GUARDIANS - Das Vermächtnis

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GUARDIANS - Das Vermächtnis
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Caledonia Fan

GUARDIANS

Band 1

- Das Vermächtnis -

ÜBER DAS BUCH

Ein englischer Lord mit einem feudalen Anwesen.

Ein Internat mit außergewöhnlichen Schülern.

Eine Entführung mit weitreichenden Folgen.

Als Ahmad schwer verletzt nach einer Rettungsmission heimkehrt, sind die anderen Guardians fassungslos. Wieso sind seine außergewöhnlichen Gaben ver­schwunden? Wer waren die Fremden in dem alten Schloss im Wald? Welches Geheimnis verbirgt der Schulleiter? Und was hat es eigentlich mit dem jüngsten Internatsbewohner auf sich?

Die Suche nach Antworten befördert ein dunkles Kapitel aus der Vergangenheit ans Licht und setzt eine Kette schicksalhafter Ereignisse in Gang, welche die jungen Leute an ihre Grenzen und in tödliche Gefahr bringt ...

Für die Kinder

Für Imara und Tamira.

Für Tanyel.

Für Orell.

Und für Ahmad.

EPILOG

23. Juni 2015

Liebe Mum, lieber Dad,

zuerst sollt ihr wissen, dass es mir leidtut. Wenn ihr diesen Brief in den Händen haltet und lest, dann habt ihr schon erfahren, dass ich nicht mehr am Leben bin.

Ich bedaure sehr, euch diesen Schmerz zuzufügen. Aber ich bedaure nicht, was ich getan habe.

Und ich will, dass ihr versteht, warum ich es getan habe.

Ihr erinnert euch bestimmt noch gut an den Tag in meiner Grundschulzeit, der alles veränderte. Der Tag, als ihr entdeckt habt, dass ich eine besondere Fähigkeit habe. Ich weiß noch genau, wie entsetzt ihr damals wart. Ihr hattet ernsthaft überlegt, mich nicht mehr zur Schule zu schicken, weil ihr Angst um mich hattet. "Erzähle niemals jemandem davon!", das habt ihr mir eingeschärft. Immer wieder. Dabei war es so toll, was ich bewirken konnte. In meiner Gegenwart hörten andere auf, zu streiten. Einfach weil ich es wollte. Und es war ein großartiges Gefühl, das zu bewirken. Ich war ein Kind und ich verstand eure Sorge nicht. Doch heute weiß ich, dass manchmal Kinder, die irgendetwas Besonderes bewirken konnten, spurlos verschwanden und nie wieder auftauchten.

Mit diesen Zeilen will ich euch unbedingt nochmal danke sagen, dass ihr Lord Tariq nachgegeben habt, als er damals kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag bei uns zu Hause auftauchte mit seinem Angebot, mich mit nach England zu nehmen. Ich weiß, dass euch diese Entscheidung sehr schwergefallen ist.

Als ich dann mit fünfzehn hierher kam an das Internat, war ich einfach nur total happy. Ja, es war am Anfang schwer, die Weiten der texanischen Prärie gegen das verknöcherte England einzutauschen, doch irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt. Schneller als gedacht sogar.

Der Unterricht hier ist toll. Nicht der am College in der Stadt, der Unterricht hier an der Schule. Jetzt hat Tamira mich gelehrt, meine Fähigkeit viel effektiver und vor allem schneller anzuwenden und die Hypnose gezielt und bewusst einzusetzen. Inzwischen schaffe ich es in Sekundenschnelle, bei anderen Leuten Aggressionen abzubauen. Lord Tariq ist wirklich zufrieden mit mir und ich finde es einfach nur cool.

Er beschäftigt da so eine kleine besondere Gruppe, die sich um Angelegenheiten kümmert, bei denen die Polizei keine Handhabe hat. Oder keine Beweise. Oder so, na, ihr wisst schon. Auf jeden Fall eine geheime Organisation. Bisher waren nur zwei Mitglieder dabei, Sadik und sein Bruder Gazanfer. Sie sind Türken und wahrscheinlich waren sie mal Soldaten, vielleicht sogar bei einer Spezialeinheit. Das weiß ich aber nicht genau. Fest steht: Beide sind perfekte Kämpfer, ob mit oder ohne Waffe.

Naja, jedenfalls wollte ich unbedingt bei ihnen mitmachen. Lord Tariq erlaubte es erst nicht, ehrlich. Ich habe ihn beschwatzt und Senad und Shujaa, meine Mitschüler, haben mir geholfen. Sie wollten nämlich auch.

