Seewölfe - Piraten der Weltmeere 575

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 575
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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-982-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Die Schiffe-Versenker

Ihre teuflische Konstruktion verhilft ihnen zu reicher Beute

„Ein prachtvolles Schiff!“ flüsterte Michele Mauro schwärmerisch. Er spähte durch die ausgebleichten Splitter einer vom Blitzschlag abgeknickten Zypresse und konnte seinen Blick nicht losreißen. „So etwas sieht man nicht alle Tage“, fügte er gedankenverloren hinzu.

„Viel zu schade zum Versenken“, murmelte Giovanni Casalungo, der neben Mauro lag, hinter dem zu Boden gestürzten Teil des Baumes.

Mauro, ein hagerer blonder Norditaliener, nickte, ohne den Kopf zur Seite zu wenden. „Du hast recht, Giovanni. Eine Schebecke ist das stolzeste, schönste und schnellste, was es auf dem Mittelmeer gibt. Was könnte sich damit vergleichen?

Eine Galeere, die beim kleinsten Sturm in den nächsten Hafen flüchten muß? Oder eine von diesen dicken spanischen Galeonen, die zehn Meilen vor Venedig die Segel wegnehmen müssen, damit sie nicht gegen die Pier rennen? Nein, Giovanni, es gibt nichts Besseres. Wirklich ein Jammer um dieses herrliche Schiff!“ Eine Weile blickten die beiden Männer schweigend auf den in der Bucht ankernden Dreimaster …

Die Hauptpersonen des Romans:

Consuela de Echeverria – die hübsche Tochter des Galeonen-Kapitäns überlebt zwar den Untergang des Schiffes, gerät aber vom Regen in die Traufe.

Franco Rocca – der Häuptling einer Bande von Küsten-Haien hat eine Methode ersonnen, wie man Schiffe versenken kann, ohne selbst dabei in Gefahr zu geraten.

Philip Hasard Killigrew – als seine beiden Söhne zwei verdächtige Kerle an Land überwältigt und an Bord gebracht haben, wird er äußerst mißtrauisch, und dazu hat er allen Grund.

Edwin Carberry – der Profos befehligt einen Landetrupp, und da fliegen wieder mal die Fetzen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

„Wie wäre es denn“, sagte Casalungo schließlich, und er sprach jedes Wort gedehnt aus, „wenn wir Rocca überhaupt nichts von der Schebecke sagen?“ Casalungo war ein drahtiger, mittelgroßer Mann mit einem dünnen Oberlippenbart und glattem schwarzem Haar, das wie Siegellack auf seinem Kopf klebte.

Mauro wandte sich nun doch zur Seite und starrte ihn an. „Du meinst, ihm nichts zu melden?“

„Mhm.“ Casalungo brummte es und nickte dazu.

„Du bist verrückt!“ entfuhr es Mauro. „Er knüpft uns am nächsten Baum auf, wenn er es herauskriegt. Und er kriegt es heraus, darauf kannst du Gift nehmen.“

„Unsinn. Das müßte schon ein Zufall sein. Da draußen sind genug andere Schiffe unterwegs.“ Casalungo deutete mit einer Kopfbewegung auf die neblig-graue Weite des Golfes von Venetien hinaus. „Eins mehr oder weniger fällt doch überhaupt nicht auf. Rocca steht nicht Tag und Nacht an der Küste, und Beobachter sind auch nicht ständig im Einsatz.“

„Sag mal“, Michele Mauro schüttelte unwillig den Kopf und blinzelte dazu, „ist dir eigentlich klar, was wir hier reden? Totalen Quatsch!“

„Wieso?“ Sein Kumpan sah ihn mit offenem Mund an.

