Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 494»
Impressum
© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-902-4
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Burt Frederick
Duell unter Wasser
Der Tod sollte ihnen gewiß sein – doch sie kämpften
Mit Choralgesang und Halleluja erschienen sie vor der Ostküste von Great Abaco – ein offenbar frommes Völkchen, denn wer in christlicher Demut betet, kann keine bösen Absichten haben. Old O’Flynn war anderer Ansicht, und er sollte dieses Mal recht behalten, denn kaum hatten die vier Schiffe der frommen Betbrüder geankert, da wurde ein Seemann an der Rah aufgeknüpft, und der Großmeister dieser Gemeinde züchtigte mit der Peitsche eine „Buhlerin“ – weil sie angeblich „den Teufel im Leibe habe“. Das war schon schlimm genug, aber als der Großmeister mit seinen Jüngern an Land setzte und verkündete, auf Great Abaco das neue Reich Gottes errichten zu wollen, schritt der Seewolf ein und mußte handgreiflich werden, um dem Großmeister einen anderen Weg zu weisen …
Die Hauptpersonen des Romans:
Jeremiah Josias Webster – der erlauchte Großmeister hat eine Zahnlücke und lispelt beim Predigen.
Philip Hasard Killigrew – der Seewolf verläßt mit fünf Schiffen den Stützpunkt, um nach den Puritanern zu suchen.
Jean Ribault – der Kapitän der „Golden Hen“ hat allen Grund, sich um zwei seiner Männer zu sorgen.
Mel Ferrow und Roger Lutz – werden gezwungen, sich einem „Gottesurteil“ zu unterwerfen.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
1.
Die Sonne sah ungewöhnlich blaß aus.
Jeremiah Josias Webster blinzelte.
Es änderte sich nichts. Die Sonne stand blaß an einem verdüsterten Himmel. Er blinzelte heftiger, doch der Blick aus seinen seltsam verkrusteten Augen wollte nicht klarer werden. Das Bild blieb, wie es war. Eine bleiche Sonne und ein finsterer, unheilverkündender Himmel.
„Schützet euch!“ wollte er ausrufen. „Das Strafgericht des Herrn wird über euch sein, denn eure Sünden sind noch nicht vergeben!“ Aber er brachte nur heisere Laute hervor. Sie klangen seltsam fremd in seinen Ohren, so als stammten sie nicht von ihm selbst.
Noch im selben Moment, in dem Webster über seine höchst sonderbare Stimme staunte, setzte der Schmerz ein.
Es war wie ein Hieb, der ihn von innen traf – ausgelöst von einer unbekannten Gewalt, die ihn verzehren wollte. Der Schmerz, dieser furchtbare Schmerz, schwappte wie eine glühende Woge über ihn, rannte gegen sein Bewußtsein an und drohte es unter sich zu begraben.
Jeremiah Josias Webster spürte, daß sein Körper von dieser satanischen Macht zu Boden geschleudert worden war. Er spürte es, denn da war Sand unter seinen verzweifelt nach Halt suchenden Händen. Sein Körper war schwach, gewiß. Aber seine Seele kämpfte mit ungebrochener Kraft gegen die Höllenglut, die ihn verschlingen wollte. All seine Abwehrkräfte waren gefordert, denn es war die größte Bewährungsprobe, die ihm der Herr je auferlegt hatte.
Unvermittelt war er wach.
Hölle und Teufel, in seinem Schädel brannte und rumorte es, als sei er mit Vorschlaghämmern bearbeitet worden. Das, was ihm im noch nicht vollends zurückgekehrten Bewußtsein als zerstörerisches Feuer der Hölle erschienen war, rührte von einem tobenden Schmerz in der Gegend seiner Mundhöhle her.
Webster, der grobschlächtige und stiernackige Mann, schwankte, als er mit unendlicher Mühe seinen Oberkörper aufrichtete und sich nach hinten im Sand abstützte.
Er stöhnte gequält. Wieder war es ihm, als höre er eine fremde Stimme, eher die klagende Stimme eines waidwunden Tiers.
Verdammt, wer hatte ihn so zugerichtet? Der Schmerz war fast unerträglich. In den rhythmischen Intervallen seines Herzschlags erschienen diese verfluchten roten Schleier vor seinen Augen, die er für Höllenglut gehalten hatte.