Es hat eine Weile gedauert, bis er sich einverstanden erklärt hat, dass Sadik und Gaz uns einiges über Kampfkünste beibringen dürfen. Ohne Waffe am Anfang. Später übten wir mit Holzschlagstöcken. Mann, was haben wir trainiert ...

Irgendwann mal reichte uns das aber nicht mehr. Wir wollten dabei sein, wenn Sadik und Gaz einen Auftrag erledigten.

Ihr müsst mir glauben, dass Lord Tariq nicht begeistert war von der Idee. Er hat uns immer wieder abtreten lassen, wenn wir ihn gefragt haben. Meinte, wir wären zu jung und deshalb wäre Erlaubnis nötig und so andere Sachen.

Tja, uns war klar, dass ihr das nie erlauben würdet. Wir versuchten es noch einmal, als wir alle drei sechzehn waren.

Und da hat er nachgegeben. Wir mussten letzte Woche eine Art Prüfung bei Sadik ablegen, in Selbstverteidigung und im Nahkampf. Und als wir bestanden hatten, durften wir dabei sein. Vor unserem allerersten Einsatz musste jeder von uns einen Brief an die Eltern schreiben mit einer Erklärung, falls uns mal was passiert. Die findet ihr ganz am Schluss, das ist der Text in Druckbuchstaben.

Ich hoffe, die Formulierung ist so okay. Ich will auf keinen Fall, dass Lord Tariq ins Gefängnis muss, wenn mir was passiert. Er sagt zwar, bei einem Einsatz wäre noch nie jemand verletzt oder gar getötet worden, aber man könne nie wissen. Er ist sich auch nicht sicher, ob der Brief überhaupt ausreichen wird, um ihn zu entlasten. Doch ich sage es noch einmal, Mum, Dad, ich wollte das unbedingt. Ich hätte Sadik und Gaz auch ohne seine Erlaubnis begleitet.

Tja und jetzt sind wir zu fünft und wir nennen uns Guardians. Ich hoffe, mit Shujaa und Senad zusammen die beiden unterstützen zu können. Ihr könnt stolz auf mich sein.

Da ich nicht weiß, wann ihr diese Zeilen erhalten werdet, will ich euch noch sagen, dass ich mich noch nie auf etwas so sehr gefreut habe wie auf meinen ersten Einsatz. Und ich hoffe, dass ihr diesen Brief nie, nie, nie öffnen müsst. Wenn ich achtzehn sein werde, gibt Lord Tariq ihn mir zurück, das hat er fest versprochen. Denn dann werde ich euch endlich erzählen können, was ich Tolles mache. Ich bin euch so dankbar, dass ich hier sein darf und verspreche, gut auf mich aufzupassen.

Ich liebe euch.

Euer Sohn Orell

ICH ERKLÄRE HIERMIT, DASS MEINE ENTSCHEIDUNG, DEN GUARDIANS BEIZUTRETEN, AUS FREIEM WILLEN GESCHAH.

TARIQ GENERA LORD HENLEY HAT ZU KEINER ZEIT DRUCK AUF MICH AUSGEÜBT NOCH ANDERE UNLAUTERE MITTEL ANGEWANDT, UM MICH DAHINGEHEND ZU BEEINFLUSSEN.

ICH WURDE WIEDERHOLT DARAUF HINGEWIESEN, DASS DIE Unternehmungen DER GUARDIANS NICHT IMMER GESETZESKONFORM SIND. MIR IST AUSSERDEM BEKANNT, DASS ICH BIS Zur Vollendung MEINEs 18. LEBENSJAHR KEINE WAFFE TRAGEN DARF UND AUCH DANACH NUR, wenn ich im Besitz eines gültigen WAFFENSCHEINes bin.

ICH ERKLÄRE, DASS ICH ES BEWUSST unterliess, MEINE ELTERN über dies alles IN KENNTNIS ZU SETZEN UND AUCH niemandem sonst ERLAUBT HABE, DIES ZU TUN.

HIERMIT ENTBINDE ICH TARIQ GENERA LORD HENLEY FÜR DEN FALL MEINES TODES VON JEDER VERANTWORTUNG FÜR DAS, WAS MIR ZUGESTOSSEN IST.

ES WAR MEIN EIGENER, FREIER WILLE.