„Mann, weil es uns überhaupt nichts nutzt, wenn wir den Dreimaster nicht melden!“

„Aber es ist doch so ein schönes Schiff. Das hast du selbst gesagt.“

„Richtig. Stimmt. Es wäre eine Schande, es zu versenken. Das habe ich gesagt. Aber glaubst du etwa, daß wir es uns zu zweit unter den Nagel reißen können?“

Giovanni Casalungo zog die Schultern hoch. „Ich denke auch die ganze Zeit darüber nach. Himmel, wäre das ein Glück, endlich mal wieder Planken unter den Füßen zu haben! Und dann als Freibeuter gegen fette spanische Handelsgaleonen segeln! Das wäre das richtige, sage ich dir! Mit so einem Schiff!“ Er wies abermals auf die Bucht hinaus.

„Klingt phantastisch, das gebe ich zu.“ Mauro nickte. „Dauernd bloß an Land herumzuhängen, kann einem auf den Nerv gehen. Wir kriegen ja nichts anderes mehr zu sehen als dieses miese Po-Delta und das verdammte Fahrwasser da draußen. Stimmt, das ist auf die Dauer kein Leben für einen echten Seefahrer.“

„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!“ Casalungo sah auf einmal begeistert aus. Seine Augen leuchteten.

Mauro legte die Stirn in Falten und zog die Brauen zusammen. „Nein, nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Und es wäre eine Nummer zu groß für uns, Giovanni. Erstens: Wo sollen wir auf die Schnelle die Leute herkriegen, um den flotten Eimer zu entern und zu übernehmen? Zweitens: Glaubst du, daß Rocca uns in Frieden ziehen lassen würde? Der würde sämtliche adriatischen Küstenpiraten auf uns hetzen und ihnen eine hohe Belohnung versprechen, damit sie ihm unsere Köpfe bringen. Drittens: Sieh dir die Burschen auf der Schebecke an. Mit denen werden wir nicht so leicht fertig.“

„Du hast damit angefangen“, maulte Casalungo. „Erst machst du einem den Mund wäßrig, und dann ziehst du dich in dein Schneckenhaus zurück. Was für eine lausige Art ist das? Hast du wegen Rocca die Hosen voll? Oder mehr wegen der Crew auf dem Dreimaster?“

„Ich hab’ nicht die Hosen voll“, knurrte Mauro. „Ich fange bloß an, die Dinge nüchtern zu sehen. Manchmal ist es ja ganz schön, herumzuspinnen. Aber es nutzt nichts. Wir können nicht aus unserer Haut heraus.“

„Und du hast doch die Hosen voll“, sagte Casalungo beharrlich.

Diesmal antwortete sein Kumpan nicht, und erneut verfielen beide Männer in Schweigen. Sie beobachteten die Schebecke und ihre Besatzung weiter, und ihre Gefühle wechselten dabei von geistigen Höhenflügen bis hin zum Neid auf jene Burschen in der Bucht, die mit der größten Selbstverständlichkeit über ein solches Schiff verfügten.

Überhaupt wirkten sie anders als die Crews, die man üblicherweise auf Seglern im Adriatischen Meer sah. Das waren keine vollgefressenen spanischen Pfeffersäcke, keine griechischen Hängebäuche und keine türkischen Krummbeine. Venezianische Gecken, die sich für die bestaussehenden Mannsbilder der Welt hielten, schon gar nicht.

Manche der Kerle an Bord der Schebecke sahen aus wie Mensch gewordene Kleiderschränke. Genaugenommen sahen die meisten so aus. Mittel- und Kleinwüchsige waren da nur verschwindend wenige. Dann diesen riesenhaften Schwarzen und den einen, der aussah wie ein Spanier.

Seit sie vor einer halben Stunde ihren Beobachtungspunkt am Rand der Bucht erreicht hatten, rätselten Mauro und Casalungo herum, aus welchem Land diese Schiffsbesatzung stammen mochte.

Aus dem Norden, so viel stand fest.

Was gab es da?

Deutsche? Die befuhren nicht die Weltmeere, soweit man wußte.

Holländer? Schon eher möglich.

Engländer? Auch möglich, aber schwer vorstellbar. Wie sollten sie sich an Gibraltar vorbeimogeln, wo die Spanier alles zu den Fischen schickten, was ihnen irgendwie nicht geheuer erschien?

