Seewölfe - Piraten der Weltmeere 547

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Seewölfe - Piraten der Weltmeere 547
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-954-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Himmelhund an Bord!

Chalid will auf der „Santa Barbara“ dabeisein – koste es, was es wolle

Die Dachkammer war stickig heiß.

Chalid Abu Bakir lag flach auf dem Boden. Das Kinn in die Hände gestützt, blickte er durch das kleine Gaubenfenster.

Da unten war der Hafen von Bagdad.

Und da lag das Schiff, das den Fluß heraufgesegelt war.

Ein majestätisches Schiff. Es fuhr über die Weltmeere.

Chalid wandte sich wieder dem Modell zu, das er heimlich zu bauen begonnen hatte. Liebevoll strich er über den Rumpf, der die Länge seines Unterarmes hatte und aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt war.

Er hatte nur einen Tag dafür gebraucht.

Ein Krachen, wie ein Schuß, riß den bulligen jungen Mann aus seinen schwärmerischen Gedanken. Die Tür war aufgeflogen.

Der Mann stand breitbeinig da.

„Habe ich dich endlich, du Nichtsnutz“, sagte er grinsend.

Die Hauptpersonen des Romans:

Chalid Abu Bakir – Der Sohn des reichsten Mannes von Bagdad hat sich in den Kopf gesetzt, die Welt kennenzulernen – aber als Kapitän der „Santa Barbara“.

Hassan Al’Aram – Der Bürovorsteher im Handelshaus des alten Abu Bakir nennt Chalid einen Nichtsnutz und löst damit eine Kette haarsträubender Ereignisse aus.

Philip Hasard Killigrew – Der Seewolf muß sich diplomatisch verhalten, denn schließlich genießt er ein Gastrecht in der Hafenstadt am Tigris.

Ben Brighton – Hasards Erster Offizier meldet – was die Weiterreise auf dem Tigris betrifft – Bedenken an.

Edwin Carberry – Der Profos muß sich als Durchklopfer betätigen, was er in bewährter Manier erledigt.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Chalid schnellte vom Fußboden hoch. Mit seinen Muskelpaketen war er beweglich wie eine Feder. Er hatte den Schreck überwunden. Wut war jetzt sein stärkeres Empfinden. Sprungbereit blieb er stehen, mit hängenden Armen. Doch seine Hände ballten sich langsam zu Fäusten.

„Dein Vater sucht dich seit zwei Stunden“, sagte der Mann in der Tür, und sein Grinsen nahm einen höhnischen Zug an. „Die Hälfte der verfügbaren Arbeitskräfte sind gebunden, weil sie nach dir suchen müssen. Zehn Personen zu jeweils zwei Stunden – das summiert sich auf zwanzig Stunden. Die wirst du abarbeiten müssen, mein lieber Chalid. Zwanzig Stunden zusätzlich zur regulären Arbeitszeit!“

„Ist deine Ansprache jetzt zu Ende?“ fragte Chalid schroff. Er hatte diesen Kerl noch nie leiden können.

Hassan Al’Aram hieß er und war der Bürovorsteher im Handelshaus seines Vaters. Ein großer, knochiger Mann, fünfzehn Jahre älter als er, Chalid. Dieser Hundesohn hatte sich herangeschlichen und dann so plötzlich die Tür aufgestoßen, daß ihm der Schreck in alle Knochen gefahren war.

Chalid dachte an das Schiff, wie er so voller Wut dastand.

Er dachte an das Schiff und an seine Zukunft.

Beides gehörte zusammen. Das war die Erkenntnis, die Allah ihm an diesem heutigen Tag gegeben hatte. An diesem Tag im Mai des Jahres 1597, wie es die Ungläubigen bezeichneten. Oh, er wußte alles über ihre Gewohnheiten und Gebräuche. Er hatte sich lange genug damit befaßt.

