Neapel sehen und sterben

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Neapel sehen und sterben
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Neapel sehen und sterben

1  Lieber Leser,

2  1. Falo

3  2. Gelsomina

4  3. Simone

5  4. Vesuvius

6  5. Nero

7  6. Der Inspektor

8  7. Der Schwan

9  8. Carlos

10  9. Harry

11  10. Der Capitano

12  11. Das Krokodil

13  Der Autor

14  Von C. Harry Kahn

Lieber Leser,

sollten Sie nach einem Reiseführer für Neapel und Umgebung gesucht haben, dann haben Sie leider das falsche Buch gewählt, denn diese Geschichte spielt mitunter auch an Orten, die in den Führern gar nicht zu finden sind – und mit Personen, die nicht einmal Google kennt. Sie sind nicht aus dem wirklichen Leben gegriffen, weil ich mich nicht, wie manche meiner Kollegen, bis ans Ende meiner Tage vor der Mafia verstecken oder mit einer Polizeieskorte durchs Land ziehen möchte. Auch dokumentarische Informationen über Mafia, Ndragheta, Camorra und wie die Organisationen sonst noch heißen mögen erhalten Sie besser und zuverlässiger anderswo. Und dann gibt es ja noch all die Filme, Der Pate, Die Sopranos, Departed, und so weiter. Was Sie hier in Händen halten ist die Aufzeichnung meiner Erlebnisse, ein Gedächtnisprotokoll, wenn Sie so wollen, so wie ich die ober und unterirdischen Wege der Stadt damals erlebt, wie die Camorra und ich zu unser beider Leidwesen aneinander geraten sind. Nur mein Pech wollte es, dass ich in diesen Strudel grässlicher Ereignisse verwickelt wurde. Lassen Sie sich durch meinen Bericht auf keinen Fall von einem ausführlichen Besuch in dieser wunderbaren Stadt abhalten – aber lassen Sie Ihre Wertsachen doch lieber im Hotel.

Herzlichst, Ihr C. Harry Kahn

1. Falo

Das monotone Heulen der Motoren und das natternböse Zischen der Klimaanlage gehen mir so auf die Nerven, dass ich sie schon gar nicht mehr wahrnehme. Sie dringen auch nur sporadisch durch das Stimmengewirr, von dem ich umschlossen bin wie ein langsam schmelzendes Eiswürfelchen in einem großen Glas Ginger Ale. Schanghai liegt elf Lichtjahre von Vancouver entfernt, und genauso lange sitze ich auch schon angeschnallt in meinem viel zu engen Sessel. Diese Maschine dient, den Sitzen nach zu schließen, in ihrer Freizeit als fliegende Kindertagesstätte, nur sind die Kleinen auf diesem Flug alle zwischen achtzehn und achtzig. Das hindert sie in keiner Weise daran, sich über sechs und mehr Sitzreihen hinweg lautstark zu unterhalten und notgedrungen gegenseitig noch zu überschreien. Die Ansage aus dem Lautsprecher kommt nicht dagegen an, aber die blinkenden Leuchtzeichen fordern alle auf, die Sitzgurte anzulegen, die Rückenlehnen senkrecht zu stellen und alles Handgepäck dort zu verstauen, wo ein normal gewachsener Mensch eigentlich seine Füße unterbringen würde. Die elf Jahre neigen sich ihrem Ende zu.

Die Berührung mit der Wirklichkeit gerät etwas holperig, aber das Fahrgestell des hoffnungslos überladenen Fliegers hat noch einmal durchgehalten. Natürlich wartet keiner, "bis die Maschine völlig zum Stillstand kommt und die Anschnallzeichen erlöschen." Als könnten sie dadurch auch nur eine einzige Sekunde früher aussteigen und zur Belohnung ein wenig länger zusehen, wie die Koffer der anderen am Gepäckband vorüberziehen. Es ist erstaunlich, was alles aus den kleinen Ablagefächern über unseren Köpfen hervorquillt und den Ungeduldigen, die zwischen den Sitzreihen drängeln, um die Ohren schwingt. Ein Kinderfahrrad, notdürftig verpackt, wird auf dem jetzt leeren Sitz neben mir deponiert und zwingt mich beinahe, mit dem Kopf das Kabinenfenster zu durchstoßen. Zwei Reihen entfernt hätschelt ein dicker Mann einen Plastikbeutel mit noch halb lebendigen Hühnerteilen, die er natürlich in wenigen Minuten zur Beschlagnahme und Einäscherung abliefern wird. Auch andere haben sich mit heimischen Köstlichkeiten beladen, wohl wissend, dass die Einfuhr von Nahrungsmitteln strengstens verboten ist und törichterweise hoffend, dass sie dieses Mal auf einen blinden oder karitativ gesinnten Zöllner träfen.

