Seewölfe - Piraten der Weltmeere 155

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 155
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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-479-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Das Gemurmel mehrerer hundert Stimmen lag über dem Marktplatz von Saint Mary. Es war eine Geräuschkulisse, die etwas Erwartungsvolles, fast Andächtiges hatte. Die Menschen aus der kleinen englischen Hafenstadt bildeten einen dichten Kreis – Frauen und Kinder, aber auch ältere Männer, die die arbeitsreiche Zeit ihres Lebens schon hinter sich hatten.

Die Mittagsstunde war eben verstrichen, und es gab niemanden in Saint Mary, den es noch im Essensdunst der eigenen vier Wände hielt. Lautstark genug hatten sie es durch die Gassen geschrien, diese fremdländisch aussehenden Gestalten. Und das Geheimnisvolle an der ganzen Sache hatte der dumpfe Trommelwirbel unterstrichen, der die Stimmen mit ihrem harten, rollenden Akzent begleitete. Alle wollten ihn sehen, diesen großen Mann, der sich so großartig ankündigen ließ und wundersame Dinge versprach.

Der Marktplatz befand sich unmittelbar am Kai von Saint Mary. Dort, wo die bunten Fassaden der winkligen Giebelhäuser dem Mastenwald der Fischkutter und Frachtsegler gegenüberstanden, schwebte jener Geruch, der sich niemals fortwischen ließ. Seefisch, der frühmorgens von den Kutterfischern angelandet wurde, blieb dank seines penetranten Geruchs auch dann noch gegenwärtig, wenn er längst landeinwärts verkauft worden war. Dazu mischte sich der Duft exotischer Gewürze aus den Schiffsladeräumen und den Hafenspeichern – alles angereichert durch den salzigen Hauch von Meerwasser und Tang, den ein steter Wind herübertrug.

Großväter hatten ihre Enkelkinder auf die Schultern genommen, und die hellen, aufgeregten Stimmen der Kleinen in luftiger Höhe übertönten das Murmeln der Erwachsenen. Auch im Hafen war Ruhe eingekehrt. Die Fischer hatten ihre Arbeit unterbrochen, auf der kleinen Werft am Ende des Kais waren Hammerschläge und Sägegeräusche verstummt.

Alle wollten ihn erleben, den großen Doktor Sardou.

Doch niemand hatte ihn zuvor gesehen. Jene wenigen, die lesen konnten, hatten seinen Namen auf den buntbestickten Tüchern entziffert, die nun an gespannten Leinen rings um den Schauplatz des bevorstehenden großen Auftritts hingen. Die vielen anderen hatten den Namen von den Werbetrommlern gehört, die während der Morgenstunden unermüdlich durch die Gassen marschiert waren.

Das Areal der Gaukler war nicht größer als dreißig Yards im Quadrat. Immer wieder schien es, als würden die Absperrungsleinen, die an bunten Holzständern hingen, dem Andrang der Menschenmenge nicht standhalten. Doch das Rätselhafte bestimmte die Szenerie, und es hielt die Menschen zurück.

Die Spannung wuchs. Was mochte sich hinter den rot-goldenen Streifen des kleinen Zelts verbergen, das in der Mitte des eingegrenzten Areals aufgebaut war? Es war ein rundes Zelt, an dessen mannshoher Mastspitze ein farbenprächtiger Wimpel flatterte. Vor dem Zelt war ein hölzernes Podest aufgebaut, etwa zwei Fuß hoch. Die gähnende Leere auf diesem Podest trug erheblich zum großen Rätselraten bei.

Plötzlich brach das Stimmengewirr fast auf einen Schlag ab. Die jähe Stille war von Atemlosigkeit beherrscht.

Der Zelteingang teilte sich. Ein Mann trat heraus.

Sein Äußeres hatte indessen nichts Atemberaubendes. Er war klein und von gedrungener Statur. Strähniges schwarzes Haar hing ihm bis auf die Schultern. Ein dünner Oberlippenbart war das einzig Prägnante in seinem schmalen Gesicht. Er schleppte eine Trommel, die auf einem hölzernen Dreibein ruhte, und er stellte sie rechts neben den Zelteingang. Dann verschwand er wieder im Zelt. Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Menge. Im nächsten Moment wurde es jedoch erneut still, denn der kleine Mann tauchte abermals auf. Seine roten Pluderhosen flatterten im Wind, als er ein schwarzes Kohlebekken auf stählernem Gestell in die Mitte des Podestes trug.

