cuilan drehte sich zu ihr um und lächelte sie an wie eine alte Bekannte.

»Ich heiße Long Sixiang. Und Sie sind Niu Cuilan, nicht wahr? Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Na, kommen Sie auch gerne hierher, um es sich ein wenig gut gehen zu lassen, so wie ich und meine Kolleginnen? Ich und die beiden anderen, also wir kommen in letzter Zeit häufiger hierher. Zu gerne würden wir im Bereich mit den besonderen Dienstleistungen arbeiten, aber die halten uns für zu alt. Wir sind übrigens gut bekannt mit Wei Bo, kein Wunder, der ist schließlich bei jedem beliebt. Er hat von Ihnen erzählt.«

»Was hat er über mich erzählt?«

»Dass Sie der Typ braves Mädchen sind. Im Grunde sind wir drei das auch, aber das behagt uns nicht. Wir wollen lieber gefallene Mädchen werden … Aber keiner will uns, weil wir ihnen zu alt sind.«

»Ich wäre auch gern ein gefallenes Mädchen!«, platzte es aus Cuilan heraus. »Leider bin ich auch zu alt.«

»Ich weiß, was Sie meinen. So reden die Frauen, an denen Wei Bo Gefallen findet. Und je öfter er behauptet, Sie wären ein braves Mädchen, desto weniger glaube ich ihm. Was hätte ein braves Mädchen an einem Ort wie diesem zu suchen?«

Long Sixiang verdrehte beim Reden immerzu die Augen, so als müsse sie den Gedanken an etwas Widerwärtiges unterdrücken. Auf Cuilan wirkte sie zwar nicht besonders hübsch, aber sie musste zugeben, dass die Art, wie die Frau munter drauflosredete, ihren Reiz hatte.

»Sie haben also auch ein Verhältnis mit Wei Bo?«, fragte Cuilan betont scherzhaft.

»Schön wär’s.« Long Sixiang schüttelte bedauernd den Kopf. »Der hat nur diese Ah Si im Sinn, der alte Bulle frisst gern junges Gras. Es heißt, er hätte sich ihretwegen stark verschuldet.«

Sie gingen ein Stück gemeinsam, bis sich ihre Wege trennten. Diese Long Sixiang war ganz nach Cuilans Geschmack, und so beschloss sie, die Frau bei Gelegenheit wiederzusehen.

Zurück zu Hause fühlte sie sich zunehmend durcheinander. Warum plagte Wei Bos Geist sie jetzt wieder so sehr? Hatte sie sich denn nicht längst mit dem Ende ihrer Beziehung abgefunden? Sie hatte für eine kurze Weile etwas mit einem einfachen Arbeiter aus einer Seifenfabrik gehabt, dann war ihre schicksalhafte Verbindung an ihr Ende gekommen und jeder von ihnen war seiner Wege gegangen. Nichts weiter. Vor ihrem Besuch im Wellnesshotel hatte sie nicht einmal an ihn gedacht und allein die Begegnung mit diesem Antiquitätengutachter You gefürchtet. Wei Bo gehörte nicht mehr in ihre Gedanken. Und doch wollte er sie nicht loslassen, weder am helllichten Tag noch nachts in ihren Träumen. Long Sixiangs Worten zufolge war Wei Bo bei den Frauen beliebt, und er wusste offensichtlich mit ihnen umzugehen.

Kaum dass sie Witwe geworden war, hatte eine ganze Reihe Männer sich um sie bemüht. Sie war sich selbst egoistisch vorgekommen, weil sie für keinen von ihnen bereit gewesen wäre, Opfer zu bringen. Daher war sie lieber allein geblieben. Und sie genoss ihr Singleleben, wenn es auch nicht immer ganz sorglos war. Wei Bo hatte ihr besser gefallen als andere Männer, sicher, aber auch nicht so, dass sie sich Opfergaben an seinem Grab machen sah. Sie hatte es nicht nötig, sich von jemandem abhängig zu machen. Was war nur los mit diesen Weibern von der Baumwollfabrik? Jede einzelne von ihnen wollte gern Prostituierte sein und sie alle wirkten vernarrt in Wei Bo. Er schien etwas Besonderes zu haben. Und auch Cuilans Gedanken kreisten schließlich nur um ihn.