Und die bleiche Sonne war keine Sonne, sondern der Mond. Der finstere Himmel war erklärlich, denn es war Nacht. Eine sternenklare Nacht allerdings. Es hätte eine paradiesische Nacht sein können in diesen zauberhaften Breiten, in denen er, Jeremiah Josias Webster, noch fürstlicher zu leben gedachte als Gott in Frankreich. Aber da gab es diese unerwarteten Hindernisse. Ein dornengespickter Weg war es, der ins Paradies führte.
Jäh setzte die Erinnerung ein. In vollem Umfang. Es war eine solche Wucht, mit der sie Webster traf, daß er es fast als schlimmer empfand als den Schmerz, der mit unverminderter Gewalt in ihm tobte.
Diese elenden Bastarde hatten sich ausgerechnet in seinem Paradies niedergelassen! Diese Schweinehunde, denen er natürlich klangvollere Bezeichnungen gab, wenn er gegenüber seinen gläubigen Gefolgsleuten von ihnen sprach! Natterngezücht, Ungeziefer, Pestbeulen, die diese paradiesische Welt befallen hatten.
Vor Websters geistigem Auge erschien dieser riesenhafte Kerl, gegen den er selbst fast ein Waisenknabe war. Dieser Ungläubige hatte sich erdreistet, ihn mit seinen widerwärtigen Pranken zu Boden zu schleudern. Webster spürte wieder, welche Schmerzen ihm die Rammfäuste des Riesen mit dem Narbengesicht zugefügt hatten. Noch in der Erinnerung zuckte er zusammen, was nur dazu führte, daß sich die glühende Woge heftiger und machtvoller in seinem Inneren ausbreitete.
Abermals stöhnte er laut und voller Qual.
Im nächsten Moment erinnerte er sich daran, daß er stets ein Vorbild sein mußte – allen überlegen und im wahrsten Sinne des Wortes erhaben. Er war nicht allein. Seine Jünger, die Schnarchhähne, lagen um ihn herum verstreut – wahrhaftig verstreut, mit ihren schlaffen Gliedern – und horchten den Strand ab. Natürlich konnten sie viel weniger einstecken als er. Das mußten sie begreifen, das mußte ihnen deutlich vor Augen geführt werden. Er war in jeder Beziehung der Bessere. Wo ihr Weg noch steil bergan führte, war er bereits auf dem Abstieg und hatte den Gipfel schon hinter sich.
Er unternahm einen ersten Versuch, auf die Beine zu gelangen. Doch als er seine Muskeln anspannte und sich aufzurichten versuchte, vervielfachte sich die Heftigkeit des Schmerzes und geriet zu einem neuerlichen Überschwappen der Glutwoge, die ihn auf den Rücken warf. Fast hätte er geschrien. Mit knapper Mühe schaffte er es noch, die Zähne zusammenzubeißen und nicht mehr als ein gurgelndes Stöhnen von sich zu geben. Kaum auszudenken, wenn die dämlichen Jünger durch seinen Schrei aufgewacht wären!
Beim Gehörnten, er durfte seine Autorität nicht selbst untergraben!
Seinen nächsten Versuch unternahm er langsamer und vorsichtiger. Zeit genug hatte er, denn die Jünger dachten noch nicht daran, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Diese Unholde, die das Paradies besetzt hielten, hatten mit unerhörter Brutalität zugeschlagen. Sie erdreisteten sich, den auserwählten Kindern des Herrn körperlichen Schaden zuzufügen. Für Webster stand schon jetzt fest, daß er höchstpersönlich zum Bannstrahl des Herrn werden würde, der diese Pestilenz aus dem Paradies tilgte.
Sein zweiter Versuch gelang. Zwar wütete der Schmerz mit nahezu unverminderter Gewalt in seinem Mund, aber das Brennen und Pochen hatte ein wenig nachgelassen. Schwankend stand er da und konzentrierte sich zunächst darauf, das Gleichgewicht zu halten.
Sanft plätscherte das Wasser auf den feinen Strand. Die Wellen hatten mattsilberne kleine Kronen, und weit entfernt stand die riesige Scheibe des Mondes wie ein bleicher, doch unerschütterlicher Wächter. Das fahle Licht spiegelte sich in der See und verwandelte sie in eine metallen aussehende Schicht, mit der sie bedeckt zu sein schien.