Wieder verschwand der fremdländisch aussehende Mann, und als er zurückkehrte, waren seine Bewegungen hastig. Eile schien geboten, der große Auftritt schien unmittelbar bevorzustehen. Das wurde dem in Ehrfurcht erstarrten Publikum jetzt unmißverständlich klar. Der kleine Mann hielt eine glimmende Lunte über den dunklen Inhalt des Kohlebeckens.

Eine puffende Flamme stieg auf. Die Glut loderte sofort rötlich hell.

Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Welche unbekannte Substanz mochte es sein, die ein sofort aufflammendes Feuer ermöglichte?

Doch jetzt gab es keine Zeit zum Nachdenken mehr, denn das Geschehen spielte sich Schlag auf Schlag ab.

Der kleine Mann trat hinter die Trommel, nahm die Stöcke und ließ einen dumpfen, anhaltenden Wirbel ertönen.

„Ladys und Gentlemen, Bürger von Saint Mary!“ rief er mit schrill tönender Stimme. Seine Aussprache des Englischen hatte einen schaurigen Akzent. „Sehen und erleben Sie Günal, den Furchtlosen, den Mann, der das Feuer nicht scheut!“

Er unterbrach den Trommelwirbel für die Dauer eines Atemzugs. Die jähe Stille steigerte die Wirkung seiner Worte. Dann ließ er die Trommelstöcke von neuem wirbeln, und die Menschen starrten stumm, mit weiten Augen und offenen Mündern, in die lodernden Flammen.

Abermals teilte sich der Zeltvorhang. Der Trommelwirbel hielt an.

Es war ein untersetzter Bursche, der ins Freie trat. Seinen Kopf bedeckten kurze schwarze Haare, die das Kantige seiner Schädelform noch unterstrichen. Besonders imposant erschien den Menschen von Saint Mary jedoch die Tatsache, daß dieser Mann nur spärlich bekleidet auftrat. Eine kurze Hose aus rotschillerndem Seidenstoff war das einzige, was er auf dem muskulösen Leib trug. Daß es mit dieser geringen Bekleidung seine besondere Bewandtnis hatte, sollten die Zuschauer wenig später erfahren.

„Sehen Sie Günal, den Furchtlosen!“ schrie der Trommler wieder.

Der Untersetzte verneigte sich kurz. Seine Miene war ausdruckslos. Fast schien es, als empfinde er Verachtung für die Gaffer. In seiner Linken hielt er ein Bündel von Eisendrahtstangen, die an den Enden verdickt waren, mit Stoff umwickelt. Mit diesen Enden legte er die Stangen in die Glut des Kohlebekkens. Und er verschwendete keine Zeit mehr.

Er kniete nieder, nahm eine der Miniaturfackeln und beschrieb mit ihr einen feurigen Kreis durch die Luft. Der Kreis endete unmittelbar über seinem linken Oberschenkel.

Ein Aufschrei ertönte aus den Reihen der Zuschauer.

Günal, der Furchtlose, strich mit dem brennenden Ende des Stabes über seine bloße Haut! Und er verzog keine Miene dabei, ja, er lächelte sogar.

Er ließ die Leute nicht mehr aus dem Staunen herauskommen. Nachdem sie sich mit dem Schock des Unbegreiflichen abgefunden hatten, mit der unbegreiflichen Tatsache, daß ein Mann sich Feuer über die nackte Haut streichen konnte und dabei noch lächelte, ja, nachdem diese gedankliche Grundlage geschaffen war, steigerte der Gaukler die Faszination der Menschen Schlag auf Schlag.

Während er sich wieder aufrichtete, ergriff er eine zweite Fackel und ließ die beiden glühenden Punkte rasend schnell über seinem Kopf kreisen. Dann, aus der Bewegung heraus, ließ er die beiden Stäbe langsam herabsinken und strich damit links und rechts über seine Brust. Erst unmittelbar über dem Hosenbund riß er die Flammen empor, reckte beide Arme weit auseinander und fuhr sich im nächsten Moment mit der feurigen Lohe über den Rücken – wie jemand, der sich mit einer, langstieligen Bürste schrubbt.

Der furchtlose Günal gab seinem Publikum keine Zeit zum Atemholen mehr. Er streckte die beiden brennenden Stäbe in das Kohlebecken zurück und nahm im nächsten Moment gleich sechs auf einmal heraus, wobei er je drei davon fächerartig in einer Hand hielt. Mit diesen lodernden Fächern strich Günal über seine Brust, seinen Rücken, seine Beine. Bis auf sein Kopfhaar gab es kaum eine Stelle seines Körpers, die von der Glut der kleinen Fackeln nicht erreicht wurde.

