Seewölfe - Piraten der Weltmeere 344

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 344
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Burt Frederick

Die Todesfalle

Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-741-9

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Noch verbarg sich die Küste hinter jenem Dunst, der für dieses Land mit seiner Feuchtigkeit und seiner Hitze so typisch war.

Aber Don Bruno Spadaro ließ sich nicht täuschen. Er hatte diesen Teil der Neuen Welt mit allen guten und schlechten Seiten kennengelernt und wußte, daß ihn nur noch wenige Seemeilen von Pensacola trennten.

Die Gedanken des stämmigen Mannes waren düster. Alle äußeren Eindrücke, denen er nun schon seit Stunden ausgesetzt war, trieben seine Stimmung immer mehr dem Tiefpunkt entgegen. Da war der beißende Brandgeruch, der buchstäblich auf den Decks der „Galicia“ haftete und sich selbst von dem handigen Südsüdwest nicht verscheuchen ließ. Und da war der Anblick dessen, was vom Fockmast übriggeblieben war – ein zersplitterter Stumpf, der eben noch über die Balustraden der Back hinausragte.

Es schmerzte Don Bruno Spadaro, dies ertragen zu müssen. Noch schlimmer war, daß er seine Niedergeschlagenheit nicht zeigen durfte. Nach außen hin mußte er der harte, unbeugsame Kapitän seiner Allerkatholischsten Majestät bleiben, den der Anblick seines waidwunden Schiffes nicht im mindesten zu rühren schien. Denn die Mannschaft brauchte eine starke Hand, und das galt besonders in Situationen von dieser Art. Brach er selbst in Gejammer und Wehklagen aus, dann war es bald auch mit der Moral der Crew endgültig vorbei.

Spadaro erblickte die Statur von Don Angelo Baquillo beim Niedergang an Steuerbord. Baquillo enterte auf, und sein Gesicht erhellte sich, als er Don Bruno sah. Mit schnellen, zielstrebigen Schritten ging er auf den Kapitän der Kriegsgaleone zu. Spadaro nahm ihn beiseite und trat mit ihm an die Heckbalustrade. Was für die Mannschaft galt, galt in diesem Fall auch für die Offiziere, die sich auf dem Achterdeck aufhielten: Deprimierende Worte waren nicht für ihre Ohren bestimmt.

Spadaro musterte den Kommandanten des Lagers an der Waccasassa-Bucht und rang sich ein Lächeln ab. Baquillo trug saubere Kleidung, sein dunkles Haar war geordnet, desgleichen der Schnauzbart.

„Sie sehen wieder menschlich aus, Don Angelo. Ein Segen, daß unsereins die Spurea des Geschehenen so rasch abschütteln kann. Was an der Waccasassa-Bucht geschehen ist, muß furchtbar gewesen sein.“

Baquillo schüttelte den Kopf.

„Das empfinden Sie jetzt, Don Bruno, weil Sie sich in einer ähnlichen Lage befinden. Halten Sie sich lieber an das, was Sie vorher sagten. Was geschehen ist, verblaßt. Gottlob haben wir Menschen die Fähigkeit, sehr schnell zu vergessen. Sonst würden wir aus unserem Jammertal wohl nie herauskommen.“

„Wir sind keine alten Weiber“, sagte Spadaro rauh. „Unser Volk hat die Neue Welt erobert. Das ist das Holz, aus dem wir geschnitzt sind.“

„So gefallen Sie mir schon besser“, entgegnete Baquillo mit einem zufriedenen Nicken. „Und warten Sie nur ab: Auch die ‚Galicia‘ wird bald wieder ein stolzer Anblick sein.“

„Davon bin ich noch nicht überzeugt. Unsere zuständigen Beamten urteilen nicht nach persönlichen Empfindungen. Wenn Art und Umfang der Schäden zu groß sind, dann bedeutet es eben das Ende für dieses Schiff. Sie kennen die Maßstäbe, wann ein Neubau rentabler wird.“

Don Angelo Baquillo schwieg betreten.

„Am schlimmsten ist aber“, fuhr Spadaro fort, „daß wir diesen verfluchten Bastard aus England nicht verfolgen können. Daß man gezwungen ist, wie ein geprügelter Hund davonzu…“

Ein gellender Ruf aus dem Großmars unterbrach ihn.