Webster schaffte es, zwei, drei Schritte zu gehen. Bei jedem Auftreten wuchs die glühende Schmerzwoge in ihm.
Dem Jünger, der ihm am nächsten lag, trat er in den Hintern.
Der Mann grunzte, zuckte zusammen und krümmte sich.
Webster mußte innehalten, denn durch den Tritt rannte der Schmerz erneut mit nahezu vernichtender Gewalt gegen ihn an. Er brauchte lange Sekunden, bis er dem Grunzenden eine zweite Aufmunterung in den Achtersteven verpassen konnte.
Diesmal wirkte es. Das Grunzen endete und ging in einen langgezogenen Klagelaut über. Der Jünger schlug die Augen auf und wimmerte.
Webster hätte sich gern gebückt, ihn am Kragen gepackt und auf die Beine gestellt. Aber er wollte es nicht riskieren. Womöglich landete er dabei selbst auf der Nase. Seinem Gleichgewicht traute er noch nicht recht. Und er durfte vor dem niederen Volk um Himmels willen kein schlechtes Bild abgeben.
Der Wimmernde krümmte sich und wälzte sich von einer Seite auf die andere.
„Steh auf, du Wurm!“ befahl Webster und versetzte ihm einen erneuten Tritt. Dabei wollte er seine Stimme energisch und schneidend klingen lassen. Doch sosehr er sich auch bemühte, es hörte sich eher lächerlich an.
Woran, zum Teufel, lag das?
Er vermochte es noch nicht zu ergründen.
Der Jünger schrie und krümmte sich heftiger. Es handelte sich um den Ersten Jünger, wie Webster jetzt feststellte. Sonst war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Groß und schlank, in einfaches Leinen gekleidet und mit schulterlangem Haupthaar und einem Bart, der bis auf die Brust reichte, wirkte er wie ein Heiliger auf einem dieser Ölgemälde der großen Meister. Man konnte sich vorstellen, daß einer der Jünger oder gar Gottes Sohn selbst damals in dieser Aufmachung im Heiligen Land herumgezogen war. Das rechte biblisch-leidende Bartgesicht hatte der Bursche jedenfalls.
Im Augenblick allerdings bot er eher ein Bild des Jammers. Schrammen, Beulen und Risse überzogen sein Gesicht, Blut hatte sich in seinen Barthaaren verkrustet.
„Der Zorn des Herrn wird sich über dir entladen“, sagte Webster unheilvoll, „wenn du nicht gleich auf deinen Beinen bist. Dein großer Meister braucht Hilfe, und du hast nichts anderes zu tun, als zu greinen wie ein Neugeborenes.“ Wieder war da etwas, das ihn am Klang seiner Stimme irritierte. Doch der Schmerz war noch so stark, daß er den Dingen nicht auf den Grund zu gehen vermochte. Irgendwie mußte es damit zusammenhängen, daß hier Teufelswerk im Spiel war.
Keuchend und ächzend rappelte sich der Erste Jünger auf. Sein Bewußtsein war wieder ausreichend hergestellt. Er begriff, was sich als Zorn des Herrn über ihm zusammenbraute. Jener heraufbeschworene überirdische Zorn äußerte sich meist in einem höchst menschlichen Tobsuchtsanfall Websters.
Obwohl er vor Schmerzen selbst kaum gehen konnte, befolgte der Erste Jünger den nächsten Befehl des Erhabenen und rüttelte die drei anderen wach. Sie wurden gebraucht, das war ihm jetzt schon klar. Und er war froh, daß er die Hilfeleistungen für den großen Meister nicht allein ausführen mußte.
„Zerreißt eure Hemden“, befahl Webster, „oder was ihr sonst an Stoff auf dem Leib tragt. Legt die Tücher in Bahnen, und tränkt sie mit frischem Seewasser. Kalte Umschläge werden mir guttun und meine Wunden kühlen.“
Die vier Jünger standen vor ihm und glotzten wie blöde Schafe. Nein, leicht schwankend und mit Triefaugen wirkten sie eher wie Betrunkene – wie hirnlose Einfaltspinsel, die den Schnaps in sich hineinkippten, bis sie sich nicht mehr aufrecht halten und nur noch lallen konnten.