So aß sie zu Abend, spülte das Geschirr und stellte fest, dass es schon wieder dunkel geworden war. Unter ihrem Fenster tollten spielende Kinder herum, die Verkäufer der Garküchen boten lautstark ihre Nudelsuppen feil. Schon gingen die Straßenlaternen vor ihrem Wohnblock an, unter deren fahlem Licht sich kleine Grüppchen sammelten. Die Leute hockten dort jeden Abend, aber nicht etwa, um Mahjong zu spielen oder zu plaudern. Im Laufe der Jahre war Cuilan zu dem Schluss gekommen, dass die Leute sich einfach deshalb an den Straßenrand hockten, um nicht allein zu Hause zu sein. Sie saßen direkt gegenüber Cuilans Fenster, was sie nie sonderlich gestört hatte, sie nahm es hin, als wären sie Holzpfosten. Heute aber waren ihr die Blicke unangenehm. Sie schloss das Fenster und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.

Dort ordnete sie den Inhalt ihrer Geldbörse, mehr war nicht zu tun. Zum Schlafengehen war es ihr jedoch zu früh. Ihr Blick blieb an dem Bild einer schönen Frau an der Wand hängen, der Nahaufnahme einer ihrer Lieblingsschauspielerinnen. Es kam Cuilan vor, als beobachte die Frau sie, als wende sie sogar den Kopf nach ihr. Doch wenn sie zurückstarren wollte, traf sie ihren Blick nicht.

Sie war beinahe eingeschlafen, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss: Ob Herr You jede Einzelheit ihres Lebens kannte?

Wei Bo war schon lange nicht mehr heimlich bei Cuilan gewesen. Vor einer Weile war er auf einer Party einem ihrer ehemaligen Liebhaber begegnet. Der hatte, woher auch immer, von Wei Bos Geheimnis gewusst und war direkt auf ihn zugekommen, um über Cuilan zu reden. Sie sei »die Ausgeburt des Bösen«, hatte der Mann behauptet, und sowieso eine, der beim Anblick von Geld die Augen aus dem Kopf fielen. Von so einer solle er besser die Finger lassen, da würde nichts Gutes bei herauskommen. Wei Bo war entsetzt über dieses Geschwätz und glaubte dem Mann zunächst kein Wort. Doch dann zog der ehemalige Liebhaber einen schmutzigen, zerknitterten Brief aus der Tasche und hielt ihm ihn unter die Nase. Es war eindeutig Cuilans Handschrift. Sie forderte den Mann darin auf, ihr umgehend zwanzigtausend Yuan auf ihr Konto zu überweisen, als »Ausgleichszahlung für meine verlorene Jugend«, gefolgt von wüsten Drohungen.

Wei Bo nahm erst den Brief, dann den Umschlag genauer in Augenschein. Kein Zweifel, er stammte tatsächlich von Cuilan. Sein Herz zog sich zusammen. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Hast du dich deshalb von ihr getrennt?«, fragte Wei Bo.

»Nein, das hatte ich auch nie vor. Ich habe ihr das Geld überwiesen und wollte die Beziehung fortsetzen. Und was hat sie gemacht? Sie hat mir ein Paar Mafiosi auf den Hals gehetzt, die drohten, mich umzubringen.«

Wei Bo fiel auf, dass der Mann beim Reden nicht ganz bei der Sache war und sogar hin und wieder von einem Ohr zum anderen grinste. Ihm schien das Ganze gar nichts auszumachen. Ob er vielleicht geistesgestört war? Plötzlich packte er Wei Bos Hände. »Meinst du, es gibt noch Hoffnung für mich?«, fragte er. »Ich denke, du bist jemand, der das objektiv beurteilen kann. Darf ich noch hoffen? Ich bin bereit, ihr noch einmal zwanzigtausend zu schicken, wenn ich noch eine Chance habe.«

 

Seine Hände fühlten sich kalt und klebrig an. Wei Bo versuchte, sich von ihnen zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Nervös antwortete er: »Ich weiß es nicht. Wie soll ich das wissen? Das kannst du selbst am besten beurteilen. Ein Neffe von mir, aus der entfernten Verwandtschaft, hat einmal jemanden aus Liebe getötet. Vollkommen sinnlos, nicht wahr? Liebe ist etwas Wunderbares. Wie oft im Leben stößt einem schon so etwas Wunderbares zu, hm?«

Seine Antwort war nicht das, was der Exfreund hören wollte. Ungehalten ließ er seine Hände los.

Die Feier hatte im Haus eines Arbeitskollegen stattgefunden und vor der allgemeinen Geräuschkulisse hatte niemand von ihrem Gespräch Notiz genommen. Wei Bo wollte sich lieber woanders hinsetzen. Er stand auf, um ins Bad zu gehen. Doch als er zurückkam, war der Mann verschwunden. Erleichtert ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen. Als er den Kopf hob, bemerkte er, wie ein ungeladener Gast die Tür aufstieß. Es war der Antiquitätengutachter You. Wei Bo erkannte ihn sofort, obwohl sie sich kaum je begegnet waren. You kam geradewegs auf ihn zu und setzte sich ungebeten neben ihn. Zu Wei Bos Überraschung fing You augenblicklich an, auf ihn einzureden, als wären sie alte Bekannte.