„Deck! Galeone Backbord voraus!“

Auf der Kuhl verstummten Kommandos und Gespräche der Mannschaft. Auf dem Achterdeck eilten die Offiziere mit ihren Spektiven nach Backbord. Spadaro und Baquillo folgten ihrem Beispiel. Die hochwertigen Gläser, mit denen Kapitän und Offiziere ausgerüstet waren, lieferten ein passables Bild.

Was sich aus dem milchiggrauen Dunst schälte, sah zu Anfang aus wie ein schemenhaftes Geisterschiff. Dann aber wurden die Konturen rasch klarer und entwickelten sich zu einer Kriegsgaleone von stattlichen Ausmaßen.

„Das ist doch …“ Don Bruno Spadaro hielt verblüfft inne und drehte an der Justierung seines Spektivs. „Por dios, das ist in der Tat die ‚Santa Teresa‘! Mich soll der Schlag treffen, wenn ich nicht weiß, warum Don José ausgelaufen ist.“

„Sie sprechen von dem Kapitän dieses Dreimasters?“ fragte Baquillo.

„So ist es“, sagte Spadaro strahlend, „Don José Isidoro, ein guter alter Freund von mir. Er ist in Pensacola stationiert, das weiß ich.“

„Und jetzt vermuten Sie, daß man den Gefechtslärm gehört hat? Daß man nach dem Rechten sehen will?“

Spadaro ließ das Spektiv sinken und nickte. Seine Kopfbewegung hatte etwas fast Andächtiges. Wie gebannt beobachtete er die „Santa Teresa“, die bereits auf weniger als sechs Kabellängen herangesegelt war.

Von der imposanten Galeone war Befehlsgebrüll zu hören. Die Segel wurden aufgefiert. Isidoro hatte also die Absicht, mit der „Galicia“ Sprechkontakt aufzunehmen. Spadaro kam sich fast lächerlich vor, als er Order gab, die schäbigen Reste von Tuch wegzunehmen, die seinem Schiff noch Vortrieb gaben.

Wenig später hatten sich die beiden Galeonen auf Rufweite genähert. Für Don Bruno Spadaro war es ein Bild von niederschmetternder Unterschiedlichkeit. Er fühlte sich klein und häßlich wie sein Schiff, zerschunden und krank, ein Lahmer, der nach Hause kroch. Isidoro und die „Santa Teresa“ erschienen dagegen als großer, starker Bruder, der loszog, um die Schlappe des kleinen Erfolglosen auszubügeln.

„Hola, Don Bruno, alter Freund!“ brüllte Isidoro vom Achterdeck der „Santa Teresa“ herüber. „Was, in aller Welt, ist mit Ihnen passiert?“

„Sieht man das nicht?“ entgegnete Spadaro in der gleichen Lautstärke und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die ramponierten Decks der „Galicia“.

Dann berichtete er in knappen Worten, was sich in der Waccasassa-Bucht zugetragen hatte und wie die Anwesenheit Don Angelo Baquillos und seiner Männer zu erklären war. Während er die Begegnung mit den englischen Bastarden und der von den Timucua-Indianern gekaperten „San Donato“ schilderte, spürte Spadaro erneut die Wut über die erlittene Niederlage in sich aufsteigen.

„Das ist ungeheuerlich!“ rief Don José Isidoro. „Wir werden diese indianischen Teufel und die Britenhunde zur Rechenschaft ziehen, Don Bruno, das schwöre ich Ihnen! Ja, wir werden blutige Rache üben, da können Sie ganz sicher sein.“

„Ich will Sie nicht beleidigen, Don José“, entgegnete Spadaro, „aber meinen Sie, daß Sie das allein schaffen? Bei aller Hochachtung für Ihre und Ihrer Mannschaft Kampfkraft – diese verfluchten Engländer sollte man nicht unterschätzen.“

Kapitän Isidoros Lachen hallte dröhnend über das Wasser zwischen den beiden Schiffen.