Ja, diese Wirkung hatte der hinterhältige Überfall des Natterngezüchts gehabt.
Webster war jetzt absolut sicher, hier mußte Teufelswerk im Spiel sein. Noch nie hatte jemand seine Männer und ihn so zugerichtet – nicht einmal die Schergen der Königin, von denen sie im lausigen England verfolgt worden waren.
„Habt ihr mich verstanden?“ Gern hätte er es mit Donnerstimme gebrüllt, aber er war sicher, daß ihm dann der Schädel geplatzt wäre.
„Ja, Erhabener“, antwortete der Erste Jünger leise. „Wir werden kalte Umschläge herstellen und damit deine Qualen lindern.“
Die anderen nickten diensteifrig und begannen, sich die Hemden vom Leib zu reißen. Daran, daß auch ihre eigenen Wunden versorgt werden wollten, dachten sie nicht. Es verstand sich von selbst, daß zunächst der Erhabene in den Vollbesitz seiner göttlichen Kräfte versetzt werden, mußte. Nur dann konnte es ihnen allen wohl ergehen.
„Zwei Mann erledigen das“, verfügte Webster. „Einer sucht eine Wasserstelle in der Nähe. Ich habe großen Durst, der schleunigst gelindert werden muß. Der vierte von euch hält Ausschau nach Früchten. Hell genug ist es. Alles verstanden?“
Der Erste Jünger bestätigte, und gleich darauf hasteten sie los, um die Anordnungen des großen Meisters in die Tat umzusetzen.
Er fand ein Stück Treibholz, auf das er sich setzen konnte. Ächzend ließ er sich nieder und begann unter größter Vorsicht, sein geschundenes Gesicht zu betasten.
Da er bedauerlicherweise keinen Spiegel zur Hand hatte, konnte er sich nur vorstellen, wie er aussah. Es mußte schlimm sein. Einen Moment fragte er sich, ob er es in diesem Zustand überhaupt verantworten konnte, seinen Anhängern unter die Augen zu treten.
Mußten sie nicht zwangsläufig anfangen, an ihm zu zweifeln?
Er führte den Gedanken nicht zu Ende.
Nach Schrammen und Schwellungen erreichten seine tastenden Fingerkuppen den Mund. Seine Lippen waren aufgequollene Wülste, von den Fäusten des narbigen Riesen regelrecht zu einer schwammigen Masse geschlagen.
Er öffnete den Mund, tastete weiter und erschrak.
Da klaffte eine Lücke!
Er zog die Finger zurück, als habe er sich verbrannt. Mit geweiteten Augen stierte er auf die Kuppen von Zeigefinger und Mittelfinger.
Blut!
Im Mondlicht war es deutlich zu erkennen. Erneut tastete er nach der Lücke. Da war sie, in der oberen Reihe seiner Vorderzähne. Die Wunde blutete stark, und sie war es auch, die diese Höllenschmerzen verursacht hatte. Ein wenig erträglicher war es geworden, doch nun war es für Webster die seelische Pein, die ins Unerträgliche wuchs.
Diese Satansbrut hatte ihn gedemütigt! Dieses elende Monster hatte ihn zerschlagen, ihn seines vollkommenen Erscheinungsbildes beraubt! Es war volle Absicht gewesen. Wahrhaftig, Teufelswerk.
Eine Zahnlücke!
Allein die Vorstellung brachte ihn fast um den Verstand. Seine Gefolgsleute würden heimlich grinsen oder gar in Gelächter ausbrechen, wenn er ihnen gegenübertrat. Seine Autorität war dahin. Das hatte dieser Abgesandte des Satans in Gestalt des narbengesichtigen Riesenkerls bezweckt. Genau das hatte er bezweckt.
Webster versank in dumpfes Grübeln.
Von unten am Strand war das Prasseln reißenden Stoffes zu hören. Im Dickicht, wo die beiden anderen Jünger auf Wasser- und Früchtesuche waren, raschelte es.
Jeremiah Josias Webster achtete nicht darauf. Er nahm seine Umgebung nur noch wie durch einen wattig wallenden Schleier wahr.
