Seewölfe - Piraten der Weltmeere 485

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 485
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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-893-5

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Wo die Schlangen-Insel versank

Die See war der Friedhof – aber er blieb nicht tabu

Den Tip erhielt der Seewolf von einem alten Freund, nämlich von dem alten Schlitzohr Diego, dem Kneipenwirt auf Tortuga, wo so allerlei Vögel einkehrten, auch Galgenvögel. Ein solcher war One-Eye-Doolin aus Cornwall, der sich etwas zu auffällig bei Diego nach Philip Hasard Killigrew erkundigt hatte, dem er das Fell über die Ohren ziehen wollte. Ein frommer Wunsch war das, und One-Eye-Doolin vergaß ihn, als er über die Caicos-Bänke segelte und Erstaunliches entdeckte. Hier brauchte man nämlich nur mit einem Draggen zu fischen – und schon hing was Goldenes am Haken. Und die Kerle von der „Scorpion“ fischten auf Teufel komm raus – bis der Seewolf aufkreuzte und sie davonjagte. Denn unter der See war eine Grabstätte …

Die Hauptpersonen des Romans:

One-Eye-Doolin – der Kapitän der „Scorpion“ hat es nur einem Zufall zu verdanken, daß er mit seinem einen „blauen“ Auge davonkommt.

Edmond Bayeux – mit seinen „Le Griffons“ haut er tüchtig auf die Pauke.

Philip Hasard Killigrew – der Seewolf hat eine traurige Pflicht zu erfüllen.

Matt Davies – der Hakenmann wird auf „wundersame“ Weise geheilt.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Es war ein merkwürdiger Tag, dieser 6. Juni im Jahre des Herrn 1595. Das Sonnenlicht war anders als sonst, irgendwie gedämpft, als befände sich hoch oben am Himmel eine Glasscheibe, durch die der Feuerball sein Licht schicken mußte. Selbst der Nordost, der mit mäßiger Kraft über die vor Treibanker liegenden Schiffe strich, hatte eine ungewohnte Art zu wehen. Sein Atem war stickig und verursachte nicht jenes vertraute Singen in Wanten und Pardunen.

Ja, es war in der Tat eine sonderbare Stille, die über dem Seegebiet im Bereich der Caicos-Inseln lag.

Die Stille des Todes? Ein lähmender Trübsinn im Angesicht menschlicher Sterblichkeit?

„Hol’s der Teufel!“ knurrte Ed Carberry leise, als er über die Verschanzung der „Isabella“ starrte und sich die Bartstoppeln an seinem Rammkinn rieb.

Die übrigen Männer unter dem Kommando des Seewolfs schwiegen. Einige jedoch nickten zustimmend. Der Profos drückte genau das aus, was sie alle empfanden. Der Teufel sollte sie samt und sonders holen, wenn sie begreifen konnten, was mit ihnen vorging. Es war nicht etwa die Sonne, die ihnen in den Schädel gebrannt und ihr Hirn durcheinander gebracht hatte. Es war auch nicht die Stille, die ihre Laune auf einen Tiefpunkt sinken ließ. Und es war auch nicht der laue Wind, der ihre Gedanken zu einer seltsamen Dumpfheit ausgedörrt hatte.

Sicher, es hing mit der Position zusammen, auf der sie sich befanden.

In der Tiefe unter dem Kiel ihres Schiffes ruhten die Toten, die einst ihre Freunde gewesen waren. Arkana, die Schlangenpriesterin, hatte das Ende vor ihrem wissenden Auge gesehen. Die Nachricht vom Tod ihrer und des Seewolfs Tochter Araua war für sie ein Vorzeichen gewesen.

Die Schlangen-Insel war untergegangen, im Meer versunken, als hätte es sie nie gegeben. Ein feuriger unterseeischer Schlund hatte sich aufgetan und jegliches Leben ausgelöscht. Auch Coral Island, die Timucua-Indianer und ihre spanischen Freunde hatten ein grausiges Ende gefunden.

All dies war den Männern an Bord der „Isabella“, der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ bewußt. Zumindest für die Arwenacks und die Männer unter Siri-Tongs Kommando war der Schmerz, den sie seinerzeit im Angesicht der Katastrophe empfunden hatten, noch in bester Erinnerung.