„Keine Sorge, Don Bruno. Der Hundesohn, der die ‚Santa Teresa‘ bezwingen will, muß erst noch geboren werden. Im übrigen gibt es zur Zeit keine andere brauchbare Galeone im Hafen von Pensacola. Bitte richten Sie in der Kommandantur aus, daß ich die Fahrt unverzüglich fortgesetzt habe, um die Britenhunde auf den Meeresgrund zu schicken. Außerdem werden wir den Timucuas den entscheidenden Denkzettel verpassen.“

Spadaro versprach, die Befehlshaber in Pensacola entsprechend zu informieren. Dann blickte er gedankenverloren der „Santa Teresa“ nach, wie sie über Steuerbordbug segelnd auf Kurs Westsüdwest ging.

Weithallende Hammerschläge und das Kreischen von Sägen begleiteten den Seewolf, als er an diesem Vormittag des 14. September 1593 in die bereits abgefierte kleine Jolle abenterte. Es war ein schwerer Weg, um den ihn niemand an Bord der „Isabella“ beneidete. Dennoch hatte er mit Engelszungen reden müssen, um all jene zurückzuweisen, die darauf bestanden hatten, ihn zu begleiten.

Die Instandsetzungsarbeiten an Bord der schlanken Galeone hatten bereits in vollem Umfang begonnen. Unter Leitung von Ferris Tucker waren die Männer dabei, einige Gefechtsschäden auszubessern.

Hasard blickte nicht zurück, während er sich auf die mittlere Ducht setzte und die Riemen in die Dollen legte. Nein, er mußte diese Aufgabe allein bewältigen. Gewiß, die Gefahr war groß, das Risiko unkalkulierbar. Aber es ergab keinen Sinn, auch nur einen einzigen weiteren Mann dieser Unwägbarkeit auszusetzen.

Er mußte damit rechnen, daß er sich ansteckte. Wenn er auch nur einen Fuß auf die Planken der „San Donato“ setzte, konnte das bedeuten, daß er kurze Zeit später an dem tückischen Fieber erkrankte. Aber er hatte keine andere Wahl. Es mußte ihm gelingen, sich mit dem Häuptling der Timucua zu verständigen.

 

Hasard stieß die Jolle von der Bordwand der „Isabella“ ab und begann zu pullen. Jetzt sah er Ben Brighton auf dem Achterdeck, wie er ihm mit sorgenvoller Miene nachschaute. Auch etliche andere waren zu sehen – Big Old Shane, der alte O’Flynn und die Zwillinge, neben ihnen die Bordhündin Plymmie mit den Vorderpfoten auf dem Schanzkleid. Hasard mußte grinsen, trotz allem. Samt und sonders zogen sie Gesichter wie drei Tage Regenwetter, und nicht einmal Plymmie bildete da eine Ausnahme. Es war überhaupt erstaunlich, welchen fast menschlichen Verstand die Wolfshündin manchmal entwickelte.

„So schnell werdet ihr mich nicht los!“ rief der Seewolf. „Reißt euch gefälligst zusammen.“

Sie reagierten mit einem müden Winken. Sehr überzeugt schienen sie von seiner Zuversicht nicht zu sein. Dabei lebten sie mehr oder weniger alle mit der Ansteckungsgefahr. War es anfangs Asiaga gewesen, die sie an Bord der „Isabella“ gesundgepflegt hatten, so befanden sich jetzt die fieberkranken Timucua-Indianer aus der Waccasassa-Bucht in der Krankenkammer unter der Back. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war ein gewisses Risiko also auch auf der „Isabella“ selbst nicht ausgeschlossen.

Das änderte aber nichts daran, daß die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, auf der „San Donato“ ungleich größer war.

Hasard pullte mit kraftvollen Schlägen und trieb die Jolle zügig auf die Galeone der Indianer zu. Auf beiden Schiffen waren die Segel aufgegeit und Treibanker ausgebracht worden. In keiner Himmelsrichtung zeigten sich Mastspitzen am Horizont, es herrschte also keinerlei Gefahr. Die „Galicia“ hatte schwer gerupft die Flucht ergriffen, und ihr Kapitän hätte schon ein hirnloser Narr sein müssen, wäre er noch einmal umgekehrt. Dessen ungeachtet waren aber die Ausguckposten auf der Hut.

Hasard wandte den Kopf und sah, daß ihn nur noch wenige Yards von der „San Donato“ trennten. Er manövrierte die Jolle an die Jakobsleiter heran, holte die Riemen ein und vertäute das Boot.