Der Weg von der Flugzeugtür durch Tunnel, über Rolltreppen, endlose, verglaste Korridore erinnert an den klassischen Langen Marsch. Jener endete am Platz des Himmlischen Friedens, unserer an den Einlasspforten zum Geloben Land, bewacht von streng blickenden uniformierten Erzengeln. Kanadische Staatsbürger werden nach links hin ausgeschildert, alle weniger Privilegierten nach rechts. Ich mache mich auf eine unabsehbare Warteschlange gefasst, denn ich reise immer noch mit meinem britischen Pass und muss deshalb gemäß nordamerikanischen Sicherheitsstandards eingehend verhört werden, nach meinem Woher und Wohin, und warum ich überhaupt nach Kanada komme und ob ich verbotene Dinge mit mir führe. Nur Fingerabdrücke muss man hier noch nicht abgeben, anders als beim Großen Bruder weiter südlich.

Zu meiner Überraschung bin ich der einzige, der auf diesen Schalter zusteuert. Mein Erzengel schwingt kein Flammenschwert. Er ist eine ausgesprochen hübsche Asiatin, sie zieht meinen Pass durch den Computer, sagt "Welcome back, Mr. Watson", und die Einreiseformalitäten sind erledigt. Derweil reihen sich nebenan meine Mitpassagiere auf, in eben diesen langen Schlangen, wie ich sie gerade noch im Geiste vor mir sah. Das sind gar keine Chinesen, es sind dokumentechte Kanadier, vom ersten bis zum letzten. Sie haben sich nur verkleidet, vielleicht bekommen sie dann bei der Fluglinie einen Sondertarif.

Bis ich das Gepäckkarussell erreiche, poltern auch schon Koffer, Schachteln, Rucksäcke, aufgeplatzte Körbe aus dem Schacht. Meine Tasche vollführt noch einen kompletten Umlauf, ehe ich sie zu fassen kriege und mir über die Schulter hänge. Der Zollbeamte am Ausgang sieht mir wohl an den Augen an, dass ich weder Kokain noch Hühnerbeine schmuggle und lässt mich unbehelligt passieren.

Vor uns öffnen Geisterhände die Türen der hochnotpeinlichen Abfertigungshallen. Draußen, in der freien, niederträchtigen Welt, senken die Wartenden den starren Blick von den kleinen, hoch aufgehängten Monitoren. Stattdessen fixieren sie den letzten Abschnitt der Passage, wo die Ankömmlinge aus dem virtuellen in das reale Dasein treten, mit ihren hoch beladenen Gepäckkarren und überdimensionierten Hinterherziehkoffern, in roten Windjacken oder kurzärmligen Sommerhemden, aber immer und ausnahmslos ohne die so liebevoll um die halbe Welt geschleppten Hühnerbeine.

Die zwei Minuten, die es noch dauert, bis ich endlich das öffentliche Foyer erreiche, haben die freudige Erwartung auf Sallys Gesicht noch nicht verfliegen lassen. Es tut gut, nach all dem Tumult der letzten Woche und des überstandenen Fluges von einem lieben Menschen begrüßt zu werden.

"Uns're beiden Schatten sah'n wie einer aus", hätte Lala Anderson früher im Radio gesungen. Nur gibt es in einer Flughafenhalle keine Schatten, hier herrschen Licht und laufend frisch zubereiteter Sonnenschein. Diesseits der Sicherheitskontrollen ist die Welt heil und freundlich und sonst gar nichts.

"Du bist fast eine halbe Stunde zu früh", sagt sie noch in die Umarmung hinein. "Aber ich habe im Internet nachgesehen, und so waren wir rechtzeitig da." Als zwei getrennte Wesen bewegen wir uns zum Ausgang.

"Harry freut sich auch, dass er nicht warten muss", ergänzt Sally ihr Statement.

Ja, Harry freut sich beinahe so sehr wie Sally, auch wenn man ihn nicht in den Flughafen lässt. Aller Erziehung zum Trotz hüpft er voller Begeisterung aus dem Auto, zwingt einen hastigen Parkplatzsucher zu einer Notbremsung, springt an mir empor, bis er fast das Knie erreicht und juchzt vor Begeisterung in höchsten Tönen, die schon beinahe über der menschlichen Hörgrenze liegen. Auch Harry liebt mich, und jetzt fehlt mir zum vollendeten Glück nur eine Kleinigkeit.