Sie waren damals zurückgekehrt und hatten Überreste der einstmals stolzen kleinen Ansiedlung in der Bucht der Schlangen-Insel auf der Wasseroberfläche treiben sehen.

Sie, die sie die versunkenen Seelen als Menschen aus Fleisch und Blut gekannt hatten, waren über den schlimmsten Schmerz hinweg. Das Leben hatte ihnen neue Aufgaben und neue Ziele gesetzt. Der entstehende Stützpunkt in der Cherokee-Bucht war das äußere Zeichen dieses Neubeginns. Die Erinnerung verblaßte nicht. Niemals würde auch nur einer aus dem Bund der Korsaren vergessen, wie sie alle gemeinsam dafür gekämpft hatten, ihr Leben in Freiheit auf der Schlangen-Insel zu verwirklichen.

Sie hatten ganz einfach gelernt, mit der Erinnerung umzugehen.

Es war etwas anderes, das tief in ihnen stumme Wut und grenzenlose Niedergeschlagenheit hervorrief.

Es war das unglaubliche Geschehen, dessen Zeugen sie durch einen Zufall geworden waren.

Galgenstricke, denen nichts heilig war, hatten die Grabesruhe gestört. Die toten Freunde von der Schlangen-Insel und von Coral Island hatten ein Recht darauf, daß ihre Ruhe unangetastet blieb – wie jedem Menschen nach seinem Dahinscheiden dieses Recht gewährt wurde.

Sicher, Grabschänder wie One-Eye-Doolin würde es auf der Welt immer wieder geben. Und man konnte nicht einmal erwarten, daß der Küstenpirat aus Cornwall das frevelhafte seines Tuns begreifen würde, wenn man es ihm auseinandersetzte.

Nein, dieser Doolin gehörte zu den Unverbesserlichen. Und er würde alles daran setzen, um die auf dem Grund verstreuten Schätze der Schlangen-Insel in seine habgierigen Finger zu kriegen.

Eben dies wirkte so niederschmetternd auf die Arwenacks und ihre Freunde. Das war auch der Punkt, den Edmond Bayeux und seine normannischen Schrats auf der „Le Griffon“ um keinen Deut anders empfanden. Sie waren nicht Zeugen des Untergangs der Schlangen-Insel gewesen, und sie gehörten auch erst seit kurzem zum Bund der Korsaren, seit sie von den Seewölfen aus der Gefangenschaft bei den Spaniern befreit worden waren.

Doch der Zorn über das Verhalten des räuberischen Gesindels war bei Bayeux und seinen Mannen ebenso stark wie bei den Crews auf der „Isabella“ und der „Caribian Queen“.

Deshalb gab es an Bord der drei Schiffe vom Bund der Korsaren niemanden, der etwas daran auszusetzen gehabt hätte, hier auf die Schnapphähne zu warten. Denn zurückkehren würden sie garantiert. Sie hatten Blut geleckt und ahnten, welcher Reichtum auf dem vulkanisch zerklüfteten Meeresboden zu finden war.

Zu welcher unbeschreiblichen Gier Menschen angesichts von Gold, Silber und Edelsteinen fähig waren, hatten die Arwenacks und ihre Freunde erst vor wenigen Tagen in der Schatzbucht bei Batabanó erlebt. Jetzt, da die drei Schiffe mit den von Don Antonio de Quintanilla angehäuften Schätzen beladen waren, wurden Philip Hasard Killigrew und seine Gefährten abermals mit den Auswüchsen menschlicher Raffsucht konfrontiert.

Dem Seewolf war keineswegs entgangen, wie sehr sich die Stimmung an Bord der „Isabella“ und auch drüben auf der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ in den letzten Stunden verändert hatte. Bei der Begegnung mit One-Eye-Doolin, dem Halunken aus Cornwall, waren sie alle noch zu sehr mit dem beschäftigt gewesen, was sich gerade abgespielt hatte. Nun aber, in der Stille danach, gab es für jeden mehr als genug Zeit zum Nachdenken.

Vergeblich hatte Hasard versucht, die Dinge völlig nüchtern zu betrachten.

Ausgeschlossen.