Das Schiff, soviel ließ sich aus der Nähe erkennen, war sorgfältig und solide gebaut. Die Timucua-Indianer, die auf der Werft in der Waccasassa-Bucht zur Zwangsarbeit verurteilt gewesen waren, hatten hervorragende Arbeit geleistet. Sie kannten dieses Schiff, das sie nach der blutigen Revolte in der Bucht an sich gebracht hatten, und waren mit jeder einzelnen Planke und mit jedem Nagel vertraut. Aber ihnen fehlte das seemännische Können, und so waren sie auf die Hilfe jener fünf Spanier angewiesen, die sie als Gefangene mit an Bord genommen hatten.

Der Seewolf gab sich einen Ruck. Ohne zu zögern, enterte er auf und trat durch die Pforte im Schanzkleid. Er verharrte. Die Eindrücke trafen ihn mit jäher Intensität.

Aus den Unterdecksräumen drang das Stöhnen der Kranken, dazu die Schreie jener, deren gepeinigte Körper von Fieberkrämpfen gepackt und geschüttelt wurden. Das ganze Schiff war erfüllt von diesen Lauten menschlichen Leidens, und sie trafen den Seewolf bis ins Mark.

Überall auf den Decks hockten Menschen in apathischer Regungslosigkeit – Frauen, Kinder und alte Leute. Nur ihre Augen waren auf den großen schwarzhaarigen Engländer gerichtet. Hoffnung vermochte Hasard in diesen Augen nicht zu lesen, nur so viel, daß sich diese bedauernswerten Menschen mit ihrem Schicksal abgefunden hatten und keine Erwartungen mehr hegten.

Vier Spanier waren damit beschäftigt, den knapp dreißig gesunden Timucua-Männern Anweisungen zu geben, ihnen in der Kürze der Zeit das Notwendigste an seemännischem Wissen zu vermitteln.

Der fünfte Spanier erwartete den Seewolf an der Seite des Häuptlings. Shawano war ein großer, wuchtig gebauter Mann um die sechzig Jahre. Sein Haar war schlohweiß, das bronzehäutige Gesicht von vielen scharfen Furchen durchzogen.

Shawano hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ein kaum erkennbares Lächeln kerbte sich in seine Mundwinkel, als der hochgewachsene Mann aus dem fernen England auf ihn zutrat. Die Bekleidung des Häuptlings bestand aus dünnem, weichem Leder, und das hemdartige Oberteil wurde von feinen Rohhautschnüren anstelle von Knöpfen zusammengehalten. Die Beinkleider reichten bis auf die Knöchel, die weichen Ledersandalen waren gleichfalls mit Rohhautschnüren zusammengefügt.

„Ich begrüße Sie mit großer Freude, Señor Capitán“, sagte Shawano in einem kehligen Spanisch, „ich, Shawano, Häuptling der Timucua.“ Aus seiner Stimme klang ungebrochene Selbstsicherheit. Er repräsentierte den Stolz seines Volkes, das sich auch durch schlimmste Schicksalsschläge nicht zu winselnden Kreaturen erniedrigen ließ.

„Mein Name ist Philip Hasard Killigrew“, entgegnete der Seewolf mit einer angedeuteten Verneigung. „Ich bin hier, um mit Ihnen über die Zukunft zu reden, Shawano.“

Der weißhaarige Mann nickte, schwieg einen Moment und dachte offenbar nach. Dann wandte er sich dem Spanier an seiner Seite zu und redete in der Sprache der Timucua auf ihn ein. Der Spanier, ein muskulös gebauter mittelgroßer Mann, glich in seinem Äußeren schon mehr den Indianern als seinen weißen Landsleuten. Ein Stirnband hielt seine halblangen schwarzen Haare zusammen, um den linken Oberarm trug er einen Metallreif, eine leichte offene Weste war alles, womit er seinen kräftigen Oberkörper bedeckte. Das schwere Entermesser steckte ohne Scheide unter seinem Hosengurt, die Füße des Spaniers waren nackt.

Shawanos Redefluß endete nach einem bekräftigenden Knurrlaut.

Der Spanier blickte den Seewolf an.

„Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle, Señor Killigrew. Mein Name ist Marcos. Ich habe zwei Jahre in der Siedlung an der Waccasassa-Bucht gelebt und kenne mich in der Sprache der Timucua sehr gut aus. Häuptling Shawano sagt, daß seine Spanischkenntnisse nicht ausreichen, um sich so zu bedanken, wie er es gern möchte. Ich soll Ihnen sagen, daß er und sein Volk sich zutiefst in Ihrer Schuld fühlen. Ohne Sie und Ihre Männer läge diese Galeone jetzt auf dem Grund der See, und keiner von uns wäre noch am Leben. Im Namen meiner vier Freunde schließe ich mich diesem Dank an, Señor Killigrew.“ In Marcos’ Augen stand ein fast ehrfürchtiges Leuchten.

„Wir haben das getan, was für uns selbstverständlich ist“, sagte Hasard.

Marcos übersetzte, und Shawano antwortete mit wenigen abgehackt klingenden Worten.

„Der Häuptling meint, daß Sie zu bescheiden sind“, sagte der Spanier, „er fragt, wo Sie das Palaver führen möchten, in der Kapitänskammer oder auf dem Achterdeck. Er ist mit den Gepflogenheiten der Europäer nicht vertraut und möchte Sie nicht beleidigen.“

„Auf dem Achterdeck ist es luftiger“, entgegnete Hasard lächelnd, „eine Frage vorweg, Marcos: Sie und Ihre Freunde sehen nicht aus wie Gefangene, die von den Timucua geknechtet werden. Täusche ich mich?“

„Nein, ganz und gar nicht, Señor Killigrew. Es ist so: Wir hatten schon lange die Nase voll von unserem Kommandanten. Don Angelo Baquillo ist ein Menschenschinder, anders kann man es nicht nennen. Daß die Indianer rebelliert haben, war zu erwarten. Es geschah Baquillo und seinen Gefolgsleuten recht. Man muß sich schämen, wenn man daran denkt, wie niederträchtig sie die Timucua behandelt haben. Meine Freunde und ich sind da einer Meinung.“

„Aber Sie wurden doch von den Timucua gefangengenommen“, sagte der Seewolf zweifelnd, „Sie sind doch nicht freiwillig an Bord dieses Schiffes gegangen.“

„Das ist richtig, Señor Killigrew. Nur wurde uns nach und nach klar, auf welcher Seite wir wirklich stehen. Was glauben Sie, wie wir uns bei dem Gefecht mit der ‚Galicia‘ gefühlt haben! Weder Don Angelo Baquillo noch Don Bruno Spadaro, der Kapitän, haben Rücksicht darauf genommen, daß sich Landsleute an Bord der ‚San Donato‘ befinden.“ Marcos preßte für einen Moment grimmig die Lippen aufeinander, ehe er fortfuhr. „Das sagt alles, denke ich. Wir sind jetzt richtige Überläufer, wenn Sie so wollen. Wir haben keine Lust mehr, unseren Kopf für die spanische Krone und das sogenannte Vaterland hinzuhalten. Treue Soldaten sind wir die längste Zeit gewesen. Lieber bieten wir Ihnen unsere Dienste an. Sie haben uns schließlich auch vor dem bitteren Ende bewahrt.“

Hasard konnte in den Gesichtszügen des Mannes lesen, daß er die Wahrheit sagte. Man konnte ihm glauben. Ob es sich mit den anderen vier Spaniern genauso verhielt, mußte sich noch herausstellen.

„Vorerst geht es nur darum, daß wir den Indianern aus der Klemme helfen“, sagte der Seewolf, „dann sehen wir weiter.“

Mit einer Handbewegung deutete er auf das Achterdeck. Shawano nickte und ging mit würdevollen Schritten voraus. Hasard und Marcos folgten ihm.

Aus der erhöhten Position vor der Heckbalustrade war die beklemmende Situation an Bord der „San Donato“ noch deutlicher zu überblicken. Die alten Leute, die Frauen und Kinder wirkten verängstigt wie in die Enge getriebene Tiere. Die Furcht machte sie stumm und hilflos, und diese Furcht wurde ständig geschürt vom Stöhnen und Schreien der Kranken aus den unteren Decksräumen.

Selbst wenn Shawano sofort zustimmte, gab es keine Möglichkeit, die ursprünglichen Pläne sofort in die Tat umzusetzen, soviel stand für Hasard schon jetzt fest. Es war undenkbar, daß die Indianer in ihrer jetzigen Verfassung bis zu den Caicos-Inseln segelten.