"Sal, ich sterbe vor Hunger. Im Flugzeug gab es nur grünen Tee. Alle anderen wussten das und haben ihre getrockneten Fischhälften oder belegten Reiskuchen mitgebracht. Aber ich habe mich die letzten vierzehn Stunden nur von Magenknurren ernährt."

"Ich kann's hören, John", kichert sie. "Macdonald's oder White Spot?"

In Vancouver gibt es mehr Restaurants, Imbisslokale, Schnellcafés, Pizzabäckereien als der Vatikan Gebetsräume hat. Indische und thailändische, koreanische, japanische, chinesische, westliche, südliche, afrikanische und afghanische, mexikanische, griechische und italienische. Um abenteuerlich zu essen, braucht man hier kein Reisebüro. Aber für den schnellen Hunger haben wir unsere Stammlokale, aus gutem Grund. Die in der Verfassung vorgeschriebene Gleichbehandlung aller Individuen, ungeachtet ihrer Farbe oder Rasse, besitzt für kleine weiße Terrier keine Gültigkeit.

* * *

Die Hamburgerküche ist gleich um die Ecke, aber ich entscheide mich für White Spot, eine Viertelstunde stadteinwärts. Sollte ich vor Entkräftung niedersinken, kann Sally mich gleich an der Notaufnahme des Krankenhauses abliefern, das liegt direkt an unserem Weg. Wenn ich aber überlebe, können wir Harry im Rucksack mit uns nehmen und im Restaurant unter dem Tisch verstecken. Das Mittagsgeschäft ist schon vorbei, und die Chancen sind gut, dass wir den Tisch in der hinteren Ecke bekommen. Mit etwas Glück werden wir dann auch noch von Helga bedient, die Harry nicht als vollen Hund betrachtet und ihn gegen alle Vorschriften einfach ignoriert. "Ein Wasserl fürs Hunderl", wie wir es bei unserem Besuch in München hatten, gibt es aber mit Sicherheit nicht.

 

"Was mir immer noch im Kopf zu schaffen macht", sagt Sally, "das ist, dass du heute um fünf Uhr nachmittags von Schanghai abgeflogen bist, und jetzt ist es hier erst drei. Bist du jetzt tatsächlich mehrere Stunden jünger geworden?"

"Wie taktlos von dir, sieht man mir das nicht an? – Harry, sei ruhig, sonst setzt uns der Manager vor die Tür."

Harry ist unser kleiner, weißer Terrier. Er war eines Tages einfach da, direkt aus dem Hundewaisenhaus. Mein Freund David, der für einen Tierschutzverein arbeitet, ließ in bei mir zu Hause bitte nur für ein paar Stunden , weil er eine wichtige Besprechung hatte und der kleine, noch nicht einmal stubenreine Hund dabei gestört hätte. Die Besprechung muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn David vergaß in seiner Euphorie, Harry wieder abzuholen. Erst nach einigen Wochen rief er an und fragte scheinheilig, ob er den Kleinen jetzt zurücknehmen sollte. Ich habe den Hörer auf die Gabel geknallt, oder was man mit einem Telefon heutzutage eben macht. Mit David habe ich kein Wort mehr gesprochen, wenigstens für eine kleine Weile. Schließlich waren Harry und ich längst Freunde geworden, und als dann auch noch Sally zu uns stieß, wurden wir ein unzertrennliches und unschlagbares Trio. Gemeinsam überlebten wir Schuttlawinen, heranrasende UBahnen und was sonst böse Menschen sich noch ausdachten, um uns aus dem Wege zu schaffen. Dabei interessieren wir uns für nichts weniger als die Verbrechen dieser Welt, auch wenn wir schon einige Male in sie hineingeraten waren, wie in einen unverhofften Platzregen. Nun, damit ist Gott sei Dank Schluss, wir können uns wieder unserer Fotoarbeit, den Büchern, Blogs, Vorlesungen widmen und sorglos im Restaurant zu Nachmittag essen.