Er konnte seine Gefühle nicht mit einer Handbewegung beiseite schieben.

Diese Gefühle besagten ganz einfach, daß niemand in diesem Seegebiet bei den Caicos-Inseln etwas zu suchen hatte. So empfanden es auch Siri-Tong und die Männer. Aber wie wollte man das kontrollieren? Nicht im Ernst konnte man ständig darüber wachen, daß die letzte Ruhe der toten Freunde ungestört blieb. Es war das erste Mal seit dem Untergang der Inseln, daß sie hierher zurückkehrten. Wenn Diego, der Schildkrötenwirt auf Tortuga, ihnen nicht von One-Eye-Doolin und seinen Galgenstricken erzählt hätte, wären sie zweifellos direkt zur Cherokee-Bucht zurückgekehrt, ohne auch nur auf die Idee zu verfallen, daß im Gebiet der Schlangen-Insel Leichenfledderer am Werk sein könnten.

Im Augenblick hatte jeden einzelnen an Bord der drei Schiffe dieses Gefühl gepackt, nicht mehr von der Stelle weichen zu dürfen. Vielleicht würden realistischere Gedanken Platz greifen, wenn man den Halunken aus Cornwall erst richtig Dampf unter dem Hintern gemacht hatte.

Natürlich ahnte Doolin nichts von den wahren Gründen, die zu seinen „Funden“ auf dem Meeresboden geführt hatten. Mittels Jollen und Draggen hatten sie heraufgefischt, was sie für Schatzteile einer gesunkenen spanischen Galeone hielten. Wenn sie jemals die Wahrheit erfuhren und ungeschoren mit dieser Erkenntnis das Weite suchten, würde es für den Bund der Korsaren mit dem Frieden wieder einmal vorbei sein.

 

One-Eye-Doolin war der Typ Mensch, der sein Wissen prahlerisch hinausposaunen würde. Angelockt wie Maden vom Speck würden sie in die Karibik einfallen, die Schnapphähne aus der Alten Welt. Und dann würde es auch nicht mehr lange dauern, bis sie alles über den Seewolf herausgefunden hatten und auch den neuen Stützpunkt an der Cherokee-Bucht ernsthaft gefährdeten.

Das Risiko, das One-Eye-Doolin verkörperte, mußte von vornherein beseitigt werden.

In den Gerüchteküchen der englischen Hafenstädte schien es ohnehin mächtig zu brodeln.

Durch den kurzen Besuch bei Diego hatten Hasard und seine Gefährten zum ersten Mal seit langem wieder etwas aus Plymouth gehört. Beim dicken Nathaniel Plymson, dem Schankwirt der „Bloody Mary“ wurden offenbar die wildesten Geschichten erzählt.

Mittelpunkt dieser zweifellos haarsträubenden Geschichten war niemand anders als Philip Hasard Killigrew. Und es gab eine Menge Leute im alten England, von den Hochwohlgeborenen bei Hofe bis hinunter zu den Küsten-Schnapphähnen aus Cornwall, die nur allzu gern gewußt hätten, wo sie den Seewolf, seine legendären Reichtümer oder möglichst beides erwischen konnten.

Wenn ein Bursche wie One-Eye-Doolin nach England zurückkehrte, würde in der Karibik sehr bald eine regelrechte Invasion von Glücksrittern aller Schattierungen einsetzen. Das konnten adlige Strolche sein, wie sie seinerzeit in der Begleitung von Sir John Killigrew in die Neue Welt eingefallen waren. Oder es würden ganze Heerscharen von Burschen im Kaliber des One-Eye-Doolin aufkreuzen.

Was man dagegen tun konnte, mußte getan werden.

Es stand für Hasard unumwunden fest, daß der Einäugige zurückkehren würde. Daß die Gefährten vom Bund der Korsaren ihn als Grabschänder verachteten, konnte Doolin natürlich nicht wissen. Doch wenn er noch einmal zum Zug kam, würde er über kurz oder lang herausfinden, daß die Reichtümer hier auf dem Meeresboden keineswegs von einer gesunkenen spanischen Schatzgaleone stammten.

Der Seewolf riß sich selbst aus seiner Nachdenklichkeit heraus und stieß sich von der Heckbalustrade ab, wo er nun schon eine ganze Weile ausgeharrt hatte.