Jetzt, nach seiner Erkenntnis, hatte er es nicht mehr nötig, die Schikanen eines Hassan Al’Aram hinzunehmen, der nichts weiter als ein katzbuckelndes Werkzeug seines Vaters war.

„Du hörst nicht gern zu, wenn man dir etwas zu sagen hat, nicht wahr?“ Hassan zog sein Grinsen bis zu den Ohrläppchen hoch. „Das ist dein größter Fehler, mein lieber Chalid. Du solltest dir angewöhnen, ein bißchen lernen zu wollen. Dann kommst du besser zurecht im Leben.“

„Ich lerne das, was mir paßt. Und ich bin nicht dein lieber Chalid. Klar?“

Das Grinsen schwand aus dem Gesicht des knochigen Mannes.

„Eine solche Sprache möchte ich nicht von dir hören“, sagte er drohend.

„Dann halte dir die Ohren zu.“

Hassan Al’Aram sperrte den Mund auf, sein Kinn sackte vor Fassungslosigkeit noch ein Stück tiefer.

„Bist du verrückt geworden?“ keuchte er. „Was fällt dir ein, so einen Ton anzuschlagen? Beim Propheten, du kannst doch nicht so sehr den Verstand verloren haben, daß du nicht mehr weißt, wen du vor dir hast.“

„Möchtest du dir mein Schiff ansehen?“ fragte Chalid mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck, der besagte, daß er nichts von den Worten des älteren Mannes gehört, geschweige denn zur Kenntnis genommen hatte.

Der Knochige lief rot an.

„Ich soll was?“ brüllte er.

„Mein Schiff ansehen“, erwiderte Chalid, immer noch ruhig und sogar mit einem freundlichen Lächeln. „Es liegt im Hafen, und ich bin dabei, es nachzubauen.“

Hassan Al’Aram starrte ihn an, als hätte er es mit einem Verrückten zu tun.

„Du kommst jetzt sofort mit“, sagte er scharf. „Ich habe den Auftrag, dich an deinen Arbeitsplatz zu bringen. Und ich werde den Auftrag ausführen, darauf kannst du dich verlassen.“

„Versuche es“, entgegnete Chalid und grinste wieder.

Al’Aram sah aus, als würde er jeden Augenblick von einer inneren Explosion in Stücke gerissen. Er atmete pumpend ein und aus.

„Chalid!“ Seine Stimme war noch schärfer. „Beweg dich! Ich habe keine Lust, mir deinen Unsinn länger anzuhören.“

Chalid hob die Schultern und winkte verächtlich ab. Er drehte sich um und tat, als kümmere er sich nicht weiter um den Bürovorsteher seines Vaters.

Es erfolgte die Reaktion, die er erwartet hatte.

Schritte polterten hinter ihm. Die Fußbodenbretter knarrten. Al’Aram, kurz zuvor noch ein perfekter Schleicher, schien in seinem Zorn doppelt schwer zu werden. Und er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.

Chalid wartete, bis er drei Schritte gehört hatte. Dann wirbelte er herum. Seine Haltung war etwas geduckt, der Oberkörper vorgeneigt, die Fäuste wie große, kantige Hämmer erhoben.

Al’Aram prallte zurück. Seine Augen schienen von innen her aus den Höhlen gedrückt zu werden.

„Bist du wahnsinnig?“ keuchte er.

Er holte mit der Rechten aus und wollte dem erwachsen gewordenen Jungen eine Ohrfeige verpassen, wie er das noch immer gewohnt war. Omar Abu Bakir hatte ihn, Al’Aram, ausdrücklich und wiederholt dazu autorisiert.

Chalid wich der flachen Hand mit einer blitzartigen Bewegung aus. Im selben Moment jedoch zuckte sein linker Unterarm hoch und fing den Schlag ab.

Hassan Al’Aram schrie auf, denn jäher Schmerz durchfuhr ihn. Er hatte das Gefühl, gegen Eisen geschlagen zu haben. Beim Propheten, dieser unverschämte junge Kerl hatte seine Muskeln gestählt, daß es eine Ungeheuerlichkeit war!