Ebenso plötzlich, wie der Furchtlose seine Schau begonnen hatte, brach er sie wieder ab. Er warf die brennenden Stäbe in das Kohlebecken, drehte sich um und verschwand im Laufschritt im Zelt.

Die atemlose Stille blieb. Der kleine Mann mit dem strähnigen Haar ließ seinen Trommelwirbel versiegen.

Unvermittelt erschien Günal, der das Feuer nicht fürchtete, wieder auf dem Podest. Er verschränkte die Arme vor dem Brustkasten, setzte eine herablassende Miene auf und verneigte sich ruckartig in alle vier Himmelsrichtungen. Donnernder Applaus brandete auf. Schreie der Begeisterung gellten aus den Reihen der Zuschauer. Vor allem die Kinder waren es, die ihrem Staunen lauthals Luft machten.

Während Günal sich ins Zelt zurückzog, legte der kleine Mann seine Trommelstöcke weg und nahm die brennenden Stäbe aus dem Kohlebecken. Er tauchte sie in einen Eimer mit Wasser, der an der Seitenwand des Zeltes bereitstand.

 

Die Prozedur wiederholte sich, beginnend mit dem dumpfen Trommelwirbel. Diesmal war es „Mehmed, das Wunder des Orients“, den der Helfer der Gauklertruppe stimmgewaltig ankündigte.

Mehmed brachte seine eigenen Drahtstäbe mit, deren verdickte Enden er in die Glut des Kohlebeckens tauchte. Das „Wunder des Orients“ stach den „Furchtlosen“ durch seinen imposanten Körperbau mühelos aus. Mehmed war ein riesenhafter Kerl – breitschultrig und mit mächtigen Muskelsträngen, die unter ölig glänzender Haut spielten. Sein Kahlkopf glänzte ebenfalls ölig. Zusammen mit dem sichelförmigen Schnauzbart war es das, was ihm ein so martialisches Aussehen verlieh.

Keiner der Zuschauer wußte jedoch, daß Mehmeds Glatze unecht war und er seinen Schädel mit voller Absicht kahlgeschoren hatte. Denn erst dadurch hatte er sich jenes fremdländische Aussehen verliehen, das die Leute so beeindruckte. Mehmed trug türkisgrüne Pluderhosen und wadenhohe Stiefel, die mit einem samtartigen grauen Stoff bezogen waren. Sein Oberkörper war unbekleidet wie bei seinem Vorgänger Günal.

Das „Wunder des Orients“ war ein Feuerschlucker. Obwohl den Leuten von Saint Mary diese Variante der Artistik vertrauter war als das, was der „Furchtlose“ gerade vorgeführt hatte, beeindruckte es sie doch, wie der riesenhafte Mehmed eine Fackel nach der anderen in seinen Rachen schob und danach feurige Lohen ausspie, die mehr als ein Yard weit reichten.

Nachdem Mehmed seine Schau beendet und gleichfalls tosenden Applaus eingeheimst hatte, begannen die Vorbereitungen besonderer Art. Diesmal fungierte der furchtlose Günal gleichfalls als Helfer, denn allein konnte der kleine Mann mit dem strähnigen Haar die Schlepperei nicht bewältigen.

Sie trugen eine Liege auf das Podest, ein mit Segeltuch bespanntes Holzgestell, dann ein Wasserbecken, das auf einem eisernen Dreibein ruhte, und außerdem einen Tisch mit gestapelten weißen Tüchern, einen Stuhl und einen weiteren Tisch, auf dem geheimnisvolle Gegenstände unter einem Laken verborgen waren.

Nun gab es für niemanden mehr Zweifel, daß der große Augenblick bevorstand.

Der kleine Mann mit dem Strähnenhaar kehrte hinter seine Trommel zurück und ließ die Stöcke wirbeln. Der dumpfe Hall blieb gedämpft, mehr Hintergrund.

Günal trat an den vorderen Rand des Podestes und hob die Arme gebieterisch, als wolle er sich Gehör verschaffen. Überflüssig, denn aller Augen waren wie gebannt auf seine Lippen gerichtet. Das Englisch des Furchtlosen war noch schauderhafter als das seines kurzgeratenen Kollegen.