Insgesamt befanden sich etwa 130 Menschen an Bord der „San Donato“, und mindestens dreißig von ihnen lagen fieberkrank unter Deck. Jeden Tag konnte die Zahl der Kranken zunehmen. Damit bestand auch die Gefahr, daß sich die Zahl der einsatzbereiten Timucua-Männer an Bord weiter verringerte. Marcos und seine vier Freunde waren ohnehin überfordert, und eine Notcrew von der „Isabella“ hätte nur dazu geführt, daß die Galeone des Seewolfs hoffnungslos unterbemannt gewesen wäre.

Hasard wandte sich dem Häuptling zu und begann damit, seine Pläne zu schildern. Immer mehr zeigte sich ein Leuchten in den Augen des alten Mannes, während Marcos Satz für Satz übersetzte.

Anschaulich berichtete der Seewolf über das freie Leben, das er und seine Männer mit ihren vielen treuen Freunden auf einer eigenen Insel in der Karibik führen wollten. Er sprach von der schwierigen Versorgungslage, die sie noch nicht geklärt hatten. Und er erzählte von der Insel, die sie „Coral Island“ getauft hatten, die Koralleninsel.

Dort; so sagte Hasard, sollten große Versorgungsplantagen angelegt werden, und eben dort gäbe es genügend fruchtbaren Boden und auch Trinkwasser, so daß der gesamte Stamm der Timucua ein Leben in Frieden und Freiheit führen könnte.

„Es muß das Paradies sein“, sagte der weißhaarige alte Mann, und in seinen Augen standen Tränen. „Für mein Volk wird ein Traum wahr werden, Señor Killigrew. Es ist die Verheißung, an die wir schon nicht mehr geglaubt haben. Zu groß war das Leid, das meine Brüder und Schwestern ertragen mußten, und zu viele sind ins Jenseits gegangen.“

„Tamao hat ähnliche Worte gebraucht“, erwiderte der Seewolf gerührt, „wenn wir ihn und Asiaga nicht zufällig gefunden hätten, wären wir jetzt nicht hier.“

„Und das Volk der Timucua wäre dem Untergang geweiht“, sagte Shawano dumpf, „wie steht es mit Tamao und Asiaga? Wir alle waren in großer Sorge um sie.“

„Die beiden sind wohlauf“, antwortete Hasard, „Asiaga konnte vom Fieber geheilt werden. Jetzt betreut sie gemeinsam mit Tamao die zehn Kranken, die wir in der Waccasassa-Bucht noch an Bord genommen haben. Deshalb konnten Tamao und Asiaga mich auch nicht zu dieser Unterredung begleiten, sie werden bei der Betreuung der Kranken dringend gebraucht.“

Shawano schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf.

„Sie brauchen sich für nichts zu rechtfertigen, Señor Killigrew. Jedes Wort aus Ihrem Mund ist ehrlich und wahr. Sie reden nicht mit gespaltener Zunge, wie es die Spanier tun, die uns unterdrückten. Nehmen Sie meinen feierlichen Schwur an, daß mein Volk treu auf Ihrer Seite steht, wie auch immer Ihre Entscheidungen sein mögen.“

„Das gilt auch für meine Freunde und mich“, sagte Marcos bekräftigend.

Hasard atmete tief durch. So viel offenherziger Dank brachte ihn in Verlegenheit, weder er noch seine Männer erwarteten dies. Was sie getan hatten und noch tun würden, entsprach der Menschlichkeit, die ihr Denken bestimmte.

„Vorläufig können wir nicht daran denken, in die Karibik aufzubrechen“, sagte der Seewolf, „wir würden höllischen Schiffbruch erleiden. Egal, wie wir es drehen und wenden, die Timucua müssen erst einmal gesund werden.“

„Das ist auch meine Meinung“, pflichtete ihm Marcos bei, „die Gesunden an Bord sind zwar willig, und sie lernen auch schnell. Aber man kann diese Männer nicht in zwei, drei Tagen zu voll tauglichen Decksleuten ausbilden. Im übrigen“, er deutete nach achtern, „werden wir uns wohl nach dem Wetter richten müssen. Es wird uns den Kurs aufzwingen.“

 

Hasard wandte sich um, und auch Shawano blickte sorgenvoll in die angegebene Richtung. In der kurzen Zeitspanne an Bord der „San Donato“ hatte der weißhaarige alte Mann begriffen, wie lebensentscheidend jeglicher Wettereinfluß für einen Seefahrer war.