Die Spezialität des Tages ist ein Currygericht, aber ich habe fürs erste genug von Kleingeschnittenem mit Reis. "Lieber ein T-BONE-STEAK, Helga, beinahe durch, mit zwei gebackenen Kartoffeln und dem Üblichen dazu. Und danach vielleicht noch das Cordon Bleu, aber das entscheiden wir später." So sehr habe ich mich in diesen letzten Jahren an einheimische Gepflogenheiten gewöhnt, dass ich Kaffee als Getränk bestelle. Der ist auch nicht schlechter oder stärker als der grüne Tee, den ich die ganze Woche getrunken habe, und man bekommt so oft nachgeschenkt, wie man möchte. Sally begnügt sich mit einem Caesars Salad, dem faden Standardgericht für Figurbewusste. Harry bekommt in diesem Etablissement nichts, und er kennt das auch und protestiert nicht. Er ist vor allem froh, dass wir alle wieder beisammen sind.

In China hatte ich keine Zeit, mich auf dem Laufenden zu halten. Sally füllt die Lücken mit wenigen Sätzen. Das Wetter war schlecht, es hat pausenlos geregnet. Wie fast immer. Einer der zahllosen Minister (Kanada hat davon mehr als alle anderen G8-Länder zusammen genommen) ist in einem Nachtclub mit einer unbekannten und daher zweifellos zweifelhaften Dame gesichtet worden. Die Baufirma des olympischen Dorfes ist pleite, und die Stadt Vancouver muss all die Wohnungen auf eigene Kosten zu Ende bauen, was auch sie in den Bankrott treiben wird.

Mein Hunger war wohl eher eingebildet, denn nach der zweiten Ofenkartoffel mit Sauerrahm und Gartenkräutern verspüre ich keine Lust mehr auf ein weiteres Steak oder gar das Cordon Bleu. Aber irgend ein kleiner Nachtisch hat noch Platz, und eine dritte Tasse Kaffee. Da klingelt Sallys Handy. Ein paar schlichte Töne, die zu einer bekannten Melodie gehören, aber ich kann sie nicht einordnen.

"Hallo. – Gut, natürlich. Schön dich zu hören. Und dir? – O, das tut mir aber leid. – Der sitzt mir genau gegenüber. Warte, ich geb' ihn dir, tschüs! – Phil", sagt sie zu mir und streckt mir das verflixte Gerät entgegen.

Das Mobiltelefon ist eine Errungenschaft, der ich mich standhaft verweigere. Nichts auf der Welt kann so dringend sein, dass man mich deswegen auf der Stelle, in dieser Minute erreichen müsste, egal wie ich mich gerade fühle, wo ich mich gerade aufhalte, womit ich mich gerade beschäftige. Ich besitze keins, und ich lasse mich nur in seltenen Ausnahmefällen bewegen, eins zu benutzen. Inspektor Philip Marlowe ist ein guter Freund, aber nicht so gut, dass ich mit ihm über Handy sprechen müsste.

"Hallo, Phil, wir sitzen gerade im Restaurant. Ich ruf dich zurück, wenn wir daheim sind."

Er kennt meine Aversion und macht es kurz. Er kommt später bei uns vorbei, bringt Essen vom Chinesen mit, würde uns das passen? Sally nickt zustimmend. Also dann, sieben oder so, gleich nach der Arbeit.

Helga bekommt ein besonders gutes Trinkgeld, wegen der zweiten Kartoffel und des vielen nachgeschenkten Kaffees, und entfernt sich diskret, damit Harry unter dem Tisch wieder in den Rucksack kriechen kann. Sally fährt, und ich bin jetzt wach genug, ihr noch den letzten Tag in Schanghai zu beschreiben. Die Abenteuer davor, die Diskussionen, Missverständnisse, freundschaftlichen, opulenten Parties mit Essstäbchen und viel westlichem Alkohol, haben wir jeden Tag ausführlich am Telefon besprochen.

* * *

Es war eine intensive Arbeitswoche, pausenlose Gespräche mit Textern und Layoutern, Fotografen und Übersetzern, Managern und Leuten, deren Funktion mir die ganze Zeit unklar geblieben ist. Sally und ich haben mit unserem Buch einen globalen Bestseller geschaffen, und auch ein chinesischer Verlag wollte es nachdrucken. Für unseren Verleger und Freund, Robert "Robbie" Williams, ist das ein unverhoffter Glückstreffer, mit dem er seine dümpelnde Firma für lange Zeit wird über Wasser halten können.