Noch bevor Al’Aram den Schmerz überwunden hatte, noch bevor er zurückweichen konnte, schloß sich plötzlich eine eiserne Klammer um sein Handgelenk.

Abermals schrie er, denn diese Klammer war so stark, daß sie sein Gelenk zu durchtrennen schien. Seine Hand, eben noch zur Ohrfeige bereit, wurde schlaff und gehorchte nicht mehr. Al’Aram zerrte, doch der Schmerz verstärkte sich dadurch nur.

Er sah Chalids kantigen Schädel mit dem kurzgeschorenen Haar, seinen bullig gebauten Körper, wie er ruhig und überlegen dastand, und aus seiner Fassungslosigkeit wurde Widerstand. Er, der rechtmäßige Angreifer, mußte sich verteidigen. Unerhört!

War er denn nicht Hassan Al’Aram, der Stellvertreter Omar Abu Bakirs, auf dessen Kommando jeder genauso zu hören hatte wie auf die Weisungen des Alten selbst? Und war er denn ein Schwächling, der sich von einem hergelaufenen Lümmel veralbern ließ?

Er ließ die Linke vorschnellen und war schon sicher, daß der unverschämte Kerl diesmal zu spüren kriegte, was es hieß, den Unwillen eines Hassan Al’Aram herauszufordern.

Doch da war sie plötzlich, die zweite Eisenklammer, die Hassan einen erneuten Schrei ausstoßen ließ und ihn in den Abgrund unendlicher Demütigung schleuderte.

Chalid hielt ihn mit beinahe spielerischer Leichtigkeit – wie ein übermächtiger Vater das trotzige kleine Kind. Al’Aram glaubte, sich mitten in einem Alptraum zu befinden. Dies konnte keine Wirklichkeit sein! Wie war es nur möglich, daß sich der kleine freche Chalid ganz unbemerkt zu einem solchen Muskelprotz entwickelt hatte? Zu einem, dem selbst ein kräftiger ausgewachsener Mann nichts entgegenzusetzen hatte.

 

Hassan Al’Aram starrte in die schmalen Augen des jungen Mannes, und dort stand klar und deutlich, daß Chalids Haß nicht vorgetäuscht war.

Al’Aram erschauerte. Abermals erwachte sein Widerstandswille, diesmal jedoch aus Angst. Dieser Verrückte brachte es fertig, ihn totzuschlagen. Immerhin mußte er den Verstand verloren haben, wie schon festgestellt. Hassan Al’Aram erinnerte sich daran, daß man mit einem hochgerissenen Knie eine Menge ausrichten konnte.

Chalid erkannte die Absicht des knochigen Mannes schon im Ansatz. Er riß die Arme Al’Arams nach beiden Seiten auseinander und schmetterte ihm in selben Atemzug beide Fäuste auf den Brustkasten.

Der Knochige dachte nicht mehr an sein Knie, das er so wirkungsvoll hatte einsetzen wollen. Die Wucht des Doppelhiebes trieb ihn rückwärts. Er ruderte mit den Armen. Vergeblich. Der Länge nach schlug er auf die Bodenbretter. Es krachte, als breche er ins daruntergelegene Stockwerk durch.

Chalid ließ dem verhaßten Schinder keine Chance mehr. Al’Aram schaffte es nicht einmal, sich halb aufzurichten. Chalid war bereits zur Stelle, zog ihn am Kragen hoch und versetzte ihm mit Handfläche und Handrücken eine Serie von schallenden Ohrfeigen, die seinen Kopf hin und her warfen. Al’Aram schrie und wimmerte. Chalid riß ihn auf die Beine und nagelte ihn mit Fausthieben an der Wand neben der Tür fest.

Al’Arams Schmerzenslaute wurden leiser. Er verdrehte die Augen und gab nur noch ein kaum hörbares Ächzen von sich.