„Ladys und Gentlemen! Bürger von Saint Mary! Sehen und erleben Sie jetzt unseren hochverehrten Meister, den großen Doktor Sardou!“

Die letzten Worte schrie er hinaus, daß es den Leuten einen Schauer über den Rücken trieb.

2.

Philip Junior zupfte aufgeregt in der schwarzen Haarpracht seines Vaters. Mit der anderen Hand tätschelte er die Wange des Seewolfs, der seinen Sohn auf den Schultern trug – die einzig praktikable Methode, Kindern die Fortbewegung zu ermöglichen. Der Jahrmarkt in Saint Mary mußte alles mobilisiert haben, was Beine hatte. Aus der Stadt selbst, aus dem Hafen und aus der ländlichen Umgebung waren die Leute erschienen, um den großen Rummel mitzuerleben.

„Da drüben, Dad!“ rief Philip Junior. „Da gibt es was zu sehen!“

„Oh, diese Nervensägen“, stöhnte Big Old Shane, der den zweiten Seewolf-Sprößling auf den Schultern spazierenführte. „Als ob wir noch nicht genug gesehen hätten!“

Hasard Junior erspähte nun gleichfalls das, was sein Zwillingsbruder erkannt hatte. Begeistert richtete er sich auf – etwa so, wie sich ein Reiter in den Steigbügeln seines Pferdes erhoben hätte. Der Kopf des riesenhaften Schmieds von Arwenack diente dabei als eine Art Sattelknauf.

„Ein Zauberer!“ schrie Hasard Junior. „Das ist bestimmt ein Zauberer! Bitte, Dad, laß uns hingehen.“

Big Old Shane verzog das Gesicht. Seine Stimme zählte mal wieder nichts. Es war zum Auswachsen mit diesen beiden Satansbraten. Sie suchten ihren Vorteil immer da, wo sie ihn am leichtesten kriegen konnten.

Philip Hasard Killigrew, an dem nun wieder die Ausübung aller Autorität hängenblieb, mußte lächeln. Dennoch bewegten ihn gemischte Gefühle. Bei dem Stichwort „Zauberer“ stiegen unselige Erinnerungen an die Geschehnisse in Tanger in ihm auf. Aber das mußte man nicht immer wieder aufwärmen, auch in den eigenen Gedanken nicht. Andererseits erfüllte es ihn mit Stolz, zu hören, welches Interesse seine Söhne an der Umwelt zeigten und wie gut sie mittlerweile die englische Sprache beherrschten. Ja, sie hatten mächtige Fortschritte erzielt, seit sie von ihrem Vater und der „Isabella“-Crew wie durch ein Wunder in Tanger entdeckt worden waren. Fortschritte, die nicht nur die Sprache betrafen. Auch in ihrer persönlichen Entwicklung hatten die beiden Söhne des Seewolfs einen Riesenschritt nach vorn getan.

Mit ihren über sieben Lebensjahren waren sie prachtvolle Burschen, auf die mittlerweile die gesamte „Isabella“-Crew stolz war. Allen voran der Kapitän der Galeone, der an seinen Sprößlingen viele Eigenschaften wiederentdeckt hatte, die ihn selbst auszeichneten. Äußerlich glichen sich die Zwillinge wie ein Ei dem anderen. Beide waren schlank und schwarzhaarig, hatten ernste und scharfgeschnittene Gesichter wie ihr Vater. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Das hatten sie auf der „Isabella VIII.“ inzwischen mehr als einmal unter Beweis gestellt.

Lange Wochen auf See lagen hinter ihnen. Seinen Männern hatte der Seewolf ein wenig Abwechslung versprochen, wie sie sich hier in Saint Mary in geradezu verschwenderischer Vielfalt anbot. Er genoß in allen Entscheidungen den uneingeschränkten Respekt seiner Crew – vielleicht gerade deshalb, weil er ihnen das Recht einräumte, bei solchen Entscheidungen auch die eigene Meinung zu äußern.

Schon äußerlich war Philip Hasard Killigrew ein Mann, der Respekt einzuflößen vermochte. Mit mehr als sechs Fuß Körpergröße, breiten Schultern und schmalen Hüften war er eine imposante Erscheinung. Seine klaren blauen Augen spiegelten die unbeugsame Härte, die er an den Tag zu legen vermochte, aber auch die unendliche Güte und den Humor, der seine Wesenszüge prägte.