Dänen, Schweden, Norweger? Polen, Russen oder Finnen? Ebenfalls nicht völlig von der Hand zu weisen.

In allen Fällen wären solche Leute aber wohl mit einem Schiff aufgekreuzt, das ihrer Herkunft entsprach. Während ihrer Zeit als Seeleute und später als Marinaros bei der venezianischen Kriegsflotte – bis zur unehrenhaften Entlassung – hatten Mauro und Casalungo einiges an Erfahrungen über fremdländische Seefahrer und ihre Schiffe gesammelt.

Es war ganz und gar unbegreiflich, warum diese Nordmänner auf einem Mittelmeerschiff fuhren.

Irgend etwas stimmte mit ihnen nicht, davon waren die beiden Kumpane schon nach dieser ersten halben Stunde des Beobachtens überzeugt.

Die Schebecke hatte bereits in der kleinen Bucht südlich von Chióggia geankert, als Mauro und Casalungo dort eingetroffen waren. Normalerweise war es ihre Aufgabe, von hier aus den Schiffsverkehr auf der nahen Wasserstraße zu beobachten, sich gegebenenfalls aufs Pferd zu schwingen und ihrem Anführer, Franco Rocca, geeignete Objekte zu melden.

An diesem Morgen war nichts los dort draußen, im küstennahen Fahrwasser. Am vergangenen Abend und in der Nacht hatte es einen Sturm gegeben, und die Frachtsegler hatten in Häfen und Buchten Zuflucht gesucht. Im Fall der Schebecke schien es sich geringfügig anders verhalten zu haben.

Wie Mauro und Casalungo beobachteten, waren die Crewmitglieder damit beschäftigt, in den Unterdecksräumen für Ordnung zu sorgen. Man konnte also annehmen, daß sie den Sturm abgeritten hatten.

Und dann waren sie doch gezwungen gewesen, eine Bucht anzulaufen, denn Ladung und Ausrüstung waren verrutscht. Zur Frischwasser- und Vorratsbeschaffung würden sie eine einsam gelegene Bucht wie diese, zwischen den Mündungen des Adige und des Po, nicht ausgesucht haben.

 

Die Schebecke war ein schlankes Schiff mit Lateinsegeln an drei Pfahlmasten. Typische Merkmale waren der weit vorragende Vorsteven-Vorbau, der stark vorgeneigte vordere Mast und die erhöhte, weit ausladende Heckgalerie für den kleineren achteren Mast.

Die Länge des Dreimasters schätzten Mauro und Casalungo auf mehr als dreißig Yards. Und die Armierung konnte sich sehen lassen. Vorn und achtern je zwei Drehbassen, an Backbord und an Steuerbord jeweils sechs Kanonen, nämlich Culverinen mit einem Geschoßgewicht von mindestens siebzehn Pfund.

Das besondere an der Schebecke war, daß es sich um ein noch ruderbares Segelschiff handelte, mit Riemenpforten zwischen den Geschützen am Schanzkleid. Merkmale der Galeere waren nicht zu übersehen, doch war die Schebecke wesentlich länger und stärker gebaut und vor allem deutlich seetüchtiger.

„Sinnlos“, sagte Michele Mauro nach diesen langen Minuten des Schweigens, und Giovanni Casalungo hatte die gleichen Gedanken.

Und wenn die Schebecke noch so hervorragend war, man würde sie nicht kapern und noch viel weniger damit auf Raubzüge gehen können.

Franco Rocca wußte, was er tat.

Er wußte verdammt genau, daß es auf den vielbefahrenen Wasserwegen des Adriatischen Meeres für Piraten immer schwieriger wurde.

Deshalb hatte Rocca sein besonderes Verfahren der Beutejagd entwickelt.

Noch lag über dem flachen, von zahllosen Wasserläufen durchzogenen Po-Delta die Feuchtigkeit des frühen Morgens – vornehmlich dort, wo sumpfige Wiesen und Schilfgrasfelder einer vielfältigen Tierwelt geschützte Heimstatt boten.