Was eigentlich ein Fotoband über die Fußball-Weltmeisterschaft und die Deutschen im Sommer 2006 werden sollte, hatte sich fast ohne unser Zutun zu einem Krimi in Bildern entwickelt, in dem die Planung und der Fehlschlag eines unvorstellbar blutigen Anschlags von alQaida beschrieben und dokumentiert wird. In dem Stadion, wo das Endspiel stattfinden sollte, waren während der Renovierungsarbeiten Hunderte Bauelemente durch Blöcke aus Semtex oder sonst irgendeinem Sprengstoff ersetzt worden, alle raffiniert verdrahtet. Durch einen einzigen Anruf vom Mobiltelefon wollte der Attentäter sich selbst in die Luft jagen und dabei siebzigtausend Zuschauer, zweiundzwanzig Fußballer und mehrere Staatsoberhäupter mit auf die Reise nehmen. Harry hatte den Zündmechanismus in letzter Sekunde erschnüffelt, unten auf dem Rasen schnappten die "Blauen" aus Italien den "Blauen" aus Frankreich den Titel vor der Nase weg, und alle erfuhren erst aus der Zeitung, dass sie ohne unseren klugen Hund das Spiel nie zu Ende gebracht hätten.

Auch in China wollte man dieses Buch herausbringen, mit einigen Veränderungen, da die chinesische Nationalmannschaft keinen großen Auftritt in Deutschland bekam, aber immerhin an den Qualifikationsspielen teilgenommen hatte. Der Goldener-Drachen-Verlag hatte ganz offiziell die Rechte erworben, um an die Originalfotos heranzukommen. In China druckt man heutzutage keine Raubkopien mehr! Oder wenigstens nicht mehr so oft. Geplant ist eine Startauflage von 100.000, das wirft auch für uns ein recht angenehmes Honorar ab. Harry, der eigentliche Held der Geschichte, hat von all dem nichts, abgesehen von seinem Porträt auf zahlreichen Titelseiten und vielen zusätzlichen Streicheleinheiten

* * *

Es ist schön, wieder daheim zu sein. Ein Hotel mit vier oder fünf Sternen, ob in Schanghai oder Montevideo, hat sicher seine Annehmlichkeiten, aber irgend etwas fehlt immer. Hier lässt sich die Heizung nicht regulieren, dort findet man keinen Platz für die Zahnbürste oder der Polstersessel soll Bequemlichkeit vortäuschen, steht aber nur im Wege. Zu Hause passt alles. Es dauert eine Weile, bis ich den Inhalt meines Koffers auf Wäschekorb, Schrank und Schreibtisch verteilt habe. Harry ist keine große Hilfe, er findet, dass ich jetzt erst einmal ihn liebhaben müsste. Bis er draußen etwas hört. Phil Marlowe, sagt er und rennt hinunter zur Haustür. Es gibt diese Tonaufnahmen von Vogelstimmen, wo der Unterschied zwischen Balzgezwitscher und Alarmruf der Kohlmeise immer wieder vorgespielt pädagogisch aufbereitet wird. Harry besitzt ein viel umfangreicheres Vokabular als Kohlmeisen und Lachmöwen. Er kann sagen: Sally kommt oder: ich habe Durst. Dreißig solcher Ausdrücke kennt er bestimmt, und Sally und ich verstehen sie.

Auch bei einem Privatbesuch klopft Phil an die Tür wie ein Polizist. Es ist dieses harte, keinen Widerspruch duldende Geräusch, das im Fernsehen den Gesuchten zur Hintertür hinaustreibt, damit die spannende Verfolgung beginnen kann. Phil drückt mir eine Plastiktüte in die Hand, küsst Sally auf beide Wangen und geht in die Hocke, um Harry ausgiebig zu streicheln. Die beiden hatten anfangs ein eher angespanntes Verhältnis, aus dem sich aber schon nach kurzer Zeit eine echte Männerfreundschaft entwickelte. Wenn Sally und ich einmal bei einem Autounfall ums Leben kämen, würde Phil sich um Harry kümmern, da bin ich sicher.

Er lässt sich am Esstisch in der Fensternische nieder, seinem Lieblingsplatz und genießt die Aussicht. Es regnet gerade nicht, aber die Wolken hängen so tief, dass das andere Ufer nur in der Erinnerung existiert. Unten, zum Anfassen nahe, liegen zwei, drei mittelgroße Frachter und warten darauf, dass der Hafenmeister sich erbarmt und sie in die gute Stube bittet. Sie liegen immer da, manchmal sind es viel mehr, vielleicht sind es immer wieder andere. Keiner sieht sie kommen und gehen, nie sieht man einen Matrosen übers Deck schlendern. Sie sind leer, nutzlos, bewegungslos, alte Männer, die vor der Wärmestube auf die Öffnung warten. Ihr leerer, roter Rumpf ragt hoch aus dem Wasser, sie genieren sich nicht einmal, ihre hässliche Bugnase sehen zu lassen. Keiner weiß, was sie hier wollen. Kaum ist einer verschwunden, nimmt schon der nächste seinen Platz ein.