Nun, wenn er der Crew eine Portion Vergnügen versprochen hatte, dann konnte er seine Söhne nicht davon ausnehmen. Mehr als allen anderen mußte es ihnen ungewohnt gewesen sein, die vielen Tage und Wochen auf den Schiffsplanken zu verbringen.

„In Ordnung“, sagte Hasard, „sehen wir uns an, was der Zauberer zu zaubern hat.“

Die Zwillinge brachen in frenetisches Freudengeschrei aus.

Big Old Shane hob seine Hände über den Kopf, um sich vor den trommelnden kleinen Fäusten von Hasard Junior zu schützen. Der Schmied von Arwenack schickte einen flehentlichen Blick zum Himmel, und diese Gefühlsäußerung stand in krassem Gegensatz zu seinem furchteinflößenden Äußeren. Shane war ein riesenhafter Mann mit mächtigen Fäusten, einem wilden grauen Bart und grauen Haaren. Normalerweise löste er seine Probleme mit eben jenen Fäusten. Aber das war bei den Zwillingen nicht möglich. Sie hatten ihn eingewickelt, wie Kinder einen Erwachsenen nur einwickeln können.

„Einen halben Tag lang schlurfen wir jetzt durch dieses lausige Nest“, stöhnte Big Old Shane „meine Füße haben langsam eine Ruhepause verdient. Schließlich ist man nicht mehr der Jüngste.“

Hasard musterte ihn mit einem erstaunten Seitenblick.

„Ausgerechnet du? Du wärest der erste Fall von Fußkrankheit, den ich an Bord der „Isabella“ erlebe.“

Shane zog es vor, zu schweigen. Er überhörte nicht den spöttischen Unterton in der Stimme des Seewolfs, und er wußte, daß die beiden kleinen Rabauken mal wieder gewonnen hatten. Ein Trost nur, daß sie ihren Vater genauso um den Finger wikkelten wie alle anderen.

Philip Junior und Hasard Junior waren über den Köpfen der beiden Männer längst in angeregte Gespräche darüber vertieft, was dort auf dem Marktplatz wohl vor sich gehen mochte. Die Menschenmenge bedeutete eine Sensation. Und das Zelt und das Podest mit den abenteuerlich wirkenden Männern sahen ganz danach aus, daß dort wirklich ein Zauberer seine Schau inszenierte – oder wenigstens so etwas Ähnliches wie ein Zauberer.

Noch immer strömten neue Schaulustige in Richtung Marktplatz. Links und rechts drängten sich die Menschen an dem Seewolf und seinem riesenhaften Old Shane vorbei, der als Schmied und Waffenmeister auf der Feste Arwenack gearbeitet hatte, als Hasard selbst noch ein kleiner Junge gewesen war.

„Dann mal los“, sagte der Seewolf durch das nicht enden wollende Geschnatter seiner Sprößlinge. Big Old Shane folgte seiner Aufforderung mit Leidensmiene. Allerdings hatten sie keine besondere Mühe, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Sie überragten die meisten Leute um Haupteslänge, und allein ihr Erscheinungsbild genügte für die meisten, um bereitwillig beiseitezuweichen.

Philip Junior und Hasard Junior genossen einen höheren Ausguckplatz als die meisten ihrer Altersgenossen. Aber die beiden Männer von der „Isabella VIII.“ beanspruchten keinen Vorzugsplatz in der Nähe der kleinen Bühne. Als sie auf knappe Steinwurfweite heran waren, verharrten sie inmitten der Menschenansammlung. Die Augen der Zwillinge waren gut genug, um das Geschehen von hier aus zu verfolgen.

Es war stiller geworden, und auch die beiden Jungen sagten nichts mehr. Hasard konnte sich halbwegs vorstellen, was in ihnen jetzt vorging. Das da vorn war ein Stück von ihrer Welt, in der sie eine Zeitlang gelebt hatten – wie lange, das wußte Hasard nicht.

Der schwarzhaarige Bursche in der kurzen Hose stand noch am vorderen Rand des Podests und wiederholte seine Ankündigung mit bebender Donnerstimme.

„Ladys und Gentlemen! Der große Doktor Sardou zeigt sich Ihnen jetzt! Empfangen Sie ihn mit Andacht und Respekt, denn das, was Sie jetzt sehen werden, kann Ihr ganzes Leben verändern. Vielleicht sind Sie schon morgen ein neuer Mensch! Doktor Sardou hat die Kraft, Ihnen zu helfen – wenn Sie Hilfe brauchen!“

Ein Trommelwirbel dröhnte. Der furchtlose Günal trat zurück und verschwand im Zelt.