Die unterschiedlichsten Vogelstimmen waren zu hören, und von Zeit zu Zeit zuckten die Zwillinge regelrecht zusammen, wenn Wasserhühner heisere, abgehackte Schreie von sich gaben, die sich anhörten wie menschliche Kinderstimmen in höchster Not.

Schon vor einer guten Stunde waren sie an Land gepullt. Während an Bord für Ordnung gesorgt wurde, hatten Philip und Hasard junior Gelegenheit, Plymmie Auslauf zu geben. Von Zeit zu Zeit brauchte die Wolfshündin jene Weite, die ihre Vorfahren über Meilen hinweg durchstreift hatten.

Zwar war sie bei den Arwenacks nicht darauf angewiesen, nach Beute zu jagen, um nicht zu verhungern, denn sie wurde schließlich bestens versorgt. Aber gerade deshalb fiel bei ihr Bewegungsmangel doppelt ins Gewicht – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sie nicht an Tagen wie diesem Gelegenheit erhielt, sich auszutoben, würde sie sich über kurz oder lang in ein schwerfälliges, fettes Monstrum verwandeln, dessen durchhängender Bauch über die Decksplanken schleifte.

Die beiden jungen Killigrews hatten das kleine Beiboot im südlichen Teil der Bucht in einen Wasserlauf gelegt, den sie ein Stück hinaufgefahren waren, bis sie festes Ufer erreicht hatten. Da keine Strömung herrschte, vermuteten sie, daß es sich um einen Landeinschnitt handelte, in dem Meerwasser stand.

Plymmie tobte sich nach Herzenslust aus. Kreuz und quer, in wilden Hakenschlägen, raste sie über das scheinbar endlose Grasland, das sich bis zum Horizont erstreckte. Bäume und Buschgruppen, auf erhöhtem Gelände, standen wie dunkle Inseln in einem wogenden grünen Meer aus kniehohem Gras.

Insbesondere der Rand der Bucht war auf diese Weise gesäumt, als hätte es die Natur darauf angelegt, schutzsuchenden Schiffen ein wirkungsvolles Bollwerk gegen ablandige Stürme zu bieten.

Von Plymmie war über endlose Minuten nichts als der hoch erhobene buschige Schwanz zu sehen, wie sie das Gras in Zick-Zack-Bahnen durchpflügte und dabei ein wirres Muster von Furchen hinterließ. Ihre Ausdauer war hoch immer beachtlich. Denn an Bord lag sie keineswegs nur von morgens bis abends faul auf den Planken.

Da lieferte sie sich wilde Jagden mit Arwenack, dem Schimpansen, oder sie versuchte, den zeternden Sir John zu packen, bevor er sich flatternd auf einen Mast retten konnte.

Natürlich handelte es sich dabei immer nur um Spielerei. Denn das „Viehzeug“ der Arwenacks – wie Edwin Carberry es durchaus liebevoll nannte – lebte an Bord in trauter Eintracht.

Philip und Hasard hatten versucht, dem Hühnergeschrei auf die Spur zu kommen, waren dabei aber nicht erfolgreich gewesen. Jedesmal, wenn sie glaubten, endlich einmal eins von den Viechern im Schilf zu erblicken, verstummte es, tauchte oder versteckte sich sonstwie.

Als sich die Zwillinge wieder der Weite des Marschlandes zuwandten, hatten sich die Zick-Zack-Furchen nicht mehr erweitert.

Von Plymmies Rute keine Spur mehr.

Philip und Hasard wechselten einen Blick. Philip öffnete den Mund und wollte die Hände zum Trichter formen, um nach der Wolfshündin zu rufen.

„Still!“ sagte Hasard leise. „Vielleicht hat sie jagdbares Wild aufgestöbert!“

Philip ließ die Hände sinken. Ausnahmsweise mußte er seinem Bruder recht geben.