Chalid hielt inne und betrachtete ihn grinsend. Das Gesicht des Knochigen war bereits verquollen und von blutigen Striemen gezeichnet. Die Bewußtlosigkeit würde ihm jetzt die Schmerzen ersparen.

„So nicht, mein lieber Hassan“, sagte Chalid kalt und brachte den Mann mit einer neuen Ohrfeigenserie in die Wirklichkeit zurück.

Al’Aram riß die Augen weit auf, blinzelte heftig und schnappte nach Atemluft.

Chalid packte ihn im Nacken, trat zur Seite und schleuderte ihn in den Raum. Wieder krachte es. Al’Aram rutschte der Länge nach über die rauhen Bretter, bis er mit dem Gesicht kurz vor dem halbfertigen Schiffsmodell liegenblieb.

Der Knochige stöhnte nur noch und war nicht mehr imstande, sich aufzurichten.

Chalid stellte sich breitbeinig über ihn, bückte sich und packte ihn erneut. Mühelos schob er ihn mit dem Kopf bis an das kleine Gaubenfenster.

„Nun wirst du dir mein Schiff ansehen“, sagte er mit herablassendem Hohn. „Sieh es dir genau an und beschreibe es mir. Es ist das größte Schiff dort unten im Hafen.“

Al’Aram stöhnte nur.

Chalid drückte ihm das Kinn auf den Boden. Mit aller Kraft. Der Knochige hatte das Gefühl, sein Unterkiefer würde zerquetscht. Ein gurgelnder Schmerzenslaut drang tief aus seiner Kehle.

„Beschreibe es!“ befahl Chalid eisig und hob den Kopf Al’Arams ein wenig an.

„Es – es hat – drei Masten“, stammelte der Bürovorsteher mit gequälter Stimme. „Es ist ein Schiff, wie es – wie es die Ungläubigen benutzen. Diesen Typ nennen sie – Karacke, glaube ich.“

„Falsch“, sagte Chalid spöttisch. „So was will leitender Mann in einem altehrwürdigen Handelshaus sein! Kann nicht mal eine Karacke und eine Galeone auseinanderhalten.“

„Doch, doch, natürlich!“ beeilte sich Al’Aram zu versichern. „Es lag mir auf der Zunge. Ich habe mich nur im Wort vergriffen. Klar, daß das dort im Hafen eine dreimastige Galeone ist.“

„Weiter!“ forderte Chalid.

„Die – die Armierung ist außergewöhnlich“, sagte Al’Aram rasch, denn er spürte schon wieder die Faust seines Gegners im Nacken. „Es dürfte kein reines Handelsschiff sein, weil es so viele Geschütze an Bord hat.“

„Quatsch“, knurrte Chalid. „Glaubst du, die Handelsfahrer wagen sich waffenlos auf die Weltmeere? Da treibt sich viel zuviel Gesindel herum, gegen das man sich wehren muß. Du bist wirklich ein ahnungsloser Hundesohn, Hassan.“ Er zog den am Boden liegenden ein Stück zurück. „Jetzt sieh dir das Modell an. Was sagst du dazu?“

„Sehr gelungen“, stöhnte Al’Aram. „Es stimmt genau mit dem Original überein, in jedem Detail.“

„Speichellecker“, sagte Chalid verächtlich. Er richtete sich auf und stellte dem Unterlegenen einen Fuß auf den Rücken. Dazu verschränkte er die Arme wie ein stolzer Jäger vor dem erlegten Wild. „Du glaubst, du kannst mir mit so einer dümmlichen Aussage schmeicheln? Kein Mensch kann mit einem kurzen Blick feststellen, ob ein Modell dem Original entspricht. Dazu muß man schon sehr genau hinsehen und immer wieder vergleichen, vergleichen, vergleichen. Aber es entspricht deinem schleimigen Wesen, daß du versuchst, mir Honig um den Bart zu schmieren. Nur so und nicht anders hast du es im Geschäft meines Vaters zu etwas gebracht. Es ist ein Jammer, daß der Alte deinen wahren Charakter nicht erkannt hat.“ Chalid holte Luft. „Nun, ich muß mir überlegen, was ich mit dir anfange. Du mußt bestraft werden, völlig klar. Vielleicht nehme ich dich als Diener mit, wenn ich an Bord meines Schiffes gehe. Keine schlechte Idee.“