Ben Brighton, der an der Steuerbord-Verschanzung des Achterdecks stand, wandte sich zu ihm um. Die beiden Männer kannten sich seit vielen Jahren, waren gemeinsam durch die schlimmsten Höllenfeuer gegangen und hatten die wildesten Stürme und Gefechte auf allen Weltmeeren erlebt und überlebt. Nach einer solchen Zeit der Gemeinsamkeit gab es buchstäblich nichts mehr, was man dem anderen nicht an der Nasenspitze ablesen konnte.

Der Seewolf war zu einem Entschluß gelangt. Das sah der Erste Offizier der „Isabella“, ohne zweimal hinschauen zu müssen.

„Es muß sein“, sagte Ben leise. „Wir würden die Erinnerung sonst nur als eine ständige schwere Last mit uns herumschleppen.“

Der Seewolf zog die Brauen hoch und sah ihn erstaunt an.

„Du bist ausnahmsweise der gleichen Meinung wie ich?“

„Das dürfte hin und wieder schon vorgekommen sein. Du hast es wahrscheinlich nur vergessen.“

„So wird es sein.“ Hasard nickte und erwiderte das Lächeln des Ersten. Gleich darauf wurde er wieder ernst. „Ben, ich glaube tatsächlich, wir können nur das eine tun. Wir müssen die Dinge zurückgeben.“

„Natürlich. Ein Grab wurde geplündert – oder besser, man hat begonnen, es zu plündern. Wir stellen den ursprünglichen Zustand wieder her. Arkana und die anderen würden genauso handeln, wenn sie an unserer Stelle wären.“

„Davon bin ich überzeugt“, entgegnete Hasard. Er konnte nichts gegen den seltsamen Druck tun, den er auf einmal in der Kehle verspürte. Seit er die verdammten Galgenstricke bei ihrem Treiben beobachtet hatte, war dieses beklemmende Gefühl immer wieder in ihm aufgestiegen. Er gab sich einen Ruck. „In Ordnung, Ben. Laß die kleine Jolle für mich abfieren. Du übernimmst das Kommando an Bord, bis wir es hinter uns gebracht haben.“

„Aye, aye, Sir“, sagte der Erste Offizier mit rauher Stimme. Er trat an die vordere Schmuckbalustrade des Achterdecks, und gleich darauf hallten seine Befehle über die Decks.

Smoky und eine Gruppe von Männern begannen, die kleine Jolle aus den Verzurrungen zu lösen.

„Mister Carberry!“ rief Ben Brighton.

„Sir?“ Der narbengesichtige Riese ruckte herum und schob das Rammkinn vor. In seinen Augen blitzte die Freude über das Ende der Tatenlosigkeit.

„Teile acht Männer als Jollenbesatzung ein, Ed. Hasard wird die gestohlenen Gegenstände den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben.“

„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Profos knapp.

Die Worte des Ersten hatten ein wenig vibrierend geklungen, und es war deutlich geworden, daß Ben Brighton über die Grabschändung genauso dachte wie alle anderen.

2.

Der Seewolf übernahm es persönlich, die Rückgabe der Fundstücke vorzubereiten. In der zum Fieren fertigen Jolle breitete er ein Stück Persenning vor der Achterducht aus.

Als Rudergasten standen neben Ed Carberry mit steinernen Gesichtern Ferris Tucker, Batuti, Smoky, Bob Grey, Big Old Shane, Luke Morgan und Al Conroy bereit. Alle an Bord hatten sich freiwillig gemeldet, um den toten Gefährtinnen und Gefährten in der Tiefe der See den Dienst der Ehre zu erweisen.

Aber jene, die nun auf der Back und vor der Kombüse stumme Halbkreise bildeten, wußten auch, daß es sich nicht um ein lärmendes Massenunternehmen mit allen verfügbaren Booten handeln durfte. Jeder der Seewölfe verspürte den Wunsch, die Ruhe der Toten zu respektieren.