Orell Banks

Darach Manor, 23. Juni 2015

~~~ TAG 1 ~~~

Dienstag, 20:00 Uhr

Er musste das Bewusstsein verloren haben, denn als er verwirrt die Augen aufschlug, fand er sich auf dem Boden liegend. Auf kaltem, nacktem Steinboden.

Während seine Fingerspitzen tastend über die Steine glitten und eine Fuge nachfuhren, fiel ihm alles wieder ein. Er war in dem alten, verlassenen Schloss. Finsternis umgab ihn, nur am Ende des Korridors schimmerte Tageslicht. Es herrschte völlige Stille.

Die rechte Schulter schmerzte höllisch, und als er hin fasste, sog er zischend die Luft ein. Er versuchte, sich aufzurichten, schaffte es in eine halb sitzende Position und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf analysierte er seine Lage.

Mato Rayan, der Feigling, den er in diesen lichtlosen Gang verfolgt hatte, war wohl inzwischen auf und davon. Uneinholbar für ihn.

Es war ein Risiko gewesen, ihm blindlings hinterher zu stolpern, ohne zu wissen, was ihn in dem schwarzen Korridor erwartete. Da er seine Rechte nicht benutzen konnte, waren ihm nur zwei Möglichkeiten geblieben. Die eine war, sich entweder mit der Pistole in der Hand in der Dunkelheit weiterzutasten, die andere, unbewaffnet und mit Handy-Taschenlampe ausgerüstet zu riskieren, dem Gegner in die Arme zu laufen. Schließlich hätte Rayan ihm auflauern oder zurückkommen können, um zu vollenden, was er vorhin begonnen hatte. Die zweite Variante war ihm deshalb sicherer erschienen und er hatte seine Waffe ins Halfter zurückgeschoben und das Telefon hervorgeholt.

Schon nach wenigen Schritten musste er wegen Schwäche und Schwindel die Verfolgung abbrechen. Seine Knie gaben nach und knickten ein. Das Handy war den kraftlosen Fingern entglitten und sein Bewusstsein von alles verschlingender Schwärze ausgelöscht worden.

In Gedanken stieß er einen Fluch aus und hieb hilflos mit der Faust auf den Boden. Er hatte Rayan fast gehabt! So nahe dran und doch war ihm der Dreckskerl entwischt.

Er seufzte. Yonas hatte den Mann unbewusst und ungewollt in die Flucht geschlagen. Aber die Hauptsache war, dass es dem Jungen gut ging. Sie hatten ihn unverletzt befreien können.

Das war das Wichtigste für ihn. Um Rayan musste er sich später kümmern, denn es gab eine offene Rechnung zwischen ihnen.

Argwöhnisch sah er sich um. Es war totenstill. Hastig griff er nach dem Handy. Die Lampe leuchtete noch, allerdings war der Akku schwach. Er wusste nicht, wie lange er hier gelegen hatte. Einen Augenblick lang musterte er die Pistole im Waffenholster an seiner Seite. Sie war nutzlos, denn mit links war er ein lausiger Schütze. Und sein furchteinflößen­des schwarzes Kampfmesser lag irgendwo in der großen Halle, dort, wo es ihm von La'ith aus der Hand geschlagen worden war.

 

La'ith. Er hatte ihn wiedergesehen, nach so vielen Jahren. Endlich. Doch es war, als hätte er einem Fremden gegenübergestanden. Ein Blick in seine Augen hatte genügt, um zu erkennen, auf wessen Seite sein Bruder heute stand.

Er rief sich zur Ordnung. In diesem Moment konnte er nichts daran ändern. Er musste hier raus. Aber noch immer fühlte er sich unsagbar kraftlos. Die Wunde an der Schulter blutete unvermindert weiter. Das war besorgniserregend. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Und das erschreckte ihn, denn das war nicht das, was Yonas' Vater ihm damals angekündigt hatte für den Fall, dass er den Jungen einmal berühren musste.

Vorhin hatte er es tun müssen. Und etwas in ihm war dadurch verändert worden. Hätte er den Kontakt mit seinem Schützling nur ein wenig länger aufrechterhalten, wäre er jetzt vielleicht tot. Es war knapp gewesen, das hatte er deutlich gemerkt. Diese lähmende Schwäche, das seltsame Kribbeln - beides konnte er immer noch in Armen und Beinen wahrnehmen.