Al’Aram sperrte über dem staubigen Bodenbrett Mund und Augen auf. Es mußte so sein, wie er schon zu Anfang vermutet hatte: Chalid hatte den Verstand verloren. Der arme Omar Abu Bakir war zu bedauern, daß er einen solchen Sohn hatte.

„Dein Vater wird das nicht zulassen“, sagte Al’Aram matt, denn er konnte trotz aller Schmerzen und Demütigung nicht einsehen, daß er Chalids hirnrissiges Gefasel länger ertragen sollte.

„Mein Vater wird nicht erst um Erlaubnis gefragt“, entgegnete Chalid kühl. „Denn mein Weg ist vorgezeichnet. Allah hat mir die Erleuchtung gegeben. Ich weiß jetzt, wie meine Zukunft aussieht. Das Schiff dort unten im Hafen heißt ‚Santa Barbara‘, und Allah hat es mir geschickt. Ich bin mir meiner heiligen Pflicht bewußt, die ich zu erfüllen habe. Ich werde meine Aufgabe als Seefahrer wahrnehmen, wie Allah es von mir verlangt. Keine lächerliche Krämerseele namens Omar Abu Bakir wird mich daran hindern.“

„Und der Kapitän des Schiffes?“ fragte Al’Aram vorsichtig. Er spürte, wie sich Chalid in eine Art Wahn redete. Vielleicht steigerte er sich immer weiter hinein, und dann gab es eine Chance zur Befreiung.

„Der Kapitän?“ wiederholte Chalid verdutzt. „Was soll mit dem sein?“

„Vielleicht hat er etwas dagegen, daß du sein Schiff übernimmst.“

„Es wird ihm nichts nützen. Allah wird mir Kraft, Geschicklichkeit und List mit auf den Weg geben, damit ich mein Ziel erreiche. Ich werde noch in dieser Nacht …“

Schritte näherten sich polternd.

Chalid ruckte herum. Zu spät.

Sie drängten sich durch den Türrahmen, und sie schwärmten in dem kleinen Raum aus. Sechs Mann. Lagerarbeiter, die es gewohnt waren, kräftig zuzupacken. Ihre Haltung war unmißverständlich drohend.

Chalid wußte, wann es keinen Sinn mehr hatte, den wilden Mann zu markieren. Der Zeitpunkt war da. Sein Vater hatte wieder einmal gewonnen. Das letzte Mal.

Hassan Al’Aram rappelte sich hoch und klopfte den Staub von seiner Kleidung. Grinsend baute er sich neben Chalid auf.

„Was du dir hier soeben geleistet hast, mein lieber Chalid, wird dir auf ewig leid tun. Mach dich auf einiges gefaßt.“ Er wandte sich seinen Rettern zu, und seine Stimme nahm einen herrischen Klang an. „Bringt ihn nach unten, aber paßt auf, daß er euch nicht entwischt.“

Die Kerle nahmen Chalid Abu Bakir in die Mitte wie einen Gefangenen.

Nein, er war kein Gefangener mehr in seinem Vaterhaus, das schwor er sich in diesem Moment. Seine Freiheit lag auf dem Meer. Dafür war er ausersehen.

2.

Bagdad, diese gewaltige Stadt, hatte für Philip Hasard Killigrew und seine Gefährten noch immer nichts von ihrem Zauber verloren. Diese Perle des Orients, auf die sie hier, am Tigris, gestoßen waren, ließ mühelos erkennen, welche Bedeutung sie einmal gehabt hatte, vor Jahrhunderten.