Den Freunden an Bord der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ erging es nicht anders. Sie hatten inzwischen erkannt, was der Seewolf beabsichtigte. Schweigend stand die Rote Korsarin auf dem Achterdeck des düsteren Schiffes, das einst einer erbitterten Feindin des Bundes der Korsaren gehört hatte. Ungewollt dachte Siri-Tong an jene bedrohlichen Tage, als es der Black Queen und ihrer blutrünstigen Meute gelungen war, die Schlangen-Insel aufzuspüren.

Sie hatten die Gefahr eben noch abwenden können. Eine tödliche Feindschaft hatte sich entwickelt, und es hatte beinahe ewig gedauert, bis die Black Queen endgültig besiegt worden war.

Auch Edmond Bayeux und seine Mannen beobachteten das Geschehen an Bord der „Isabella“ mit stummer Anteilnahme.

Hasard trug als erstes den Kasten mit der in Kork gebetteten Statue in die Jolle. Die Statue war armlang und stellte ein geflügeltes Fabelwesen dar.

Durch die Korkfüllung war dieser Kasten aufgetrieben und hatte One-Eye-Doolin und seine Halunken erst darauf gebracht, daß hier noch mehr zu holen sein könnte.

Das nächste Stück, das der Seewolf vorsichtig auf die Persenning legte, war eine goldene Kette. Wie alle anderen Kostbarkeiten hatte Siri-Tong sie aus der Kapitänskammer von Doolins „Scorpion“ geborgen.

Es folgten eine gekrümmte goldene Schlange mit Augen aus Edelsteinen und einer großen Perle auf dem Kopf, zwei Silberketten und eine kleine Kiste mit Smaragden.

Mit einem Handzeichen gab Hasard Order, die Jolle abzufieren.

Er nahm den Platz auf der Achterducht ein, und die Männer begannen zu pullen – mit verhaltener Kraft, beinahe bedächtig, als wollten sie durch die Ruderschläge niemanden aufschrecken.

Keiner der Männer sprach auch nur ein Wort. Etwas schien ihnen im Hals zu stecken. Sie sahen aus wie kleine Jungen, die an der Hand der Mutter zum ersten Mal im Leben den Barbier aufsuchen, damit er ihnen einen schlechten Zahn herausreißt.

Doch es war ein unendlich beklemmenderes Gefühl, das sie gepackt hatte. Ed Carberry und Ferris Tucker, die auf der Ducht vor Hasard saßen, hatten Gesichter wie aus Stein gemeißelt. Smoky, der Decksälteste, sah aus wie die oft erwähnten drei Tage Regenwetter. Batuti, neben ihm, schien alles von seiner bekannten Heiterkeit verloren zu haben. Nichts war von seinen perlweißen Zähnen zu sehen, die er sonst beim Reden und Lachen nicht verbergen konnte.

Bob Grey starrte krampfhaft auf den breiten Rücken seines Vordermannes Smoky. Nicht einmal wagte er, einen Blick auf die Wasseroberfläche zu werfen, als fürchte er, dort mit einer schaurigen Entdeckung konfrontiert zu werden.

Big Old Shane, der graubärtige Schmied von Arwenack, musterte beim Pullen verstohlen den Seewolf. Ein wenig Besorgnis lag in den Augen des Mannes, der Hasard schon als Kind gekannt hatte – damals, in den Jahren auf der Feste Arwenack in Cornwall. Wenn jemand nachempfinden konnte, wie höllisch dem Seewolf dieses Geschehen an die Nieren ging, dann war es Big Old Shane.

Al Conroy gab sich als Schlagmann verbissene Mühe, behutsam und bedächtig zu pullen, und dabei wußte er, daß die anderen dieses Beispiel, das er ihnen gab, richtig einschätzten. Luke Morgan biß sich beständig auf die Unterlippe und gab damit zu erkennen, daß er sich äußerst unbehaglich fühlte.

Für die Männer in der Jolle und ebenso für jene, die ihnen von den Schiffen aus zuschauten, war es eine weihevolle Handlung, die sie vollzogen.

Sie hatten sich etwa eine Kabellänge von der „Isabella“ entfernt, als Hasard die Hand hob und damit das Kommando zum Streichen gab. Die Männer reagierten im Gleichtakt. Flach auf der Wasseroberfläche verringerten die Riemenblätter die Fahrt des Beiboots.