Wieder wurde der Zeltvorhang geöffnet. Mehmed, der muskelbepackte Feuerschlucker blieb neben dem Eingang stehen. Mit einer halben Verbeugung hielt er den Leinenvorhang geöffnet. Der kleine Mann an der Trommel ließ die wirbelnden Stöcke sinken und verneigte sich ebenfalls zum Zelteingang hin.

Der Mann, der nun erschien, konnte niemand anderes als der große Doktor Sardou sein. Lange genug und geheimnisvoll genug war sein Auftritt vorbereitet worden.

Mit gemessenen Schritten trat er ins Freie, bewegte sich würdevoll und langsam und blieb in der Mitte des Podestes stehen. Dort ließ er seinen Blick wohlgefällig über die Zuschauermenge gleiten.

Der Mann, der sich Doktor Sardou nannte, war mittelgroß und schlank, beinahe drahtig. Er trug schwarze Bundhosen, schwarze Strümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Sein elegantes hellgraues Wams wurde durch einen handtellerbreiten schwarzen Ledergurt über der Hüfte zusammengehalten. Ungewöhnlich war seine Kopfbedeckung, ein weißer Turban mit einem türkisfarbenen funklenden Edelstein über der Stirn. Das schmale, scharfgeschnittene Gesicht Sardous war braungebrannt, ein schwarzer Schnauzbart bestimmte den ersten Eindruck.

Doktor Sardou wartete wie ein Priester, der die Stille genießt, bevor er zu seinem Sermon ansetzt. Dann begann er zu reden, wobei er jeden Satz gestenreich untermalte. Seine Hände waren schlank und gepflegt, ein Mann, der kaum jemals körperlich gearbeitet haben konnte.

„Liebe Freunde! Ich bin glücklich, so viele von euch versammelt zu sehen. Was ihr bis eben erlebt habt, diente zu eurer Belustigung und sollte euch von den Beschwernissen des Alltags ablenken. Ich kann nur hoffen, daß meinen treuen Helfern dies gelungen ist.“ Er legte eine Pause ein und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf den „Furchtlosen“ und das „Wunder des Orients“, als die Leute den erwarteten Beifall spendeten.

Dann fuhr Doktor Sardou fort: „Ich sehe, unsere bisherige Mühe war nicht, umsonst. Nun aber wollen wir uns ernsteren Dingen zuwenden. Viele von uns tragen eine schwere Last. Viele von uns plagen sich mit Gebrechen, für die es bislang keine Heilung gab. Das, liebe Freunde“, er steigerte seine Stimme zu markigem Klang, „muß nicht länger sein. Ich bin zu euch gekommen, weil mich die Erleuchtung dazu bestimmt hat. Jeder weiß, daß es zwischen Himmel und Erde unbekannte Mächte gibt, von denen unser schwacher menschlicher Geist nicht die geringste Vorstellung hat. Eine solche unbekannte Macht war es, die mich auserwählte und an einen fernen, geheimen Ort in der Wüste führte – dorthin, wo ich das entdeckte, was fortan unzähligen Menschen erlösende Hilfe bringen sollte. Es gibt nur einen einzigen Nachteil: Ich kann nicht überall auf dieser Welt sein. Deshalb muß ich von Ort zu Ort ziehen und einen mühevollen Weg auf mich nehmen, um jenen Auftrag zu erfüllen, für den mich die Vorsehung bestimmt hat.“

 

Wieder hielt der geheimnisvolle Mann mit dem Turban inne, und diesmal war die Stille absolut. Das Fallen einer Stecknadel wäre als lautes Klirren zu hören gewesen.

Auch die beiden Söhne des Seewolfs waren mucksmäuschenstill. Und Hasard und Old Big Shane bemühten sich, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Sie nutzten die Gelegenheit, um sich in der Menge umzuschauen. Aber von den übrigen Männern der „Isabella“-Crew war keiner zu sehen. Die, die nicht zum Wachdienst an Bord eingeteilt waren, vergnügten sich wahrscheinlich in den Hafenschenken der kleinen Stadt.

Vorn, auf dem Podest, setzte Doktor Sardou seine salbungsvolle Rede fort.