Sie sahen sich um und spähten nach einer Bewegung im Gras. Aber da war keine andere als diese wogende Bewegung, die der Wind verursachte. Erst nach langen Sekunden erhielten sie einen vagen Hinweis auf das, was sich abspielte.

Ein verhaltenes Knurren, nicht einmal sehr weit entfernt.

Die Zwillinge folgten den Furchen im Gras mit Blicken, bis sie eins der Enden am Ufer jenes Wasserlaufs entdeckten, dem sie landeinwärts gefolgt waren.

Vorsichtig pirschten sie sich auf die Stelle zu.

Und dann, Atemzüge später, verharrten sie regungslos und ohne einen Laut.

Plymmie nahm sie nicht einmal wahr.

Ebensowenig das Tier, das die Wolfshündin aufgespürt hatte.

Eine Wasserratte mit den Ausmaßen eines Kaninchens. Der furchterregend große Nager duckte sich flach auf den Boden, und die kleinen Knopfaugen funkelten die Wolfshündin bösartig an.

Plymmie hatte der Riesenratte offensichtlich den Rückweg zum Wasser versperrt. Die Wolfshündin stand mit gesenktem Kopf, gespreizten Vorderläufen und gesträubtem Nackenhaar. Ihre Muskeln waren angespannt. Hin und wieder gab sie dieses verhaltene Knurren von sich, das das Rattenmonstrum jedoch nicht im mindesten zu beeindrucken schien.

Hasard war eben im Begriff, zu sagen, daß die Szene womöglich noch stundenlang andauern könne, als es geschah.

Eine Muskelbewegung der Wolfshündin löste den Angriffsreflex der Ratte aus.

Mit einem Zischlaut schnellte sie auf Plymmie zu.

Den Jungen stockte der Atem. Sie konnten sich vorstellen, welche gräßliche Wunde die Nagezähne der Riesenratte an Plymmies Kehle verursachen würden. Und wenn die Reflexe der Wolfshündin nur um den Bruchteil einer Sekunde zu spät funktionierten …

Sie brachten den Gedanken nicht zu Ende.

Es schien, als zucke Plymmie zusammen. Doch es täuschte. Blitzartig war sie dem auf sie zuschnellenden Nager ausgewichen. Ihre Reißzähne blitzten, und im nächsten Moment gab das pelzig-graue Tier ein schrilles Pfeifen von sich.

Plymmie schüttelte es hin und her und grub ihre Zähne immer tiefer in den Rattenkörper. Dann, als das Pfeifen verstummt und die Ratte zu einem leblosen Bündel erschlafft war, trabte Plymmie herbei und legte den Zwillingen ihre Beute vor die Füße. Philip und Hasard kraulten ihren Nacken.

Sie setzten ihren Weg fort. Krähen und andere Aasfresser würden die ihnen zugedachte Arbeit erledigen.

Sie durchstreiften eine Reihe jener baumbestandenen Bodenerhebungen und näherten sich in einem weiten Bogen dem nördlichen Bereich der Bucht. Am Ufer entlang, so hatten sie sich vorgenommen, würden sie zum Boot zurückkehren.

Sie hatten sich dem Uferbewuchs noch nicht einmal auf fünfzig Yards genähert, als Plymmie plötzlich stehenblieb. Wieder sträubten sich ihre Nackenhaare, und ein heiseres Knurren drang tief aus ihrer Kehle.

Daß es sich diesmal um keine Ratte handelte, erfuhren die Zwillinge im nächsten Moment.

Das Schnauben von Pferden drang aus dem Buschwerk, das die Bäume als dichtes Unterholz umgab.

Den Söhnen des Seewolfs blieb keine Zeit zum Überlegen.

Das Gebüsch bewegte sich jäh. Zwei Gestalten schnellten heraus – zwei, drei Yards weit auf das freie Grasland. Dann verharrten sie geduckt und lauernd.