Entschlossen stemmte er sich hoch und kam auf die Füße. Unter den Fingern der linken Hand, mit der er sich beim Gehen an der Wand abstützte, fühlte er losen Putz, der bei seiner Berührung zu Boden rieselte. Langsam ging er auf das Viereck aus Tageslicht zu, bis er wieder in die große Halle trat, aus der er gekommen war.

Die tiefstehende Abendsonne warf goldenes Licht durch die hohen, mit Spinnweben verhangenen Fenster. Einen Augenblick blieb er stehen und lauschte. Es war niemand mehr da. Trotzdem bemühte er sich, keinen Laut zu verursachen, während er quer durch den riesigen Saal auf die gegenüberliegende Doppeltür zulief. Nur noch durch den Gang und er war am oberen Ende der breiten Steintreppe angekommen, die hinab ins Foyer führte. Das zunehmende Schwindelgefühl ließ die Stufen vor seinen Augen tanzen, als er langsam hinabschritt.

Vor Anstrengung und Schmerz mit den Zähnen knirschend öffnete er einen der mächtigen Türflügel des Eingangspor­tals und musste blinzeln. Die Strahlen der untergehenden Sonne blendeten ihn.

Ein paar dürre Blätter vom letzten Herbst wehten in die Vorhalle. Vor ihm lag das verwilderte Grundstück mit dem Springbrunnen und der halb zugewachsenen Auffahrt, die sich bis zum Tor hinunterschlängelte.

Sein Auto stand draußen vor dem Tor, bis dahin musste er noch laufen. Und dabei war er nicht einmal sicher, ob er mit der verletzten Schulter fahren konnte. Jede Bewegung mit dem rechten Arm ließ ihn nach Luft schnappen. Die Schmerzen raubten ihm die Kraft und machten es ihm unmöglich, klar zu denken.

Er hatte das steinerne Geländer der Freitreppe gerade erreicht, da begannen seine Knie erneut zu zittern. Die Umgebung fing wieder an zu schwanken und sein Blickfeld engte sich ein. Vor den Augen wogten schwarze Schlieren, die ihm die Sicht trübten. In den Ohren rauschte es zunehmend, die Treppenstufen rasten auf ihn zu … und …

Ein einzelner, leiser Piepton holte ihn zurück in die Realität. Als er ihn gleich darauf ein zweites Mal hörte, schlug er die Augen auf.

Es war dunkel geworden. Dichte Wolken trieben über den Himmel und ließen den Mond nur ab und zu hindurch­scheinen.

Der Ton wiederholte sich nicht noch einmal und langsam drang die Erkenntnis in sein benebeltes Hirn, dass er das Handy gehört hatte. Nachdem die matt leuchtende Taschen­lampe es vorhin schon ankündigte, war der Akku nun wohl komplett leer.

Erst nach zwei erfolglosen Versuchen schaffte er es, sich aufzusetzen. Ein Blick zurück ließ ihn erkennen, dass er die ganze lange Treppe heruntergerollt war. Dabei musste er heftig mit dem Kopf angeschlagen sein, denn sein Schädel dröhnte fürchterlich. Das Atmen verursachte starkes Stechen im Brustkorb. Er hustete kraftlos, während er mit Mühe auf die Füße kam und sich auf dem Mauersims niederließ, der die breite Freitreppe einfasste.

Selber zu fahren schaffte er jetzt nicht mehr und das Handy war leer. Aber er brauchte Hilfe.

Die letzten Chancen, welche herbeizurufen, waren seine telepathische Gabe und Trajan. Der Siebzehnjährige konnte ihn als Einziger von den Guardians hören und den Chef informieren. Und der würde jemanden herschicken. Hoffentlich, denn die Wunde an der Schulter blutete seltsamerweise immer noch stark. Das Shirt klebte klamm auf der Haut an Brust und Rücken.

Eine Weile wartete er ungeduldig, doch Trajan antwortete nicht. Erneut rief er den Kameraden, aber es kam keine Antwort.

Also blieb jetzt bloß noch der Weg zum Auto. Wenn er das Handy an die Zündung anschloss, konnte er auch mit leerem Akku telefonieren. Doch als seine Linke in die Brusttasche des Mantels griff, stellte er bestürzt fest, dass es nicht da war. Wahrscheinlich hatte er es bei dem Sturz auf der Treppe verloren.

Ein Fluch entschlüpfte ihm. Es lag ganz in der Nähe, er hatte vorhin den Piepton gehört. Suchend schaute er sich um, doch es war zu finster. Ohne Licht sah er es nicht. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder und tastete mit der Linken blind umher, musste aber aufgeben, denn er bekam keine Luft und der Schmerz in den Rippen ließ ihn ächzen.