Kein Muskel bewegte sich im Gesicht des Seewolfs. Er ließ die Ruderpinne los, neigte sich langsam, wie zögernd vor und griff in den mit Kork ausgelegten Holzkasten.

Wie gebannt blickten die Männer in dieses Gesicht, das ihnen so vertraut war und das sie doch niemals zuvor so erlebt hatten wie jetzt. Wie in einer raschen Folge von Bildern, in düsteren Farben gezeichnet, wurden die Geschehnisse seit Potosi und den Galápagos-Inseln in ihnen wach.

Deutlicher als in all den Tagen seit jenen Ereignissen schien in diesem Moment die Veränderung, die mit dem Seewolf vor sich gegangen war. Silbergrau bildete sein Schläfenhaar einen scharfgezeichneten Kontrast zu seinem schwarzen Haupthaar. Es war dieser Farbkontrast, der wie sinnbildlich für die furchtbare Stichwunde stand, von der Hasard in einem langwierigen und kräftezehrenden Kampf gegen den Tod genesen war.

Zu einer neuen Narbe war die Schnittwunde verheilt, die unter der alten Narbe von der rechten Stirnseite über die linke Augenbraue und die linke Wange verlief. Die manchmal erschreckende Härte in den Gesichtszügen des Seewolfs war in jenen Tagen der schwersten Schicksalsprüfungen entstanden.

Seine Gefährten erinnerten sich sehr genau daran, wie die Gewißheit über den Tod Arkanas einen jähen Wandel in Hasard hervorgerufen hatte. Seither war er schweigsamer geworden und oftmals tief in Gedanken versunken. Zwar vermochte er auch heute noch die wilde Ausgelassenheit und die johlende Heiterkeit der Arwenacks zu teilen – besonders dann, wenn sie einen mörderischen Kampf heil überstanden hatten. Doch die Zeiten, in denen sie ihn schweigsam erlebten, überwogen mittlerweile. Gelegentlich kam er ihnen auch bissig vor, mißtrauisch wie ein alter, einsamer Wolf.

Gewiß, das Schicksal hatte es selten freundlich gemeint mit diesem großen Mann, dessen hochaufgerichtete Statur auch ein äußeres Zeichen seines, Charakters war. Schon seine Kindheit war unter finsteren Vorzeichen verlaufen. Von Lady Anne Killigrew als Findelkind geraubt und in die Sippschaft der Küstenpiraten von Arwenack einverleibt, war er unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen herangewachsen.

Die Tatsache, daß er sich aus dem Halsabschneider-Milieu freigekämpft hatte, war eines der nicht mehr unterdrückbaren Zeichen seiner charakterlichen Geradlinigkeit gewesen. Die Zeit unter dem Kommando von Sir Francis Drake, die Kaperfahrten mit eigener Mannschaft und eigenem Schiff und schließlich der Ritterschlag durch Königin Elizabeth I. waren erhebende Momente für ihn und seine Freunde gewesen.

Doch die Schattenseiten des Lebens und die Auswirkungen menschlicher Niedertracht hatten ihn immer wieder eingeholt. Er hatte Gwendolyn verloren, die Mutter seiner Söhne. Die Spurensuche nach seinen unglückseligen Eltern hatte letztlich nur zu der Erkenntnis geführt, daß ihnen ein grausames Schicksal vorbestimmt gewesen war.

Er hatte aber seine Söhne wiedergefunden, die der Mutter entrissen worden waren, und sie bedeuteten die wirklich große Freude seines Lebens. Beinahe ein Zufall war es gewesen, daß er seinen Vetter Arne von Manteuffel kennengelernt hatte. Ein Zufall, der zu ihrem heutigen gemeinsamen Kampf für ein freiheitliches Leben geführt hatte.

 

Aber auch diese glückliche Fügung hatte einen Hauch von Bitterkeit. Denn der schlimmste Verlust seines Lebens war für Arnes Entschluß ausschlaggebend gewesen, sich dem Bund der Korsaren anzuschließen. Seine Braut war getötet worden, bevor das Leben für sie beiden auch nur hatte beginnen können.