Aber nur wenig war von dieser Bedeutung geschwunden. Das Majestätische, das Erhabene, haftete Bagdad noch immer an. Es war ein Eindruck, dem sich sicherlich kein Fremder entziehen konnte, auch wenn er noch so empfindungslos war.

Die Arwenacks hatten im Laufe ihrer Weltumsegelungen viele Städte gesehen. Städte, die sich so sehr voneinander unterschieden wie Feuerland von Tortuga. Doch nichts von allem auf der Welt ließ sich mit Bagdad vergleichen. Diese Stadt bestand aus Extremen.

Bagdad war das völlige Chaos, der unablässige Trubel auf dem großen Bazar mochte das beste Beispiel dafür sein. Bagdad war aber auch Präzision und Zuverlässigkeit auf eine höchst erstaunliche Weise. Das zeigte sich hier im Hafen, wo der Betrieb wie am Schnürchen lief, obwohl unbeteiligte Beobachter eher an einen wirren Ameisenhaufen denken mochten. Was aber, wie im Fall des Ameisenhaufens, kein Widerspruch war.

Und es gab unermeßlichen Reichtum in Bagdad – ebenso, wie es auch unvorstellbare Armut gab. Die wohlhabendsten Kaufleute ließen sich von Dienern in Sänften tragen, wie das in anderen Ländern gekrönten Häuptern vorbehalten war. Doch die zerlumpten Bettler, vor allem in der Hafengegend, waren ebenfalls nicht zu übersehen.

Dies war die Stadt größter Gegensätze, das konnte man ohne Übertreibung behaupten, eine Stadt, die Seeleute aus den kühleren Regionen dieser Welt wohl kaum zu sehen bekamen. Denn Bagdad lag an jenem Fluß, den die Arwenacks auf der Suche nach einer geheimnisvollen Schiffahrtsroute angesteuert hatten.

Wenn die von den Zwillingen entdeckten Karten stimmten, dann gab es eine Verbindung vom Persischen Golf zum Mittelmeer. Ein solcher Weg konnte unschätzbare Vorteile bedeuten – speziell für Ostindienfahrer, deren Frachten von zunehmendem Wert für die Alte Welt waren.

Allerdings, und auch das war eine Erkenntnis, die sich mit dem Erreichen der Stadt Bagdad verband, wenn denn der Tigris Bestandteil jener unbekannten Schiffahrtsroute sein sollte, so schwand deren Wert beträchtlich. Es stand zu befürchten, daß das Fahrwasser des Flusses für ein Schiff von der Größe der „Santa Barbara“ nicht ausreichte. Überdies hatte die Galeone beträchtlichen Tiefgang. In ihren Laderäumen befanden sich die Brandsätze aus Lishui und die Gewürze aus Mindanao.

Vom Achterdeck aus beobachteten der Seewolf, Ben Brighton, Dan O’Flynn und Don Juan de Alcazar das Geschehen im Hafen. Vom Ochsenkarren bis zum keuchenden Lastenträger war alles in ständiger Bewegung.

Selbst die Kaufleute, die Waren auf dem Kai oder auf den Schiffsdecks begutachteten, harrten selten ruhig an einem Fleck aus. Gestikulierend gingen sie auf und ab, betasteten hier einen Beutel mit Gewürzen und hoben da eine Handvoll Getreide aus einem Sack.

Der Seewolf wandte sich an der Heckbalustrade um, den Männern zu.

„Es führt kein Weg daran vorbei“, sagte er, „wir müssen uns darüber klar werden, wie wir flußaufwärts gelangen.“

„Da ist noch eine Möglichkeit, die wir auch nicht vergessen sollten“, wandte Ben Brighton mit ernster Miene ein.

„Nämlich?“ Hasard sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.

„Es gibt auch noch den Weg flußabwärts“, sagte der Erste Offizier der „Santa Barbara“.

„Zurück?“ murmelte Don Juan entgeistert, als handele es sich um eine unbekannte Vokabel.