In der Küche packe ich das Dinner aus. Schon wieder chinesisch, aber zu Hause benutzen wir wenigstens keine Stäbchen. Rindfleisch mit schwarzer Bohnensoße, Schweinefleisch süßsauer mit Ananasstücken, Tofu mit gemischtem Gemüse.

"Das Saté ist für Harry?", rufe ich hinüber.

"Wie immer." Phil kommt mir zu Hilfe. Er zieht vorsichtig die Hühnerfleischwürfel von den hölzernen Spießen, arrangiert sie auf einem Bett asiatischer Nudeln und verteilt die Soße darüber. Würde das Ganze nicht im Hundenapf serviert, hätte ich selber großen Appetit darauf. Harry liebt dieses Gericht, es muss die Erdnusssoße sein, und Phil weiß das. Er besteht darauf, Harry seine Mahlzeit persönlich zu servieren

"Warum bekomme ich nie Saté, ich mag das auch."

"Du bist kein Feinschmecker, John. Als wir uns kennenlernten, hast du nur von Hamburgern und Pizza gelebt. Wenn Sally nicht zu euch gekommen wäre, hättest du Harry auch noch verdorben. Lass dir dein Süßsauer schmecken."

Wir tauschen ein paar Happen untereinander, wie man das eben bei chinesischem Essen so macht, aber jeder hat eine Vorliebe für eines der Gerichte. Wir plaudern über belanglose Dinge, und bald sind wir unter Phils geschickter Führung bei dem Thema angelangt, das ihm auf den Nägeln brennt. In Vancouver und in den Trabantenstädten, die sich ringsherum unaufhaltbar aus der Erde stülpen, sind an zwei Tagen wieder mehrere Bandenmorde geschehen. Siebzehn Tote in vier Wochen, davon sechs unbeteiligte Passanten. Sogar eine Mutter mit Kleinkind wird in ihrem Auto erschossen, was die Öffentlichkeit besonders verstört. In den hiesigen Fernsehnachrichten werden der Flugzeugabsturz in Panama, die Wahlen in England und die Kämpfe im Nahen Osten nur als unbedeutende Marginalien erwähnt. Politiker aller hierarchischen Rangstufen deklamieren vor Mikrofonen und Kameras, dass sie diese gesetzlosen Zustände nicht einen Tag länger akzeptieren wollen. Keiner von ihnen bemerkt den Umkehrschluss, dass ihn die Zustände bis jetzt wenig interessiert haben. Die Polizei rückt offiziell von der Theorie ab, es handle sich um einen Territorialstreit chinesischer Triaden. Die Opfer sind in der Mehrzahl junge Männer italienischer Abstammung, in den letzten Jahren offiziell eingewandert oder mit einem Studentenvisum eingereist. Sie stammen aus dem südlichen Italien und standen alle in irgend einer Verbindung mit der Abfallwirtschaft, mit Abfalldeponien und Recycling, mit Bodenanalysen und Bauprojekten auf stillgelegten Müllhalden. Immer wortreicher dementieren die Offiziellen, dass die Mafia ihre Hand im Spiel haben könnte. So etwas gibt es nicht bei uns in Kanada, wir sind ein heiles Land, der Welt ein Vorbild und dem Verbrechen eine dürre Wüste.

 

"Die italienische Polizei glaubt, dass die Müllmafia hier eine Niederlassung einrichten will. Mein Boss schickt mich rüber zu Konsultationen, und ich wollte dich fragen, John, ob du mir ein paar Tipps für Neapel geben kannst."

Neapel? Ausgerechnet! Es ist schon ein paar Jahre her, seit ich zum letzten Mal dort war, und so sind es eigentlich nur ganz allgemeine Informationen, die ich ihm geben kann.