Plymmies Knurren verstärkte sich, und ihre Flanken begannen zu zittern. Nur noch mühsam konnte sie ihre wütende Erregung unter Kontrolle halten. Denn obwohl die Fremden noch keine Waffen gezogen hatten, ging von ihnen doch eine tödliche Bedrohung aus. Aber hier verhielt es sich anders als bei einem Tier. Plymmie würde einen Menschen nicht angreifen, bevor sie den Befehl dazu erhielt.

„Sieh mal einer an“, sagte der größere der beiden Kerle, hager und blond. „Was haben wir denn da für wackere Bürschchen? Nun sagt bloß, ihr gehört zu dem feinen Schiff dort in der Bucht!“ Er grinste und deutete mit dem Daumen nach rechts. Seine Sprache war ein recht klares Italienisch, das die schmalen Lippen unter der Hakennase etwas singend aussprachen.

Daß er blond war, erstaunte die Zwillinge nicht weiter. Immerhin befanden sie sich im Norden Italiens. Da sie das Spanische beherrschten und auch genügend italienische Brocken kannten, würde es keine Verständigungsprobleme geben – was die Absicht der Kerle betraf, ohnehin nicht.

Sie konnten keine Zeugen gebrauchen. Was immer sie beabsichtigten, sie konnten es sich zweifellos nicht leisten, entdeckt zu werden.

„Vom Himmel sind wir nicht gefallen“, sagte Philip trocken, und gemeinsam mit Hasard erwiderte er herausfordernd das Grinsen des hageren blonden Kerls.

Dieser wechselte einen Blick mit seinem drahtigen, einen halben Kopf kleineren Kumpan. „Scheint Mutterwitz zu haben, der Bursche.“

„Und unsere Sprache kapiert er auch“, entgegnete der Drahtige mit dem Lackhaar. „Was stellen wir nun an mit den beiden? Nehmen wir sie mit oder …“ Er fuhr sich mit dem Zeigefinger quer vor der Kehle entlang.

Aus Plymmies Knurren wurde ein erstes, heiser grollendes Bellen.

Die beiden Kerle spielten die Erschrockenen. Dann grinsten sie wieder. Der Lackhaarige zog seine Pistole und wollte auf die Wolfshündin anlegen.

„Bist du verrückt?“ zischte der andere. „So was geht auch lautlos. Klar?“

Der Lackhaarige verzog beleidigt das Gesicht, gehorchte aber und schob die Waffe wieder unter den Gurt.

„Wir brauchen nur zu schreien“, sagte Hasard, obwohl sie das am allerwenigsten vorhatten, denn es widersprach ihrem Ehrgefühl. „Dann seid ihr schon erledigt, ihr Bastarde.“

„Oho!“ antwortete der Hagere mit hochgezogenen Brauen. „Frech ist er auch, der junge Signore! Dann wollen wir uns nicht länger die Beine in den Bauch stehen.“ Noch während er die letzten Silben aussprach, schnellte er los.

Der Drahtige tat es ihm nach.

Beide zogen ihre Messer mit derart flüssigen Bewegungen, daß sie nicht mit Blicken zu verfolgen waren. Keine Säbel. Nur schmalklingige, geradezu elegant aussehende Messer trugen sie außer den Pistolen.

Die Zwillinge spannten die Muskeln, zogen ihre Cutlasses und wichen auseinander.

„Faß, Plymmie!“ befahl Hasard junior leise.

Die Wolfshündin war nicht mehr als ein graues Huschen, dem das Blitzen der Reißzähne vorauseilte. Im Angriff verstummte ihr Knurren. Ihre Anspannung löste sich.

Philip verstellte mit federndem Sprung dem Drahtigen den Weg, dessen Lackhaar im frühen Tageslicht ölig schimmerte.

Hasard verharrte noch.

Der Hagere versuchte, dem Ansturm der Wolfshündin auszuweichen. Er stieß einen gepreßten Fluch aus, als Plymmie seiner neuen Angriffsrichtung mühelos folgte. Noch einmal wollte er ausweichen, hakenschlagend wie ein Hase. Aus seinem Angriff wurde eine Flucht.