Hasard kam zu keiner Antwort.

„Die Gentlemen werden ihre Debatte für einen Moment verschieben müssen“, sagte Dan O’Flynn von der Steuerbordverschanzung her. „Da bahnen sich ernsthafte Probleme an, wie mir scheint.“

Die drei anderen traten auf ihn zu und spähten in die Richtung, die er ihnen zeigte. Wieder einmal wurde klar, daß Dan von allen an Bord die schärfsten Augen hatte. Das galt auch für seine Fähigkeit, selbst in größtem Durcheinander einen klaren Überblick zu behalten.

Im Gewühl auf dem Kai konnten Hasard, Ben und Don Juan nur mit einiger Mühe die Zwillinge erkennen.

Dann aber sahen die Männer, daß die Söhne des Seewolfs offenbar erhebliche Mühe hatten, jenes Problem zu bewältigen, das Dan O’Flynn angedeutet hatte.

Philip und Hasard schienen kaum von der Stelle zu gelangen. Auf dem Weg zu der Pier der „Santa Barbara“, drehten sie sich immer wieder ruckartig um, rannten ein paar Schritte zurück und unternahmen dann einen neuen Versuch, die Pier zu erreichen.

Es war schwierig, in dem Menschengewühl den Grund dieser merkwürdigen Fortbewegungsart zu erkennen.

Vier Schritte vor, drei Schritte zurück. Und dann das Ganze wieder von vorn.

 

„Sollte das ein orientalischer Tanz sein, den sie irgendwo gesehen haben?“ fragte Don Juan lächelnd.

„Zu dieser Tageszeit?“ entgegnete Ben Brigthon. „Nein, ich vermute eher, sie haben eine neue Methode gefunden – nach dem Motto: Wie brauche ich möglichst viel Zeit für einen kurzen Weg, um den Dienst an Bord auf möglichst wenig Zeit zu verringern?“

„Bevor du meine Herren Söhne der Faulheit bezichtigst“, sagte der Seewolf grinsend, „solltest du deine Tomatenaugen etwas mehr anstrengen, Mister Brighton. Dann erkennst du den Grund für ihre Taktik.“

„Bitte für die unerhörte Kritik um Verzeihung, Sir“, sagte Ben, deutete eine Verbeugung an und grinste zurück.

Der Seewolf hatte noch nie etwas krummgenommen, was Bemerkungen über seine Söhne betraf. Im Gegenteil. Seit die beiden mit an Bord waren, hatte Hasard immer wieder darauf hingewiesen, daß er für jeden Ratschlag dankbar war. Als Kapitän eines Schiffes konnte er unmöglich alle Erziehungsaufgaben allein wahrnehmen.

So hatte die gesamte Crew mitgeholfen, aus den Bürschchen von einst ganze Kerle zu machen. Nie hatte es deswegen Spannungen zwischen dem Seewolf und seiner Mannschaft gegeben. Denn nie hatte sich irgend jemand an Bord zu Ungerechtigkeiten hinreißen lassen.

Und scherzhafte Bemerkungen verletzten den Vaterstolz des Seewolfs ganz und gar nicht.

Das sonderbare Hin und Her, so zeigte sich gleich darauf, hatte mit Plymmie zu tun. Die graue Wolfshündin schien von einer unerklärlichen Unrast erfüllt zu sein. Wie die Zwillinge, befand auch sie sich in einem ständigen Vor und Zurück.

Der Landgang mit Plymmie, zwecks Markierung gewisser Duftmarken eine vertraute Übung in Häfen, schien ungeahnte Komplikationen mit sich gebracht zu haben.

In der nächsten Minute, als die Zwillinge es nach zähem Bemühen geschafft hatten, sich der Pier zu nähern, sahen die Männer an Bord der „Santa Barbara“, was es mit der merkwürdigen Fortbewegungsart von Philip und Hasard und ihrer treuen vierbeinigen Gefährtin auf sich hatte.