"Man hat dir wahrscheinlich ein ordentliches Hotel gebucht (– ein Zimmer in einer Polizeikaserne, aus Sicherheitsgründen, bestätigt er, der oberste Staatsanwalt wohnt auch dort –) und für Tourismus wirst du nicht viel Zeit haben. Aber nutze jede Minute! Im Grunde braucht man ein halbes Leben, um die Stadt und ihre Umgebung kennenzulernen. Capri, Sorrent, Pompeji! Positano, die Amalfiküste! Ich hab' irgendwo noch einen Reiseführer in Englisch, den suche ich dir raus. Wann fliegst du? Morgen früh um sieben? Dann schau ich lieber gleich nach."

Ich finde sogar zwei NeapelFührer, einen ausführlichen von Lonely Planet und einen kurzen im Notizbuchformat von Berlitz. Den finde ich besser, denn die Informationen sind sehr knapp und präzise. Die Trinkgeldempfehlungen sind noch in Lire, aber sonst hat sich wenig geändert in den letzten zehn Jahren. Wir haben damals fast vier Wochen lang gedreht, ich bekomme große Lust, mir den alten Film wieder anzuschauen.

"Am liebsten würde ich gleich mitkommen, Phil. Aber ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muss. Sally ist die nächsten beiden Wochen unterwegs. Kongress, Fototermine, Vorträge. Harry und ich hüten das Haus und bringen das Archiv in Ordnung. Da sieht es aus wie beim Müll in Neapel."

Wir unterhalten uns weiter geistreich, sind gerade dabei, einem weltverändernden Gedanken den letzten Facettenschliff zu verleihen, da unterbricht uns das Telefon. Für mich ist der Effekt immer der gleiche wie ein Regenguss bei einer Gartenparty. Sally nimmt die Störung entgegen, das hat sich so eingebürgert. Sie schafft es, immer freundlich zu klingen.

"Hallo! Ach wie schön, von dir zu hören. Danke, gut. Und dir? Ja, der ist hier, einen Augenblick. – Falo, es ist wichtig."

Das letzte ist für mich bestimmt. Ich begebe mich hinüber zu unserem altmodischen Telefon, das seine Informationen immer noch durch einen heißen Draht empfängt.

"Hallo, Falo, wir sitzen gerade beim Abendessen. Ich ruf dich später zurück."

"John, ich frage gar nicht, wie es dir geht, und wie das Wetter ist, es ist wichtig und es ist eilig. Hör mir zu, John, eine Minute nur."

Was soll ich machen, ich kann doch nicht einfach auflegen. Ich schalte den Lautsprecher ein, damit Sally mithören kann . Er gesteht mir auch keinerlei Einspruchsfrist zu sondern babbelt weiter, ohne Punkt und Komma.

"John, ich befinde mich hier in einer verzweifelten Lage. Existenzbedrohend. Lebensbedrohend! Du bist der einzige Mensch, der mir da heraushelfen kann."

Ich schneide eine Grimasse zu Sally hinüber. Der Mann braucht James Bond, so scheint es, oder wenigstens eine FallschirmspringerDivision. Dabei neigt Falo eigentlich nicht zu Panikanfällen. Zwar sieht er kahlköpfig, kleinwüchsig, schnurrbärtig aus wie ein kribbeliger Asterix, aber vom Charakter her könnte er eher als Zwillingsbruder des phlegmatischen, unverwüstlichen Obelix durchgehen. Während ich mit Sally Blicke tauschte, habe ich mich ablenken lassen und die Gelegenheit versäumt, das Gespräch abzubrechen.

"... vierzigMillionenBudget, und die Hälfte bleibt an mir hängen. Nur eine Woche, John, mehr brauche ich nicht. Ich schicke dir ein Ticket, ich schicke dir ein Privatflugzeug. Ich brauche dich, John. Morgen, übermorgen, sofort!"

Da habe ich wohl gerade etwas verpasst. Nachfragen will ich aber nicht.

"Falo, ich bin vor wenigen Stunden aus China zurückgekommen und todmüde. Morgen früh, wenn ich ausgeschlafen bin, rufe ich dich an. Dann kann ich dir zuhören und vielleicht auch ein paar gute Ratschläge geben."

Davon will er nichts hören. Eine halbe Stunde, wenn es denn unbedingt sein muss, nein, es eilt wirklich, es ist wichtig, es ist unaufschiebbar, also gut, eine Stunde, aber keine Sekunde später, wir sind doch Freunde, oder?, und ich bin der Einzige, der ihm helfen kann.