Plymmie erwischte ihn am rechten Oberschenkel und brachte ihn zu Fall. Der Mann schrie vor Schmerzen. Das Messer blitzte in seinen Armen, die er reflexartig hochriß.

Eine halbe Schrecksekunde lang war der Drahtige fassungslos. Sein Vorstoß verlor an Konzentration und an Entschlossenheit. Aus den Augenwinkeln heraus spähte er zu seinem Kumpan, der sich schreiend wälzte, immer wieder neu von den scharfen Zähnen der Wolfshündin gepackt. Sein rechtes Hosenbein war bereits blutgetränkt.

Philip wich dem ersten Vorstoß des Drahtigen mühelos aus. Die schmale Klinge zischte ins Leere, und der Mann folgte stolpernd, vom eigenen Schwung getrieben.

Der Hagere raffte seinen letzten Widerstandswillen zusammen, wälzte sich mit aller Kraft herum, und es gelang ihm tatsächlich, sich für einen Moment von den mörderischen Reißzähnen zu lösen. Er hatte nicht bemerkt, daß Hasard längst auf dem Sprung stand, jeden Sekundenbruchteil bereit, einzugreifen.

 

Mit dem Mut der Verzweiflung, noch am Boden, brachte der Italiener sein Messer hoch. Die Klinge flirrte.

„Zurück, Plymmie!“ rief Hasard scharf.

Die Wolfshündin gehorchte.

Noch im selben Moment, während der Hagere stutzte, trat Hasard zu. Die harte Spitze seines Seestiefels traf das Handgelenk des Mannes, und dessen Messer flog in hohem Bogen davon. Er schrie auf, diesmal gleichermaßen vor Wut und vor Schmerzen. Hasard hielt ihm die Klingenspitze des Entermessers unter das Kinn, und der Mann rührte sich nicht mehr.

„Den Hund weg!“ ächzte er. „Nimm das verdammte Vieh weg!“

„Merkst du was, daß er noch da ist?“ entgegnete Hasard grinsend.

Der Italiener wurde bleich wie eine Kalkwand, denn er begriff, daß er und sein Kumpan unterlegen waren. Er begriff es und konnte es dennoch nicht fassen: Diese beiden kräftig gebauten jungen Burschen waren die stärkeren. Und verdammt, eines Tages würden sie ungefähr so aussehen wie diese Kleiderschränke auf dem Dreimaster in der Bucht.

Der Lackhaarige war unterdessen herumgewirbelt und sammelte sich zum neuen Angriff. Es wollte ihm nicht recht gelingen, denn da war der Anblick des hilflos am Boden liegenden Kumpans und der erneut angriffsbereiten Wolfshündin.

Doch diesmal brauchte Plymmie nicht mehr einzugreifen.

Philip unterlief die wenig überzeugende Messer-Attacke des Mannes mit dem Lackhaar und schmetterte ihm die Blankwaffe mit der freien Hand weg. Gleichzeitig rammte er ihm den Kopf gegen das Zwerchfell, daß der Mann über ihm zusammenklappte wie ein im Sturm abgeknickter Mast.

Aus der Traum vom heimlichen Beobachten.

Hasard ließ den Hageren von Plymmie bewachen und fesselte dem anderen gemeinsam mit Philip die Hände auf den Rücken. Dazu benutzten sie dessen eigenen Hosengürtel. Auch dem Verwundeten ersparten sie diese Prozedur nicht, denn es war immerhin möglich, daß er seine fürchterlichen Schmerzen übertrieb.

Sie brachten die Gefangenen zum Boot.

An Bord der Schebecke ließen der Seewolf und die Arwenacks voller Staunen alles stehen und liegen, als sie sahen, was die Zwillinge an Land eingesammelt hatten.

Carberry und die anderen übernahmen die Gefangenen, als das Beiboot längsseits lag. Der Kutscher, in seiner Funktion als Feldscher, kümmerte sich um die Bißwunden des hageren Italieners. Inzwischen hatte Philip Hasard Killigrew seine Söhne zur Berichterstattung auf das Achterdeck gerufen.

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