Plymmie wurde verfolgt.

Ein zottiges Ungetüm war es, das ihr nachstellte – größer und stämmiger, von einer undefinierbaren Rasse.

Und, kein Zweifel, es handelte sich um einen Rüden.

Die Männer an Bord grinsten sich eins. Auch auf der Kuhl waren sie inzwischen aufmerksam geworden.

Die Versuche des zottigen Streuners, bei Plymmie auf Sympathie zu stoßen, waren vergeblich. Trotzdem blieb der stämmige Kerl hartnäckig. Immer wieder pirschte er sich an Plymmie heran, und immer wieder kniff er aus, sobald sie sich mit gefletschtem Gebiß und heiserem Knurren herumwarf.

Auch die Zwillinge versuchten immer wieder, den aufdringlichen Burschen zu verscheuchen. Bis jetzt war ihnen das nicht gelungen, und es hatte allen Anschein, als ob sie es auch nicht schaffen würden.

„Den Zahn können sie sich gleich ziehen lassen“, sagte Edwin Carberry mit Grollstimme. „Zusätzliches Viehzeug an Bord wird nicht geduldet.“ Er ließ es laut und vernehmlich klingen, und da vom Achterdeck keine gegenteilige Order des Seewolfs erfolgte, nickte er zufrieden.

„Hast du Matsch auf den Augen“, sagte Ferris Tucker. „Die armen Kerle versuchen doch alles, um das Vieh loszuwerden. So was wollen sie bestimmt nicht an Bord bringen.“

„Kann alles Taktik sein“, entgegnete der Profos und spähte mit zusammengekniffenen Augen die Pier entlang. „Lehr du mich die Rübenschweinchen kennen! Die bringen es fertig und tun so, als ob sie etwas nicht wollen – um genau das Gegenteil zu erreichen.“

„Aus dem Rübenschweinchenalter sind sie wohl langsam heraus“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn, dessen Großvaterstolz sich nun regte. „Und wahrscheinlich haben sie längst begriffen, was man mit Viehzeug um die Ohren hat, wenn man es an sich bindet.“

„Bei Plymmie hat sich die Mühe aber gelohnt“, wandte Batuti ein.

„Klar“, sagte Carberry versöhnlich. „Davon habe ich mich auch überzeugen lassen. Eine bessere Bordhündin kann man sich nicht wünschen, völlig klar. Was Wachsameres gibt’s gar nicht. Aber stellt euch mal vor, ein Hundepärchen an Bord zu haben! Mann, Mann, dann könnten wir uns bald vor Gekrabbel nicht mehr retten.“

Die Männer lachten.

Smoky deutete auf das sich langsam nähernde Knäuel aus Plymmie, Verfolger und Zwillingen.

„Was daraus wohl werden würde! Seht euch bloß mal diese Mißgestalt von einem Hundevieh an!“

Eine Schönheit war der Verehrer von Plymmie ganz und gar nicht. Selbst wenn man ihn in einen Zuber gesteckt und abgeschrubbt hätte, wäre dabei kaum etwas Vernünftiges herausgekommen. Ein großer, kantiger Schädel mit gedrungener Schnauze und einem Schielauge, das von einer Fellsträhne fast verdeckt wurde. Der Körper des Rüden war gedrungen und überbreit, die Beine muskulös und leicht gekrümmt. Sein Schwanz sah aus wie ein alter Schwabber, der drei Wochen unausgewrungen in der Sonne gelegen hatte.

„So was dürfte man Plymmie sowieso nicht zumuten!“ rief Stenmark.

Die ganze Crew lachte.

Die Zwillinge, die sich auf der Pier schon bis auf zehn Yards genähert hatten, schickten verzweifelte Blicke herauf. Aber keiner der Arwenacks dachte daran, ihnen zu Hilfe zu eilen. Wer Herrchen sein wollte, so sagten sie sich, der mußte mit Herrchenproblemen auch fertigwerden.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?