Düsternis prägte seine Gedanken. Die Zukunftsaussichten waren alles andere als rosig für ihn. In seiner Gefolgschaft gab es ohnehin drei oder vier Figuren, die kritischer eingestellt waren, als ihm lieb sein konnte.
Wenn sich der Zweifel an seiner Person mehrte, konnte es sein, daß diese Burschen eine größere Schar von Gleichgesinnten zusammenkriegten. Dann wuchs der Stachel, den Satan in seine Glaubensgemeinde eingepflanzt hatte.
„Allmächtiger!“ stöhnte er verzweifelt. „Jetzt könntest du mir wirklich mal einen Strahl der Erleuchtung runterschicken!“
Doch dergleichen, wie er es seinen Jüngern und den Gläubigen gegenüber so oft behauptete, geschah nicht. Er blieb allein mit seinen marternden Sorgen. Wie, in aller Welt, sollte er mit einer lächerlichen Zahnlücke noch glaubhaft und vor allem erhaben wirken?
Plötzlich begriff er auch, woher dieser lächerliche Klang seiner Stimme gerührt hatte.
„Satan“, flüsterte er und erschrak von neuem.
O Gott, er lispelte!
Die verfluchte Zahnlücke bewirkte das. Und doch wollte er es nicht wahrhaben. Er mußte sich selbst auf die Probe stellen. Wenn er sich ein bißchen anstrengte, war es vielleicht nicht so schlimm. Einen Moment überlegte er und suchte passende Worte.
Dann flüsterte er: „Sarazenensäbel sausen sensengleich.“
Er horchte dem Klang seiner eigenen Worte nach. Es war niederschmetternd. Jedes S klang wie ein fürchterliches Mittelding zwischen einem F und einem W. Aber vielleicht lag es daran, daß er flüsterte.
„Sarazenensäbel sausen sensengleich“, sagte er laut und vernehmlich.
Es war noch erschreckender.
Die beiden Jünger, die mit dem Vorbereiten der naßkalten Umschläge beschäftigt waren, drehten sich erstaunt um.
Am liebsten wäre Webster in den Strand versunken.
„Beeilt euch!“ rief er, um seine Verlegenheit zu überdecken, ein Zustand, den sie ohnehin nie an ihm erlebt hatten. Und in diesen beiden Wörtern war wenigstens kein S enthalten.
Sie gehorchten. Er atmete auf. Immerhin zählte sein Wort noch etwas.
Plötzlich hatte er den rettenden Einfall.
„Kommt her!“ brüllte er. „Kommt her, habe ich gesagt! Sofort!“ Schmerzwogen dröhnten durch seinen Schädel. Dort, wo der Zahn fehlte, pochte es wie wild. Und er fluchte auf sich selbst, weil ihm gleich zwei Wörter mit S herausgerutscht waren. Er mußte in Zukunft besser auf sich aufpassen.
„Aber wir sind mit den Umschlägen noch nicht fertig, großer Meister“, antwortete der Erste Jünger vom seichten Wasser her.
„Unwichtig! Liegenlassen! Ich habe euch etw…“ Er verschluckte die Silbe gerade noch rechtzeitig und fuhr gefahrloser fort: „… eine Mitteilung zu machen. Bewegt euch!“
Die beiden Jünger wechselten einen Blick, hoben die Schultern und ließen die sorgfältig zusammengelegten Umschläge fallen. Mit langen Sätzen eilten sie den Strand hinauf. An ihre eigenen Blessuren dachten sie nicht mehr. Sie hatten lange genug gelernt, daß eigene Belange stets dann zurückstehen mußten, wenn es um das Wohlergehen des Großmeisters ging.
Die beiden anderen schienen den Befehl nicht gehört zu haben. Nur ein fernes Rascheln war aus dem Unterholz zu hören.
„Soll ich …?“ setzte der Erste Jünger an und deutete mit einer Handbewegung zum Dickicht.
„Nein“, entgegnete der Erhabene. „Das würde zu lange dauern. Ihr werdet meine Botschaft vernehmen und sie weitertragen, in alle Winde, damit die Welt es erfährt.“ Die Welt bestand zwar nur aus einer Anhängerschar von etwa vierhundert Seelen, aber das wollte nichts heißen. Daß sie fruchtbar sein und sich mehren sollten, hatte er ihnen schon oft genug verklart.