Resigniert brach er die Suche ab und kam mühsam wieder auf die Beine.

Er war auf sich gestellt. Niemand würde ihm helfen, er musste es zu Fuß bis nach Darach Manor schaffen. Und das schnell, denn die energetische Barriere, die er selber rund um das Anwesen errichtet hatte, war heute Abend verschwunden. Der Landsitz und damit das Hauptquartier der Guardians war schutzlos und ihr Chef hatte keine Ahnung davon. Wenn Rayan die beiden Wagen mit den Kameraden auf dem Heimweg verfolgen ließ, befand er sich mit seinen Leuten auf direktem Weg dorthin. Oder er war schon dort. Die herkömmliche Alarmanlage würde ihn nicht aufhalten. Der Mann war ein Energiewandler. Eine elektrische Anlage bildete kein Hindernis für die Fähigkeiten dieses Irren. Und was in seinem Kopf vor sich ging, konnte niemand wissen. Darach Manor war in Gefahr. Und in dem alten Gemäuer befand sich nicht nur die geheime Zentrale der Guardians, sondern auch die Schule und das Internat für Jugendliche mit besonderen Begabungen.

Erneut rief er Trajan. Noch einmal. Und ein drittes Mal. Es blieb still.

In nur zeitweise von Mondlicht erhellten Finsternis machte er sich auf den Weg. Die Auffahrt des Schlosses war lang und er kam langsam voran. Es schien, als würden Efeu und Brombeerranken nach seinen Füßen greifen, um ihn zu Fall zu bringen. Immer wieder drehte er sich nervös um in der Erwartung, einen der Gegner von vorhin oder La'ith hinter sich zu entdecken. Doch niemand behelligte ihn.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte das schmiedeeiserne Tor vor ihm auf, das verrostet und schief in den Angeln hing. Er schob sich hindurch und blieb unschlüssig stehen. Die ehemalige Zufahrtsstraße war der sichere Weg. Aber auch der längere, der sehr viel längere. Wenn er sich hingegen quer durch die Büsche schlug, war er in einer halben Stunde am Landsitz.

Doch obwohl ihn niemand finden würde, falls er nicht weiterkonnte, entschied er sich für den Fußmarsch durch den Wald.

Anfangs kam er gut voran. Aber immer öfter musste er stehenbleiben, sich an einem Baum festhalten und warten, bis sein Sichtfeld aufhörte sich zu bewegen.

Einmal hatte er den Eindruck, dass er verfolgt wurde. Er glaubte, ein leises Knacken hinter sich vernommen zu haben. Alarmiert hielt er an, um zu lauschen, doch das Einzige, was er hörte, waren sein dröhnender Herzschlag und sein abgehackter, keuchender Atem. Sonst war alles still. Er musste sich getäuscht haben.

Unermüdlich versuchte er, Trajan zu erreichen. Es war umsonst. Wahrscheinlich schlief der Guardian bereits.

Das Knacken hatte sich nicht wiederholt. Trotzdem war da ein Gefühl, dass er beobachtet wurde. Immer wieder flog sein Blick zurück und hetzte nervös zwischen den schwarzen Silhouetten der Bäume hin und her, aber es war nichts zu sehen.

Mühsam zwang er sich vorwärts. Durst quälte ihn und er bekam keine Luft. Er fror und schwitzte gleichermaßen. Es gab keinen erkennbaren Weg durch das Dickicht. Die Wolken ließen das Mondlicht nur ab und zu für ein paar Sekunden durch und es reichte nicht aus, um Hindernisse rechtzeitig bemerken zu können. Er hatte zunehmend Probleme, scharf zu sehen. Immer wieder verschwamm seine Sicht kurz und die Schatten mutierten zu sich bewegenden Gestalten, die nach ihm griffen. Büsche zerrten an seinem Mantel, ließen den Schmerz in der Schulter erneut aufflammen und bis in den Nacken schießen. Ungehindert peitschten ihm Zweige ins Gesicht. Er konnte sie nicht beiseiteschieben, weil er mit der linken Hand den rechten Arm stützte.

Zum Glück war er bald da. Die Hütte am Rand der kleinen Lichtung musste jeden Moment zwischen den Bäumen auftauchen. Mechanisch wie eine Aufziehpuppe stolperte er weiter.