* * *

Falo denkt gar nicht daran, mir eine ganze Stunde Pause zu gestatten. Noch bin ich dabei, Phil Marlowe an der Haustür zu verabschieden und ihm eine gute Reise zu wünschen, da schrillt auch schon das Telefon und hört nicht mehr auf. Ja, denkt der Mann denn, ich könnte fliegen? Und selbst wenn! Nicht einmal die weißköpfigen Fischadler, die tagtäglich zwischen meinem Fenster und den Bergen kreisen – wenn sie nicht gerade in Amerika Dienst als Wappentier tun – rasen kopfüber durch die Lüfte, nur damit Falo nicht am Telefon warten muss. Erst einmal möchte ich in Ruhe den Kaffee genießen, den Sally liebevoll zubereitet hat, während ich meinen Koffer nach oben brachte.

Eine Viertelstunde und zwei unbeantwortete Anrufe später halt' ich's nicht mehr aus und hebe den Hörer ab. Wenigstens habe ich mir schon die richtigen Worte zurechtgelegt, die auch Falo überzeugen müssen. Ich bin urlaubsreif, habe viel zu tun und keine Lust zu verreisen. Drei Gründe, einer besser als der andere, und notfalls finde ich noch ein Dutzend mehr. Nur gelingt es mir nicht, auch nur einen einzigen vorzutragen. Wenn je ein Mensch einen verbalen Tornado geschaffen hat, eine Flut von Wörtern, die in Windeseile, in Orkaneseile um einen Mittelpunkt kreisen, die alles mitwirbeln, was sich ihnen in den Weg stellt, die jedes Hindernis einfach niederreden und hinter sich ein Feld sprachloser Verwüstung hinterlassen, dann hat Falo Schöndorff dies soeben vollbracht.

Falo ist Filmregisseur. Ein guter sogar, er hat ungefähr jeden wichtigen Filmpreis der Welt gewonnen, außer dem Oscar, bei dem bis jetzt es nur für zwei Nominierungen langte. Er macht gute Filme, nicht die großen HollywoodSuperkassenhits, dafür ist er zu langsam und nachdenklich. Doch seine Filme kosten auch nur die Hälfte und noch jeder hat seine Kosten mindestens doppelt oder dreifach wieder hereingespielt. Ich habe schon oft mit ihm gearbeitet. Häufig war ich gleichzeitig stimuliert und frustriert, wenn es mir nicht gelingen wollte, seine vielschichtige Vorstellung einer Szene in ein einfaches Standfoto zu übersetzen.

"Wir haben bereits zwei Drittel des Films abgedreht, und jetzt ist, wie du weißt, Roberto di Gallo gestorben."

Das hatte ich zwar noch nicht gehört, aber ich habe mir auch nicht die Mühe gemacht, in Schanghai am Kiosk die täglichen Schlagzeilen zu studieren. Di Gallo sollte in Falos Film die Hauptrolle spielen, und dass er ausgefallen ist, bedeutet zweifellos einen harten Schlag. Roberto di Gallo ist nicht ganz so populär wie Tom Cruise oder Brad Pitt, aber er hat – hatte! – immer eine treue und hingebungsvolle Gefolgschaft.

Falo hat allerdings Glück im Unglück. Er hat einen Schauspieler gefunden, der di Gallo so ähnlich sieht, dass er mit geschickter Schminke und ein paar Probetagen genau an Robertos Abgang weitermachen kann. Dieser Colin Aberthau ist vielleicht kein ganz so guter, einfühlsamer Schauspieler wie sein Vorgänger, aber ist mindestens vierzehnmal so eingebildet.

"Er übernimmt die Rolle, John, aber er will nicht nur eine horrende Gage, sondern er besteht darauf, dass du, und nur du, die Standfotos machst. Er will keinen Fotografen, sagt er, der in aussehen lässt wie ein hässliches Entlein. Er will groß herauskommen, und du seist der Einzige, dessen Bilder in jeder Zeitschrift gedruckt werden."

In gewisser Weise mag er da ja Recht haben. Falos Film würde dabei sicher auch nicht Schaden leiden. Aber schließlich bin ich hierher nach Vancouver gezogen, weil ich eine Pause brauchte, weil ich eine Zeit lang keine Stars, keine Regisseure, keine Beleuchter, Kameraleute, Requisiteure mehr sehen wollte. Statt dessen schlage ich mich jetzt mit mörderischen Terroristen und hilflosen Polizisten herum. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, reumütig ins Filmgeschäft zurückzukehren. Aber nicht für Aberthau. Den mag ich viel weniger als er mich.

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