„Nun, liebe Freunde, will ich beginnen. Ich will euch beweisen, welche unbegreifliche Kraft mir verliehen wurde. Sicher ist jemand unter euch, der von Schmerzen geplagt wird, den ein unheilbares Leiden quält. Er möge zu mir kommen, und ich werde ihn davon befreien – so wie es mir aufgetragen wurde. Ich selbst bin nur ein Mittler zwischen den geheimem Mächten des Unbegreiflichen. Nicht meine erbärmliche Person ist es, die irgendwelche Resultate bewirkt. Nein, es ist die Kraft, die aus der unermeßlichen Weite elementarer Gewalten herrührt. Erlebt es selbst, zu was diese Kraft imstande ist! Ich bitte jemanden zu mir, der seit langem vergeblich auf Erlösung von seinen Qualen hofft. Bitte zögert nicht, liebe Freunde! Ergreift die Gelegenheit! Lebt nicht länger in vergeblicher Hoffnung!“

„Allmählich geht mir das Gefasel von dem Kerl auf den Nerv“, murmelte Big Old Shane, „müssen wir uns das noch länger anhören?“

„Noch hat er nicht gezaubert“, entgegnete Hasard grinsend. „und das haben wir den beiden schließlich versprochen.“ Er deutete mit dem Daumen nach oben.

Von den Zwillingen war nichts zu hören, sie waren in andächtige Stille versunken.

Zornige Zischlaute ertönten in der Umgebung der beiden Männer. Sie hatten die Ruhe gestört und wechselten einen Blick in gespielter Betroffenheit.

Natürlich waren die Leute schüchtern wie überall auf jedem Rummelplatz der Welt, wenn jemand aufgefordert wurde, aus der Anonymität der Masse vor aller Augen aufzutreten.

Aber Doktor Sardou brauchte sein gütiges Hilfsangebot nicht zu wiederholen. Unvermittelt entstand Bewegung in der Menge, nur wenige Schritte von Hasard und Big Old Shane entfernt.

„Hier, hier!“ rief eine Stimme, die so brüchig wie raschelndes Herbstlaub klang.

Alle Augen ruckten in die gleiche Richtung, und alle sahen, wie die Menschen bereitwillig eine Gasse bildeten, um den Menschen, zu dem diese klägliche Stimme gehörte, durchzulassen.

Der Alte war zerlumpt gekleidet und humpelte vornübergebeugt an einem Stock. Die linke Hand hielt er flach auf die Nierengegend gepreßt. Sein graues, fast weißes Haar hing bis auf die Schultern.

Der „Furchtlose“ und das „Wunder des Orients“ sprangen vom Podest und halfen dem Klapprigen auf die Bretter, die seine Heilung bedeuten sollten. Doktor Sardou empfing ihn mit ausgebreiteten Armen und gütiger Miene.

„Oh, mein Freund! Ich lese das Elend eines langen Leidensweges in deinen gepeinigten Gesichtszügen. Sag mir deine Beschwerden, und ich werde meine ganze Kraft einsetzen, um dich davon zu befreien.

„Der Schmerz sitzt hier“, krächzte der Alte und klopfte ein paarmal auf seine linke Nierengegend. „Und dann ist da ein Ziehen und Stechen in meinen Beinen. Manchmal so schlimm, daß ich mich morgens nicht aus dem Bett erheben kann.“

Doktor Sardou nickte verständnisvoll.

„Du bist ein Einwohner von Saint Mary, mein Freund?“

„Ja, Sir“, rasselte die Stimme des Gebrechlichen.

Aus den Zuschauerreihen klang zustimmendes Gemurmel.

„Wahrscheinlich so ein arbeitsscheuer Strolch, den sie irgendwo aufgegabelt haben“, brummte Big Old Shane. „der Kerl sieht älter aus, als er ist. Ich wette, das ist eins von diesen versoffenen Subjekten, die überall in den Kneipen herumlungern. Und dieser Quacksalber hat ihm ’ne Flasche Absinth versprochen, wenn er seine Rolle ordentlich spielt.“

„Etwas mehr Respekt vor dem großen Meister“, mahnte Hasard. „Du wirst sehen, die Leute rennen anschließend in Scharen zu ihm und lassen ihre Wehwehchen kurieren.“

„Daß die immer auf so was reinfallen!“ Shane schüttelte verständnislos den Kopf.

Es wurde wieder still.

Doktor Sardou gab seinen Helfern Anweisung in einer geheimnisvollen Sprache, die niemand verstand. Niemand, außer …

Philip Junior zupfte plötzlich aufgeregt im Haarschopf seines Vaters. Und Hasard Junior benutzte Big Old Shanes Schädel abermals als Sattelknauf, als könne er dadurch besser hören, daß er sich gespannt aufrichtete.