Endlich.

Als hätte die Kraft nur bis zu diesem Punkt gereicht, brach er an der Grundstücksgrenze von Darach Manor in die Knie und fiel ins Gras. Er war nicht in der Lage, den Sturz abzufangen, und die Erschütterung des Aufschlages peitschte neuen Schmerz durch sein getrübtes Bewusstsein. Der Griff der Pistole bohrte sich dabei in die verletzten Rippen und ließ ihn nach Luft schnappen. Unbeholfen versuchte er mit der Linken, den Verschluss zu lösen, und schaffte es mit viel Anstrengung, die Waffe aus dem Halfter zu zerren. Atemlos keuchend und mit zugekniffenen Lidern blieb er liegen.

Seine Kraft war aufgebraucht. Er kam nicht wieder auf die Füße und auch die Augen konnte er nicht mehr öffnen. Nach wenigen Momenten schon kroch die lähmende Kälte des Bodens in seine Glieder. Er würde hier erfrieren ...

Noch einmal versuchte er, Kontakt zu Trajan herzustellen, aber es kam keine Antwort. Undeutlich merkte er, wie er erneut weg driftete.

Als der blaue Guardian endlich antwortete, hörte er es nicht mehr.

Dienstag, 22:30 Uhr

"Hat sich Ahmad bei einem von euch gemeldet?"

Die Frage ließ das aufgeregte Durcheinanderreden der acht Guardians, die im Speisezimmer des alten Landsitzes trotz der späten Stunde noch am Tisch saßen, kurz verstummen. Ihr Chef stand in der offenen Tür und wartete auf eine Antwort. Aber alles, was er bekam, war Kopfschüt­teln. Besorgt furchte er die Stirn.

"Hat er denn noch nicht angerufen?"

Die Frage war von Hennak gekommen. Der blonde Teenager wollte sie normal klingen lassen, doch er konnte einen leicht gehässigen Unterton nicht unterdrücken.

Jetzt war es Tariq, der den Kopf schüttelte. "Bitte gebt mir Bescheid, wenn er sich bei einem von euch melden sollte", meinte er und drehte sich um.

Acht Augenpaare schauten ihm verwundert nach, als er zurück in das Foyer ging. Ihr Chef war der Inbegriff eines englischen Lords. Obwohl er dadurch zeitweise wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten erschien, zählte er noch keine vierzig Jahre. Seine sparsamen Bewegungen wirkten hoheitsvoll und die kerzengerade Haltung unterstrich den Eindruck noch, genauso wie die schmale Nase, die hohe Stirn und der akkurat gestutzte Vollbart. Einzig die bis in den Nacken reichenden welligen, braunen Haare passten nicht zum Gesamtbild.

"Was soll die Frage?", murmelte Hennak. "Ahmad bleibt immer zurück, wenn wir nach Hause fahren, das weiß Tariq doch." Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch. "Dafür hat er unserem ach so perfekten Spurenbeseitiger schließlich ein eigenes Auto zur Verfügung gestellt", brummte er. Entrüstung und Neid sprachen aus den ärgerlichen Worten des blonden Guardians. "Ich weiß nicht, wo der Einzelgänger ist und auch nicht, was er macht. Ist mir auch egal."

"Dieser ach so perfekte Spurenbeseitiger ist wichtig!", bemerkte Shujaa, sein breitschultriger Teamgefährte mit der tiefbraunen Hautfarbe, der neben ihm saß. "Und er ist mindestens genauso gründlich wie du bei der morgendlichen Schönheitspflege für dein Gesicht."

Besagtes Gesicht verdüsterte sich vor Ärger, als Hennak den Kopf wandte und den Sprecher anstarrte. "Ah, noch einer vom Ahmad-Fanclub? Geht doch alle und küsst ihm die Schuhe! Oder schwenkt Fähnchen, wenn er am Tor vorfährt!"

"Hört auf, ihr zwei!", brummte Trajan vorwurfsvoll. "Hennak, das Thema Auto für Ahmad haben wir schon zur Genüge durchgekaut. Ich kann's nicht mehr hören. Du bist siebzehn! Was willst du mit einem eigenen Auto?" Der durchtrainierte Guardian mit den zerzausten dunkelbraunen Haaren und den braunen Augen saß ihm gegenüber und sah nicht einmal auf, als er den Freund vom Team Rot rügte. Er trug wie alle anderen einen schwarzen Overall. Die Weste, die ein blaues Dreieck auf dem Ärmel hatte, hing auf der Stuhllehne.

 