Vielleicht breiteten sie sich über die ganze Neue Welt aus, wenn die Burg Jerusalem erst einmal erbaut war und man richtig Fuß gefaßt hatte. Das wiederum eröffnete für ihn, Jeremiah Josias Webster, die Aussicht, mit seinem Namen in die Geschichte einzugehen – als der Prophet, der seine Jünger in das Gelobte Land geführt hatte.
Er mußte es nur richtig anfangen, dann würde man auch nach seinem Tod noch voller Ehrfurcht von ihm sprechen. Vielleicht würde man ihm sogar ein Denkmal setzen. Nur, davon hatte er dann nichts mehr. Das war der einzige, wenig tröstliche Umstand an der ganzen Geschichte.
Nun, das Denkmal konnte er sich schon zu Lebzeiten errichten lassen. Und was den späteren Ruhm betraf, so gab es ja vielleicht doch diese kleinen Wolken hoch oben. Auf einer davon würde er nach aller Mühsal auf Erden ruhen, als pausbäckiger Engel, und hinabschauen und horchen, wieviel dummes Zeug über ihn gefaselt wurde.
Aber nein, das würde nicht geschehen. Er würde ihnen vor seinem Abtreten noch rechtzeitig einbleuen, daß über ihn, den Erhabenen, nur Gutes geredet werden durfte, wenn er nicht mit fürchterlichem Strafgericht vom Himmel herabsteigen sollte.
Der Erste Jünger räusperte sich.
Aus dem Dickicht war noch immer das Rascheln der nach Wasser und Früchten Suchenden zu vernehmen.
Webster riß sich von seinen schwärmerischen Gedanken los. Manchmal packten ihn solche Visionen, und diesmal waren sie so stark, daß er darüber fast seine Schmerzen vergessen hätte. Er räusperte sich ebenfalls.
„Kniet nieder“, befahl er. „Es handelt sich um einen Augenblick der Andacht. Was geschehen ist, wird von entscheidender Bedeutung für unser aller Zukunft sein.“
Die beiden Jünger gehorchten, knieten in den Sand, senkten den Kopf und falteten die Hände vor dem Bauch.
Webster stimmte einen leiernden lateinischen Singsang an.
„Gelobt sei der Herr. Amen“, sagte er dann. „Blickt auf und seht mich an.“
Die Jünger gehorchten zögernd.
Webster wußte, daß das Mondlicht ausreichend war.
„Seht her“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen blutigen Mund. Er öffnete die Lippen. „Wißt ihr, was das ist? Könnt ihr es hören?“
Die Jünger preßten verlegen die Lippen aufeinander und kneteten die Finger.
„Großer Meister, es geziemt sich nicht“, sagte der Zweite vorsichtig.
Webster lächelte gerührt.
„Natürlich tut ihr recht daran, nicht unbotmäßig von eurem Großmeister zu reden. Wohlgetan! Aber in diesem Fall machen wir eine Ausnahme. Es muß sein. Denn es ist der Wille des Herrn, der geschehen soll.“ Er genoß es, wie sie ihn mit großen, runden Augen ansahen. „Also heraus damit. Was fällt euch an mir auf?“
Einen Moment drucksten sie noch herum.
„Euch fehlt ein Schneidezahn“, erwiderte der Erste Jünger dann.
„Oben fehlt er, in der oberen Reihe“, fügte der Zweite wenig geistreich hinzu.
Webster war geneigt, einen verzweifelten Blick zum Himmel zu schicken. Aber er ließ es, denn er wußte, daß er mit den treuen unter seinen Gefolgsleuten Geduld haben mußte. Er durfte sie auch nicht ständig anbrüllen, das mußte er sich zu Herzen nehmen. Manchmal brauchten sie das Zuckerbrot, nicht immer nur die Peitsche.
„Richtig“, sagte er daher in schulmeisterhaftem Tonfall. „Das ist es, was wir sehen. Und was hören wir?“
Die beiden Jünger senkten verlegen den Kopf.