Über der südlichen Kimm hatte sich der Himmel verdüstert. Hier, im nordwestlichen Teil des Golfes von Mexiko, schien die Witterung unberechenbar. Gab es manchmal tage- und wochenlange Beständigkeit, so erfolgten Wetterumschwünge oft innerhalb von Stunden oder noch kürzeren Zeitabständen.

Wie zur Bestätigung von Marcos’ Worten frischte der Wind unvermittelt auf. Eine erste Bö fauchte über die Decks, dann wurde es wieder ruhiger.

Hasard sah den Spanier an.

„Es gibt nur eins, Marcos: Wir müssen so schnell wie möglich die Küste anlaufen. Dann gilt es, für die ‚San Donato‘ eine geschützte Bucht zu finden. Dort werden wir sie in ein Lazarettschiff umwandeln und alle Kranken gründlich auskurieren.“

Marcos nickte.

„Wir müssen damit rechnen, daß wir bald an die fünfzig Fieberkranke haben. Neben den ernsthaft Erkrankten unter Deck haben wir bei fast zwanzig weiteren die ersten Anzeichen der Krankheit festgestellt.“

„Die zehn Kranken an Bord der ‚Isabella‘ müssen wir hinzurechnen“, entgegnete der Seewolf, „die Lage wird also von Tag zu Tag schwieriger, bevor unser Feldscher mit der Versorgung der Kranken beginnen kann. Kennen Sie sich an der Küste aus, Marcos?“

Der Spanier nickte.

„Si, Señor. Ich kenne sogar einen Platz, der für unser gemeinsames Vorhaben besonders gut geeignet ist. Dort werden wir so sicher sein wie in Abrahams Schoß. Es gibt dort keine Spanier, keine Piraten und auch keine feindlichen Indianerstämme, die uns etwas anhaben können.“

„Na, na“, antwortete Hasard lächelnd, „übertreiben Sie da nicht? Wirklich sicher kann man nirgendwo auf der Welt sein.“ Er ahnte nicht, wie sehr sich diese Bemerkung noch bestätigen sollte.

„Ich spreche die Wahrheit“, beteuerte Marcos mit ernster Miene, „ich, kenne die Küste nördlich unserer jetzigen Position sehr genau, und zwar von mehreren früheren Reisen an Bord spanischer Schiffe. Was ich meine, ist ein großer See, der eine schiffbare Verbindung zum Meer hat. Französische Freibeuter haben ihm vor Jahren den Namen ‚Lake Pontchartrain‘ gegeben.“

Die zweite Bö fauchte über die Decks der „San Donato“, und unwillkürlich zogen die gepeinigten Menschen an Bord die Köpfe ein. Sie spürten, daß Unheil in der Luft lag. Hasard brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß die düstere Wand über der südlichen Kimm mittlerweile größer geworden war.

„Marcos hat recht, Señor Killigrew“, sagte Shawano, „wir brauchen einen sicheren Ort, und wir müssen ihn so schnell wie möglich erreichen.“

Der Seewolf nickte gedankenverloren. Man konnte das Für und Wider abwägen, wie man wollte, es blieb doch nur die eine mögliche Entscheidung: Sie mußten diesen Lake Pontchartrain anlaufen. Denn an erster Stelle stand für Hasard die Aufgabe, die Timucua in Sicherheit zu bringen und die Kranken unter ihnen vom tückischen Sumpffieber zu heilen.

Immerhin: Asiaga war wieder völlig genesen. Es bestand also auch für ihre Stammesbrüder und -schwestern berechtigte Hoffnung. Aber es war keine Zeit mehr zu verlieren, das Notlazarett mußte so schnell wie möglich eingerichtet werden.

Denn nach allem, was der Seewolf an Bord der „San Donato“ gesehen hatte, gab es für ihn in einem Punkt nicht mehr den geringsten Zweifel: Eine lange Überfahrt zu den Caicos-Inseln würde noch mehr Tod und Verderben bringen. Vielleicht würde eine solche Überfahrt sogar den völligen Untergang dieser bedauernswerten Menschen bedeuten.

Das Fieber konnte sie alle hinwegraffen, wenn nicht schleunigst etwas getan wurde.

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