Tiana, seine ein Jahr ältere Schwester, hob den Kopf und runzelte ebenfalls missbilligend die Stirn über Hennaks letzte Bemerkung. "Aber Tariq hat recht. Es ist wirklich schon ziemlich spät. So lange braucht Ahmad doch sonst nicht."

Ihr Bruder nickte sinnend.

"Aber wenn er zurückkehrt, erfahren wir es sowieso nicht", fuhr sie mit leisem Bedauern in der Stimme fort. "Er kommt ja wegen der Barriere nie aufs Grundstück, geschweige denn herein ins Haus." Ein trauriger Ausdruck schlich sich in ihre grünen Augen. Ihrer Meinung nach gehörte Ahmad mit an diesen Tisch. Nicht nur das: Sie wünschte sich, dass er mit ihnen zusammen hier auf dem Landsitz lebte. Alle Guardians wären so unter einem Dach.

Doch es war sinnlos, sich schon wieder darüber Gedanken zu machen. Es ließ sich nicht ändern. Die Barriere war zu wichtig und deshalb musste Ahmad draußen bleiben.

Bedrückt schob sie eine vorwitzige Strähne ihrer langen, kastanienbraunen Haare hinter das Ohr und überlegte, ob sie als Erste aufstehen und zu Bett gehen sollte. Sie war müde, doch sie genoss diese Runde hier im Speisezimmer.

Yonas, einer ihrer Mitschüler, war nach der Schule in der Stadt von einem Unbekannten verschleppt worden. Ahmad, sechs der acht Guardians - sie selbst eingeschlossen - und ihr Chef hatten ihn vorhin unverletzt befreien und aus dem alten Schloss im Wald zurückholen können. Jetzt schlief er oben in seinem Zimmer und sie saßen hier und redeten über das zurückliegende Ereignis.

Die Nachricht hatte am Nachmittag eingeschlagen wie eine Bombe und allen Rätsel aufgegeben. Wer war der Entführer und warum war Yonas das Ziel? Und wieso war auf der am Schulrucksack zurückgelassenen Notiz der Ort angegeben, an dem er wieder abgeholt werden sollte?

Fast ohne Vorbereitungszeit waren das rote, das blaue und das grüne Zweierteam mit Imara, ihrer Fahrerin, aufgebrochen und am Schloss zu Ahmad gestoßen, der sie dort erwartete. Sieben Guardians, um ihren jüngsten Mitbewohner zu befreien. Später war noch der Chef dazugekommen.

Jetzt, wo es vorbei war, zeigte sich bei allen die Erschöpfung. Und dass Hennak gereizt war, überraschte niemanden. Er mochte Ahmad einfach nicht.

Trotzdem zog Tiana nun die Augenbrauen zusammen wegen seiner abfälligen Äußerungen, denn jetzt übertrieb er es mit seiner unbegründeten Abneigung doch deutlich.

"Das ist wahr, er müsste mit hier bei uns sein", stimmte Trajan seiner Schwester zu, mit der er das blaue Team der Guardians bildete. "Wir erfahren ja sonst auch nicht, wann er nach den Einsätzen zurückkommt. Er ruft immer nur beim Chef an." Er wollte nach seinem Glas greifen, hielt aber unvermutet mit der Hand in der Luft inne.

Tiana warf ihm einen verwunderten Blick zu.

Trajan hatte die Stirn gefurcht und die Augen geschlossen, riss sie gleich darauf verdutzt wieder auf und schaute seine Schwester einen Augenblick irritiert an. Langsam stand er auf. Er war einen ganzen Kopf größer als sie und sie war gezwungen, zu ihm aufzublicken.

"Ich muss mal schnell zu Tariq", murmelte er.

"Was, jetzt?", wunderte sich Tiana. "Zum Chef? Warum?"

"Später." Er machte eine abwehrende Handbewegung, nickte ihr kurz zu und verließ das Speisezimmer mit raschen Schritten.

Die anderen blieben verwundert zurück.

"Was hatte das denn zu bedeuten?", murmelte Hennaks Teamgefährte verwirrt.

"Pff, keine Ahnung", antwortete dieser. "Ahmad, Ahmad, immer nur Ahmad. Der Chef ist völlig fixiert auf ihn! Er beschließt nichts mehr, ohne vorher seine Meinung einzuholen. Wenn ihr mich fragt, hat er einen Narren an dem Kerl gefressen." Sein Gesicht zeigte einen fast verbitterten Ausdruck.

"Halt endlich die Klappe, Hennak!" Tiana hatte endgültig genug und funkelte ihn erbost an. "Du kannst doch bloß nicht ertragen, dass er besser ist als du, stimmt's?", setzte sie einen Ton schärfer hinzu und durchbohrte den roten Guardian mit einem Blick, der Bände sprach.