„Großer Meister“, nuschelte der Erste, „das wäre nun wirklich nicht recht, wenn wir einfach sagen …“
„Sarazenensäbel“, sagte Webster laut und vernehmlich. „Begreift ihr jetzt? Heraus damit! Sprecht es aus!“
„Ihr lispelt“, sagte der Zweite und hielt sich im nächsten Atemzug erschrocken die Hand vor den Mund. Prompt bedachte ihn der Erste Jünger denn auch mit einem vorwurfsvollen Blick.
„Recht so!“ rief Webster dröhnend. „Und wisset, euch sind Augen gegeben, daß ihr sehet, und euch sind Ohren gegeben, daß ihr höret. Wofür aber ist euch der Geist gegeben?“
Sie starrten ihn an.
„Nun?“
Keine Antwort. Sie hatten noch nie verstanden, seinen manchmal verworrenen Gedankengängen zu folgen.
„Euch ist der Geist gegeben, daß ihr erkennet“, sagte er mit schmetterndem Stimmenklang. „Ja, ich lispele! Und warum lispele ich?“
„Weil Euch ein Schneidezahn fehlt!“ rief der Zweite Jünger, und seine Miene erhellte sich in der Hoffnung, endlich einmal die richtige Antwort gewußt zu haben.
„Auch für Narren hat der Herr einen Winkel im Paradies eingerichtet“, sagte Webster gallig. „Warum, so frage ich euch, fehlt mir ein Schneidezahn?“
Der Erste Jünger räusperte sich und reckte seinen Oberkörper, denn er war sicher, jetzt den rechten Weg erkannt zu haben.
„Das Natterngezücht war es“, sagte er. „Diese Abgesandten der Hölle haben sich an Euch vergriffen, Erhabener.“
Webster nickte zufrieden und ließ einen verklärten Ausdruck über sein zerschundenes Gesicht gleiten.
„Richtig“, lobte er den Ersten. „Nun zum Entscheidenden: Warum, so frage ich euch, hat der Satan seinen Handlanger zu dieser ruchlosen Tat veranlaßt?“
Erneut waren die Jünger verblüfft. Sie hatten geglaubt, daß der Gedankengang des Erhabenen abgeschlossen wäre. Doch statt dessen wollte er sie zu neuen Gedankenkapriolen veranlassen. Ohne Erfolg.
Webster erhob die Stimme zu vibrierendem Klang.
„Satan war es, der sein erklärtes Ziel in die Tat umsetzen wollte! Er hat seine Schergen geschickt, um mich mundtot zu machen! So begreift doch! Er wollte mir die Stimme nehmen, damit ich die Botschaft des Heils nicht mehr verkünden kann! Aber es ist ihm nicht gelungen. Die Kraft des Herrn, die in mir schlummert, war stärker! Gelobt sei der Herr!“
Die Jünger hatten ihn mit großen Augen und offenem Mund angestarrt.
„Halleluja!“ riefen sie ergriffen.
Webster steigerte seine Stimmgewalt zu Donnerhall, und es erfüllte ihn mit neuem Mut, daß das Lispeln die Macht seines Organs nur wenig zu schmälern vermochte.
„Nur noch klarer und deutlicher werde ich die Botschaft des Herrn verkünden! Das, was Satan mir angetan hat, wird euch ständig und jederzeit daran erinnern, daß der Wille des Herrn durch mich stark und unbezwingbar geworden ist. Der Teufel hat sich selbst einen empfindlichen Schlag versetzt, denn mit seinem heimtückischen Angriff hat er sich nur geschadet, statt etwas zu erreichen. Er wird sich nicht so rasch davon erholen. Und ich werde ihn weiter bekämpfen – bis zur endgültigen Vernichtung!“
Die Jünger begannen zu singen.
„Halleluja – gelobt sei der Herr! Erleuchtet …“
„… sei sein Botschafter auf Erden“, stimmte Webster in den selbstverfaßten Choral mit ein.
Die beiden anderen Jünger, die bis eben noch im Dickicht geraschelt hatten, tauchten auf dem Strand auf. Als sie sahen, welche weihevolle Handlung sich dort offenbar zwischen dem Erhabenen und seinen beiden Zuhörern abspielte, fielen auch sie auf die Knie, legten das Mitgebrachte behutsam auf den Sand und falteten die Hände vor der Brust.
Der kostenlose Auszug ist beendet.