Dunkle Schatten waren auch auf jene festen Überzeugungen gefallen, die für den Seewolf stets unumstößlich gewesen waren. Er hatte lernen müssen, daß der englische Königshof, die adlige Gesellschaft und der hohe Personenkreis aus Regierung und Parlament offenbar nur bei einem einfältig denkenden Menschen als ehrenvoll, stets korrekt und über alle Zweifel erhaben gelten konnte.

Philip Hasard Killigrew hatte begreifen müssen, daß Ränke und Intrigen, Niedertracht und Neid, Machtgier und Raff sucht das Denken und Handeln vieler Adliger bestimmten, die sich nach außen hin als sehr ehrenwert und in jedem Sinne des Wortes hochwohlgeboren präsentierten.

Diese Erkenntnisse waren auch für Hasards Gefährten entscheidend gewesen, als sie damals beschlossen hatten, England den Rücken zu kehren und in der Karibik ein neues Leben zu beginnen. Sie hatten von vornherein gewußt, daß dieses Leben – gemeinsam mit Arkana und ihren Brüdern und Schwestern – nicht frei von Gefahren sein würde. Doch sie hatten in ihren düstersten Alpträumen nicht befürchtet, daß es erneute grausame Schicksalsschläge geben würde.

Der Tod Arauas war ein solcher Schlag gewesen. Dann die schwere Verwundung Hasards, die fast auch ihn umgebracht hätte. Schließlich der Tod Arkanas und der vielen Freunde. Und der Untergang der Schlangen-Insel.

Es hatte den Männern und Frauen vom Bund der Korsaren das Gefühl gegeben, alles verloren zu haben. Aber sie hatten sich aus Trauer und dumpfer Niedergeschlagenheit aufgerichtet und mit neuem Mut zugepackt.

Jetzt, in dem Augenblick, da all die Geschehnisse wachgerufen wurden, gedachten sie auch der letzten Worte Arkanas, die Siri-Tong dem Seewolf übermittelt hatte.

Hasard hob die goldene Statue aus dem Holzkasten und hielt sie mit beiden Händen hoch.

„Arkana“, sagte er, und sein Blick war dabei durch die Männer hindurch in eine unendliche Ferne gerichtet. „Meine Freunde und ich werden weiter für die Freiheit kämpfen.“

Der Klang seiner Stimme jagte den Männern einen Schauer über den Rücken. Sie wußten alle: Diese Worte, die der Seewolf eben ausgesprochen hatte, waren das Vermächtnis Arkanas für sie. Es war das Vermächtnis der Schlangenpriesterin, die den Untergang der Schlangen-Insel und ihren eigenen Tod vorhergesehen hatte. Ebenso, wie auch Araua ihren Tod geahnt hatte. Hasard beugte sich zur Seite, tauchte die Statue unter Wasser und löste seinen festen Griff.

Mit einem goldfarbenen Flirren verschwand der kostbare Kultgegenstand in der Tiefe der kristallklaren Fluten.

Hasard forderte die Männer mit einem Nicken auf, weiterzupullen. Sie verstanden. Er wollte die Fundstücke in weitem Umkreis verteilen, um etwaigen künftigen Grabschändern die Suche zu erschweren.

Diese jetzt so klaren Fluten erinnerten durch nichts mehr an das Bild des Schreckens, das sich den Heimkehrenden damals geboten hatte. Schwarz vom Ruß des unterseeischen Vulkanausbruchs war das Wasser gewesen, und es hatte ihnen allen einen Schauer über den Rücken gejagt.

Jerry Reeves und die Männer, die seinerzeit mit der „Isabella“ auf Patrouillenfahrt um Coral Island und die Schlangen-Insel gewesen waren, hatten das furchtbare Geschehen als erste Augenzeugen miterlebt. Doch glücklicherweise waren sie so weit entfernt gewesen, daß ihnen das durch den Vulkanausbruch ausgelöste Seebeben nichts hatte anhaben können.

An einen Navigationsfehler hatten Reeves und seine Gefährten anfangs geglaubt. Sie hatten zunächst auf Coral Island nach dem Rechten sehen wollen und geglaubt, die vertraute Insel verfehlt zu haben. Dann aber, durch schwimmende Trümmer der Timucua-Hütten, haben sie die schreckliche Gewißheit erlangt: Coral Island war untergegangen. Es hatte keine Überlebenden gegeben.

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