»Das Geschäft mit der Liebe läuft schlecht in letzter Zeit, was? Alles geht den Bach runter. Das kennst du sicher. Jaja, die Frauen – ihnen haben wir alle Freuden dieser Welt zu verdanken, meinst du nicht auch?«

Herrn Yous aufdringliches Parfüm machte Wei Bo ganz benommen.

»Aber wo sind die Frauen? Nie sind sie zu haben! Sieh dich doch um, alles voller bezaubernder Weibsbilder, aber kaum ist die Party zu Ende, lösen sie sich in nichts auf. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und gucke aus dem Fenster. Ich wohne im zweiten Stock, von wo aus ich ganze Armeen von Frauen von West nach Ost vorbeimarschieren sehe, eine verführerischer als die andere. Niu Cuilan ist eine von ihnen.«

You entblößte beim Lachen sein abscheuliches Rindergebiss. Angewidert zog Wei Bo die Brauen zusammen.

Die Gegenwart dieses dandyhaften Scheusals war ihm so zuwider, dass er sich bald vom Gastgeber verabschiedete und zum Gehen anschickte. Herr You ließ den Kopf hängen, als sei er zutiefst gekränkt.

Nach jener Feier trennte sich Wei Bo von Cuilan. Mal kam ihm die Art und Weise, auf die er sich von ihr verabschiedet hatte, sehr rücksichtsvoll vor, dann wieder fand er es erbärmlich. Eins war ihm jedenfalls selbst nicht klar: War er nun wirklich von ihr getrennt oder nicht? Er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Frage sich nicht ohne Weiteres beantworten ließ, Cuilan war nicht die Sorte Frau, von der man sich so einfach trennen konnte. Seit ihrer ersten Begegnung war er sich dessen bewusst gewesen und genau deshalb wollte er sich schon lange von ihr trennen. Er horchte in sich hinein. Wei Bo betrachtete sich selbst als einen ungewöhnlichen Mann. Er mochte es, spielerisch seine Gefühle auf die Probe zu stellen.

Das Verhältnis zu seiner Ehefrau bestand in einer dieser stillen Absprachen, bei denen sich Eheleute gegenseitig zugestanden, Geheimnisse voreinander zu haben, während sie nach außen hin vorsichtig darum bemüht waren, eine harmonische Fassade zu wahren. Ihre beiden Söhne lebten nicht mehr zu Hause, sodass sich die Familie nur an Feiertagen sah, wenn die Söhne mit ihren Frauen und Kindern nach Hause kamen.

Für Wei Bo stand fest, dass auch seine Frau einer gründlichen Prüfung unterzogen werden musste, oder besser seine Ansichten über sie. Als Mittelschullehrerin war sie gut genug erzogen, um sich stets so diskret auszudrücken, dass man überhaupt nicht verstand, wovon sie redete. Sie waren noch sehr jung gewesen, als sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt und geheiratet hatten; sieben oder acht Jahre lang hatte diese Leidenschaft angehalten. Doch im Lauf der Zeit war ihre Beziehung merklich abgekühlt und sie wurden einander immer fremder. Wahrscheinlich, weil sie sich so nah waren.

Wei Bo konnte nicht genau sagen, wann er bemerkt hatte, wie beliebt er bei den Frauen war. In einer beliebigen Gruppe von Frauen, jungen wie alten, gab es immer welche, die sich von ihm angezogen fühlten. Wei Bo war sensibel und umsichtig genug, um sich auf diverse Affären einzulassen, immer darum bemüht, die Fassade zu wahren. Bislang war nie etwas davon nach außen gedrungen.

Niu Cuilan musste ungefähr seine vierte Romanze dieser Art gewesen sein. Er fand sie aufregend, doch wenn er sich fragte, warum eigentlich, wusste er keine Antwort. Er hatte an jenem Tag im Wellnesshotel ursprünglich nur seine junge Geliebte aufsuchen wollen, doch schließlich neue Beute gemacht. Unversehens hatte es ihn so erwischt, dass ihm ganz schummrig im Kopf wurde. Was folgte, bestätigte ihm nur noch, wie ganz und gar außergewöhnlich seine neue Flamme war. Seine junge Geliebte verbannte er vorerst einen ganzen Monat lang in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Wei Bo, Wei Bo, fragte er sich in der Zeit, in der er mit Cuilan zusammen war, ständig, warum schwirrt dir bloß so der Kopf? Als ob dein Leben nicht schon chaotisch genug wäre! Unbewusst überlegte er die ganze Zeit, wie er sich aus der Affäre ziehen könnte, um zu seinem alten Leben zurückzukehren.