Die anderen Anwesenden zogen die Köpfe ein. Trajans zierliche Schwester war sonst eher sanft und still, aber wenn sie für jemanden kämpfen konnte, tat sie das mit einer Kraft, die man nicht von ihr erwartete. Und Hennaks unbegründete Abneigung gegenüber Ahmad war ihr schon lange ein Dorn im Auge. Seine letzte Bemerkung hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Das Ziel ihres zornigen Ausbruchs ließ sich jedoch nicht beeindrucken von ihrer vorwurfsvollen Miene.

"Jetzt schwärmst du auch noch für ihn?", knurrte er missmutig zurück und schob entschlossen sein kantiges Kinn vor. "Heirate ihn doch, wenn er dein Held ist! Ich frag mich bloß, was du an ihm findest."

Tiana klappte den Mund zu und starrte ihn verblüfft, ja fast erschrocken an. Einen Moment sah es so aus, als würde sie entweder aufspringen und wegrennen oder ihn ohrfeigen. Doch sie tat keines von beidem und der Blondschopf wetterte unbeeindruckt weiter.

"Der Typ ist ein Sonderling. Ständig so still und zurückhaltend. Man weiß nie, was er denkt. Niemals lacht er und Späße scheint er einfach nicht zu verstehen. Und ist dir mal aufgefallen, wie er mit Tariq redet?" Zustimmung suchend blickte er Shujaa an, als er die Frage stellte. "Das würde sich keiner von uns anmaßen."

Sein Teamgefährte, dessen tiefbraune Haut im Kerzenlicht schimmerte, verzog das Gesicht. "Lass mal gut sein, Hennak," murmelte er anstelle einer Antwort. Der neunzehnjährige Physikstudent warf einen besorgten Blick auf Tiana und versuchte dem drohenden Donnerwetter zuvorzukommen. Wie die anderen registrierte auch er die aufkommende Spannung im Raum. Hennak war dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden, und er merkte es nicht einmal. "Dass er nicht hier ist, ist allein seine Entscheidung. Du weißt genau wie wir, dass er nach diesem Gespräch mit Tariq damals die Barriere um das Grundstück und das Haus errichtet hat und es seitdem nicht mehr betreten konnte." Seine kräftigen Finger spielten mit dem Glas, auf das er versonnen schaute. "Wir können froh sein, dass er uns hilft. Auch wenn er sich immer noch nicht als richtiges Mitglied der Guardians betrachtet", meinte er eindringlich und jeder wusste, dass dies an Hennak gerichtet war, obwohl er 'wir' gesagt hatte. "Seine Kräfte sind unschätzbar wichtig für uns."

"Wir haben alle besondere Kräfte", grollte sein Team­ge­fährte. "Er ist nicht der Einzige. Und er ist nichts Besonderes."

Jetzt sprang Tiana auf. Ihr Stuhl kippte beinahe um, so rasch wurde er zurückgeschoben.

"Du bist ein solcher Idiot, Hennak!", fauchte sie erbost, marschierte zur Tür und verließ das Speisezimmer ohne ein weiteres Wort.

Shujaa verdrehte die Augen und stöhnte verhalten. "Du weißt, dass du Blödsinn redest, Hennak", hielt er seinem Teampartner vorwurfsvoll entgegen und warf ihm einen verdrossenen Blick zu. "Natürlich haben wir alle Gaben, aber er ist etwas Besonderes. Keiner von uns kann aus purer Energie Geschosse oder ein solches Wesen erschaffen wie Ahmad." Er seufzte, während er weiter gedankenverloren das Glas zwischen den Fingern drehte. "Tiana hat recht, wir haben ihm viel zu verdanken."

Das Thema schien erledigt. Die Atmosphäre entspannte sich merklich nach dieser Bemerkung, die damit ihren Zweck erfüllt hatte. Hennak musterte Shujaa kurz und zuckte mit den Schultern.

Ihre vier Gefährten atmeten auf. Die zwei grünen Guardians waren der Unterhaltung zwar aufmerksam, aber stumm gefolgt und das Team Gelb hatte sich ebenfalls nicht eingemischt.

Dienstag, 22:35 Uhr

Tariq Genera Viscount of Henley, der Leiter der Schule für Jugendliche mit außergewöhnlichen Begabungen und außerdem Chef der Organisation der Guardians, saß regungslos in seinem riesigen Arbeitszimmer im Erdgeschoss des ehrwürdigen und verwinkelten Landsitzes. Vor ihm stand sein unberührtes, kalt gewordenes Abendessen.