„Was ist jetzt schon wieder los?“ flüsterte der Seewolf.

„Dad, hör doch!“ sagte Philip Junior leise. „Die Männer sprechen unsere Sprache!“

„Auch das noch!“ stöhnte Shane. „Ich hab so eine Ahnung, daß wir von den Halsabschneidern gar nicht mehr loskommen.“

Wie zur Bestätigung wisperte Hasard Junior etwas auf Türkisch, das weder der Schmied von Arwenack noch sein Kapitän verstanden.

„Ruhe jetzt!“ fauchte Philip Junior seinen Bruder auf Englisch an. „Es geht los, du Stint!“

Hasard holte tief Luft, sagte dann aber doch nichts. Mit den zunehmenden Englischkenntnissen seiner Söhne wuchs leider auch jener Wortschatz, den man nur auf einem Schiff wie der „Isabella VIII.“ erlernen konnte.

Auf dem Podest der Gaukler hatten Mehmed und Günal das Tuch gelüftet, das einen der Tische bedeckte. Eine Batterie von kleinen braunen Flaschen war sichtbar geworden. Mit über der Brust verschränkten Armen blieb Günal stehen, als gelte es, einen kostbaren Schatz zu bewachen. Der Kleine mit dem Strähnenhaar rührte fleißig die Trommel, gedämpfter jetzt. Mehmed entkorkte eine der Flaschen und trug sie auf einem Silbertablett zu seinem Chef.

Der Gebrechliche stand gekrümmt vor Doktor Sardou und stierte mit stumpfen Augen auf die Flasche, die der Wunderheiler in seine gepflegten Hände nahm und hochhielt.

„Seht her, Bürger von Saint Mary! Erlebt die unglaubliche Wirkung dieser Essenz! Es war mir vergönnt, sie an jenem geheimnisvollen Ort in der Wüste zu entdecken. Kein Mensch außer mir kennt diesen Ort mit seiner Quelle, die aus den Tiefen der Erde strömt und mit ihren elementaren Kräften die Zusammensetzung der Essenz bewirkt. Aber genug der Worte. Seht selbst, welche ungeheuren, heilenden Kräfte in der unendlichen Tiefe des Erdinneren schlummern.“

Die Menschen standen mit offenen Mündern und geweiteten Augen da, als Doktor Sardou den grauhaarigen Alten zu sich heranwinkte und ihm einen Schluck von der angeblich geheimnisvollen Essenz einflößte. Jeder sah, wie sich der Adamsapfel des alten Mannes ruckend bewegte.

Und jeder sah, wie plötzlich ein Zittern durch den mageren Körper lief. Eine unsichtbare Kraft schien den Alten aufzurichten. Seine gekrümmte Haltung fiel von ihm ab wie eine einstudierte Pose. Und plötzlich schleuderte er den Krückstock von sich, warf die Arme hoch und hüpfte im Kreis, wobei er mit sich überschlagender Stimme kreischte.

„Es ist wahr! Es ist wahr! Keine Schmerzen mehr! Keine Schmerzen! Ich fühle mich so jung wie … o Gott, es ist ein Wunder!“ Unvermittelt hielt er inne, starrte den „großen Doktor Sardou“ an und fiel vor ihm auf die Knie. Er griff nach dem Arm des Gauklers und drückte die welken Lippen auf dessen Handrücken.

„Nicht doch, nicht doch!“ wehrte Sardou scheinbar verlegen ab. „Nicht mir mußt du danken, mein Freund! Danke den Naturkräften, die ein Einsehen gehabt haben und dich zur Heilung auserkoren. Ich bin nichts weiter als der Mittler dieser unbekannten Gewalten. Geh nun und erfreue dich deines neuen Lebens!“

Der Bann war gebrochen. Die Stille wurde von einem vielstimmigen Freudenschrei zerrissen. Die Leute johlten, pfiffen und trampelten. Ihr Beifall steigerte sich ins Unermeßliche. Der eben noch gebrechliche alte Mann sprang mit einem federnden Satz von dem Podest und tauchte in der Menge unter. Hände streckten sich nach ihm aus und betasteten ihn, als wollten sie das „Wunder“ dadurch besser begreifen. Kurz darauf war der alte Mann nicht mehr zu sehen.

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