Wei Bo saß zu Hause und erledigte die Buchführung wie üblich für seine beiden Jobs gleichzeitig. Nach einer Weile über den Bilanzen drifteten seine Gedanken ab. Er erinnerte sich an seine Beziehung mit Cuilan und ihr schmachvolles Ende. Schmachvoll war daran allein sein eigenes Verhalten, er konnte es nicht anders als durch und durch erbärmlich nennen. Sicher, die Sache mit ihrem Exfreund hatte ihn verwirrt, aber das war nicht der Grund für Wei Bos Bruch mit ihr gewesen. Er war nicht so leichtgläubig und sah sich außerstande, die Beziehung zwischen diesem Mann und Cuilan richtig einzuschätzen. Hatte er sich also von Cuilan trennen wollen, weil er sich ihr zu vertraut fühlte, ähnlich wie bei seiner Frau? Auch das allein konnte es nicht gewesen sein. Wenn er es sich recht überlegte, hatte vielleicht einfach wieder sein Hang zu einem hedonistischen Lebensstil die Oberhand gewonnen. Wei Bo hatte große Angst davor, verletzt zu werden. Als er sich einmal in den Arm geschnitten hatte, war er vor Angst ohnmächtig geworden. Er war ein Feigling, ein Weichei, der Typ Mann, in den die Frauen vernarrt waren.

Als Wei Bo seine Bilanzen abschloss, war es bereits dunkel geworden. Er wärmte sich die Reste seines Mittagessens auf, aß und machte gerade den Abwasch, als er eine Gestalt durch das Küchenfenster hereinspähen sah.

»Wer ist da?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ich bin’s, You vom Antiquitätenladen. Schnell, öffnen Sie mir, es ist dringend!«

You kam herein und setzte sich auf einen Stuhl, ohne die Einladung abzuwarten. Er wirkte gehetzt.

»Ist Ihre Frau nicht zu Hause?«

»Nein. Was gibt es?« Wei Bo spürte sein Herz bis zum Hals klopfen.

»Darf ich fragen, Wei Bo, ob Sie immer noch eine Beziehung mit Niu Cuilan unterhalten? Ich weiß, dass Sie die Frage nicht beantworten wollen, aber ich kann Ihnen verraten, dass das gute Fräulein Cuilan sich längst als Prostituierte im Wellnesshotel verdingt hat. Das hat mir eine gute Freundin von ihr, die zufällig meine Geliebte ist, persönlich erzählt. Fräulein Cuilan habe gesagt, dass sie sich dort ein paar neue Sexualpraktiken aneignen will.«

Angewidert sah Wei Bo, wie der Mann sein bestialisches Gebiss entblößte.

»Meine Frau wird bald zurück sein«, sagte er.

You starrte ihn an, ging Richtung Tür und drehte sich von dort noch einmal zu Wei Bo um: »Die Welt ist ein einziges Chaos! Frauen verschwinden wie nichts von der Bildfläche. Geht man nachts aus, ist alles voller schwarzer Krähen!«

Er trat hinaus in die Dunkelheit. Die Küche war wieder so still, als wäre er nie da gewesen.

Wei Bo dachte nach. Wer war dieser Kerl namens You, und warum biss er sich so an ihm fest? Zugegeben, er hatte haarsträubende Geschichten anzubieten, vielleicht waren es aber einfach nur Lügen. Eins war klar: You wusste von Wei Bos Affäre mit Cuilan und hatte ein wachsames Auge auf ihn. War vielleicht auch er einer von Cuilans Liebhabern?

Er hatte diesen Mann erst gestern wiedergesehen. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, noch vor den Toren der Fabrik, hatte er beobachtet, wie eine Frau um die vierzig einen Mann zu Boden schlug, ihn trat und dann davoneilte. Wei Bo war zu ihm hingegangen. Es war Herr You, der seine kaputte Brille von der Straße auflas, sie vorsichtig aufsetzte und zitternd auf die Beine kam. Es sollte ihm kaum möglich gewesen sein, Wei Bo durch das zerbrochene Brillenglas zu erkennen. Nervös blickte er sich nach allen Seiten um, klopfte sich den Staub von Jacke und Hose und verschwand schleunigst im nächsten Friseursalon. Neugierig stahl sich Wei Bo neben die Tür, um zu lauschen. Lautes Lachen drang aus dem Geschäft, in dem Herr You mit der Inhaberin schäkerte.